Symbolbild: Mehrere Leitern und eine Zielscheibe
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Ausrichtung von Hochschulen
Erfolgreich ohne klare Ziele

Eine allzu exakte Zielsetzung begrenzt den Spielraum für Veränderungen, Kreativität und Innovation. Das gilt besonders für Hochschulen.

Von Stefan Kühl 30.12.2022

Die Auffassung, dass jeder Veränderungsprozess durch eine genaue und möglichst präzise Zielbestimmung eingeleitet werden soll, ist weit verbreitet. An Universitäten wird zunehmend die Anforderung gestellt, Forschungs- und Lehrprofile zu entwickeln und die Zielvorstellungen in konkrete Veränderungsprozesse herunterzubrechen. Eine genaue Zielbestimmung soll – so die Hoffnung – dafür sorgen, dass selbst in Universitäten mit ihren sehr komplexen Interessenlagen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf gemeinsam geteilte Ziele ausgerichtet werden können.

Wenn eine Organisation mit viel Mühe ihre Ziele definiert hat, dann werden diese in der Regel mit schwerem Geschütz verkündet: Aufbauend auf aufwändig erstellten Kommunikationskonzepten werden die Ziele und Schritte auf eigenen Webseiten dargestellt. Ziele des Wandels werden in Versform gegossen oder anhand eingängiger Abkürzungen, etwa "Mission Lehre der Zukunft", "Exzellenz in der Wissenschaft" oder "Super Innovation", illustriert. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden – wenn sie denn mitmachen – in Konferenzen zusammengeholt, um ein Gemeinschaftsgefühl für den Veränderungsprozess herzustellen.

Gründe für konkrete Ziele an Hochschulen

Dabei scheint es gute Gründe dafür zu geben, Ziele des Wandels so konkret wie möglich zu definieren. Wenn Zielbestimmungen aus allzu offensichtlichen Plattitüden bestehen, lässt das gerade das wissenschaftliche Personal kalt. Ein gewisses Maß an Managementprosa à la "Die unternehmerische Hochschule", "Die nachhaltige Fachhochschule" oder "Die exzellente Universität" mag auch in Organisationen mit einem überdurchschnittlich kritischen Personal verkraftbar sein. Beschränkt sich die propagierte Zielsetzung jedoch auf solche Allgemeinplätze, dann verpufft die Wirkung der mühsam erarbeiteten Zielsetzungen weitgehend in den Fluren der Institutsgebäude. Kurz: Zielbestimmungen wirken nur dann handlungsmotivierend, wenn die Ziele präzise vorgegeben, die Mittel zur Zielerreichung spezifiziert und einhaltbare Prinzipien definiert werden.

"Genaue Zielbestimmungen reduzieren die Notwendigkeit, vor jeder Handlung wieder grundlegend neue Entscheidungen treffen zu müssen."

Auf den ersten Blick scheint also auch an Universitäten und Fachhochschulen viel für eine präzise Bestimmung von Zielen zu sprechen. Je genauer die Zielbestimmung beschreibt, was durch den Wandlungsprozess erreicht werden soll, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den nahegelegten Weg nachvollziehen können. Genaue Zielbestimmungen reduzieren die Notwendigkeit, vor jeder Handlung wieder grundlegend neue Entscheidungen treffen zu müssen. Der Vorteil für die Universitätsleitung ist, dass der Handlungsrahmen durch genaue Zielbestimmungen für die Mitarbeitenden eindeutig definiert wird und so Klarheit für das weitere Vorgehen besteht. Dies erleichtert die Koordination zwischen den verschiedenen Mitarbeitenden. Die Aktivitäten in der Universität werden insofern "orchestriert", als durch die Zielbestimmungen Argumentationen verkürzt werden können.

Präzise Ziele begrenzen den Spielraum für Veränderungen

Aus der Perspektive der Verfechter von Zielbestimmungen bringt diese Vorgehensweise aber leider ein grundlegendes Problem mit sich. Die Schwierigkeit besteht darin, dass präzise Zielbestimmungen den Spielraum für Veränderungen begrenzen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können nur für das, was in die eng definierte Zielsetzung passt, motiviert und begeistert werden. Zielbestimmungen reduzieren den Denk­raum und die Handlungsvielfalt von Mitarbeitenden. Überspitzt ausgedrückt: Genaue Zielbestimmungen können dumm machen. Sie begrenzen Kreativität und Innovation, weil sie nicht in dem Zielraum der Organisation liegen. Denn nur diejenigen, die im Sinne des durch Zielbestimmung vorgegebenen Sinns handeln, fügen sich in die Forschungsprofile und Excellence Cluster ein und können davon ausgehen, dass sie Aufmerksamkeit, Zustimmung und Applaus finden.

In bestimmten Situationen mag der durch eine genaue Zielvorstellung definierte Rahmen für Veränderung ausreichen. Wenn von vornherein feststeht, dass eine Entscheidung im Rahmen einer bestimmten Zielsetzung gefällt werden kann, dann ist es für Universitäten oder Fachhochschulen sinnvoll, genau diese Zielsetzung möglichst stark zu machen und ihre Ressourcen dort zu konzentrieren. Nicht nur Universitäten und Fachhochschulen stehen jedoch, wenn man den Beobachtern glauben mag, immer mehr vor der Herausforderung, mit schnellem und radikalem Wandel auf wechselnde Umweltbedingungen zu reagieren. Eine enge Zielsetzung schränkt die Möglichkeiten, mit denen auf die sich rasch ändernden Umweltbedingungen reagiert werden kann, so stark ein, dass viele gangbare Lösungen gar nicht erst in Erwägung gezogen werden.

Wie durch ein Brennglas kann man dieses Problem bei Organisationen sehen, die ihre Identifizierung mit einer bestimmten Zielsetzung sogar in ihrem Namen festschreiben. Eine Beratungsfirma, die nach innen und nach außen Zielklarheit dadurch symbolisieren will, dass sie sich durch ihren Firmennamen als "Agility Specialist" präsentiert, könnte auf dem Höhepunkt der Agilitätswelle davon profitieren. In dem Moment, in dem die Agilitätswelle in Organisationen abebbt, würden sich aber wohl nicht wenige Firmen wünschen, dass sie die Agilität in ihrer Unternehmensdarstellung nicht allzu stark gemacht hätten. Wenn die Firma mit den vier Pünktchen in ihrem Firmenzeichen ihre vier Sparten Medizin, Pharma, kosmetische Pflege und Klebestoffe symbolisieren will und Selbiges nach außen auch kommuniziert, entsteht gegenüber Kunden und Mitarbeitern Erklärungsbedarf, wenn der medizinische Zweig plötzlich abgestoßen wird und das Logo eigentlich nur noch aus drei Pünktchen bestehen müsste.

Erfolg als zufälliges Resultat des Wucherns

Es wird deutlich, dass in turbulenteren Zeiten Organisationen ohne klare Ziele erfolgreicher sein könnten als Organisationen, die mit präzise definierten Zielkaskaden arbeiten. Gerade weil man keine bestimmte Absicht hat, eröffnet sich dem Witterungsbegabten ein Ziel ums andere. Vermutlich sind Universitäten – gerade im Vergleich zu Unternehmen, Krankenhäusern, Verwaltungen, Armeen und Schulen – der Organisationstypus, an dem man am besten sehen kann, warum man Organisationen nicht allzu stark auf übergeordnete Ziele festlegen sollte. Vieles, was an grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen an Universitäten entsteht, ist – um ein etwas blumiges Bild des Organisationswissenschaftlers Henry Mintzberg zu verwenden – nicht das Ergebnis eines von oben geplanten Züchtungsprozesses in einem Treibhaus, sondern eher das zufällige Resultat des Wucherns sehr unterschiedlicher Wildpflanzen auf einer Wiese. Aus dieser Perspektive scheint es fast ein Glücksfall, dass sich Universitäten und Fachhochschulen – allen Bemühungen einer zunehmenden Zentralisierung zum Trotz – nie eindeutigen Zielbestimmungen fügen werden.

Zum Weiterlesen

Vom Autor ist das Buch "Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen" (Vahlen) erschienen.