Gebäude der ETH Zürich
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Interview mit Dr. Birgit Kessler
ETH Zürich steuert Berufungen zentral

Die ETH Zürich fordert Spitzenleistungen in Lehre und Forschung. Wie das Berufungssystem im Wettbewerb die besten Köpfe selektieren soll.

Von Vera Müller Ausgabe 10/16

Forschung & Lehre: Die ETH Zürich hat – wie andere herausragende Universitäten auch – den Anspruch, weltweit die besten Wissenschaftler zu rekrutieren. Wie gelingt es ihr, die besten anzuziehen?

Birgit Kessler: Die ETH Zürich verfügt über ausgezeichnete Rahmenbedingungen, die es ihr erlauben, im internationalen Wettbewerb um die besten Forschenden zu bestehen und ihre Angehörigen zu befähigen, Spitzenleistungen in Lehre und Forschung zu erbringen. Wesentliche Wettbewerbsvorteile sind dabei die hervorragende Ausgangsdotation, die ausgezeichnete Lehr- und Forschungsinfrastruktur, die sie ihren Forschenden und Studierenden zur Verfügung stellen kann, sowie der hohe Grad an professoraler Eigenverantwortung und institutioneller Autonomie. Nicht zuletzt ist es auch dem zentral gesteuerten präsidialen Berufungssystem sowie dem Grundsatz, dass es aus strategisch-planerischer Perspektive keine direkten Nachfolgeprofessuren gibt, zu verdanken, dass die ETH Zürich jederzeit speditiv und professionell auf identifizierte Ausnahmetalente reagieren kann ("opportunity hires").

F&L: Welche Rolle spielt hierbei die proaktive Suche?

Birgit Kessler: Die direkte Kontaktaufnahme zu potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten ist ein wesentliches Merkmal des ETH-Berufungssystems. Der Anteil der unbefristeten Professuren, der dank direkter Kontakte besetzt wurde, hat sich in den letzten Jahren bei nahezu 50 Prozent eingependelt. Bei den Assistenzprofessuren geht jedoch noch immer eine große Mehrheit auf Bewerbungen zurück. Der Präsident beauftragt die Departemente bereits vor der eigentlichen Ausschreibung, entsprechende Rollenmodelle, Exzellenzzentren sowie potenzielle Kandidaten im sogenannten Profilpapier aufzulisten. Diese sollen belegen, dass die Departemente sich Gedanken gemacht haben und in der Lage sind, zusätzlich zu den via Ausschreibung eingegangenen Bewerbungen weitere Fachkräfte direkt anzugehen und diese gegebenenfalls in die Bewerbungsevaluation mit einzubeziehen. Nach der Freigabe und Ausschreibung der Professur werden Departement und Berufungskommission vom Präsidenten nochmals explizit aufgefordert, in Frage kommende Kandidaten von höchstem Niveau direkt anzusprechen. Dies kann während des gesamten Verfahrens bis kurz vor dem präsidialen Entscheid erfolgen.

F&L: Was unternimmt die ETH Zürich, um den Frauenanteil auf der Professorenebene zu erhöhen?

Birgit Kessler: Der Präsident kann für exzellente Wissenschaftlerinnen jederzeit eine zusätzliche Professur schaffen und Frauen mittels eines Direktberufungsverfahrens relativ schnell für die ETH Zürich gewinnen. Weiterhin sind die Departemente und Berufungskommissionen vom Präsidenten angehalten, aktiv nach geeigneten Kandidatinnen Ausschau zu halten und mindestens eine Frau zu Vortrag und Interview einzuladen. Da keine enge Bindung an das zuvor vom Departement definierte Profil besteht, kann auch, zugunsten einer möglichen Berufung einer Professorin, vom ursprünglich definierten Profil einer Professur abgewichen werden. Zudem werden die Berufungskommissionen der ETH Zürich von fachunabhängigen Professorinnen und Professoren geleitet, die im Auftrag des Präsidenten sicherstellen, dass Frauen angemessen berücksichtigt und die Prinzipien der Chancengleichheit im Berufungsprozess eingehalten werden. Auch die Dual Career Advice-Stelle der ETH Zürich spielt im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Professorinnen eine wichtige Rolle, da die Mobilität von Frauen aufgrund der familiären Situation häufig geringer und eine Unterstützung bei der privaten Integration am neuen Ort essenziell ist.

F&L: Welche Bedeutung haben private Aspekte für die Kandidatinnen und Kandidaten von Professuren, und wie reagiert die ETH Zürich darauf?

Birgit Kessler: Seit Ende der 1990-Jahre betreibt die ETH Zürich eine Dual Career und Integrationsstelle, deren Fokus auf den mitreisenden Partnerinnen und Partnern sowie Kindern liegt. Pro-aktiv kontaktiert die Dual Career und Integrationsstelle die Professorinnen und Professoren, welche Verhandlungen mit dem Präsidenten aufnehmen, begleitet und berät sie in allen privaten Fragen bis zum Entscheid für oder gegen das Angebot der ETH Zürich. Die Familien werden dabei unterstützt, für alle Belange eine geeignete Lösung zu finden, damit der internationale Umzug ein machbares und positives Ereignis wird. Das Angebot umfasst Mithilfe bei der Wohnungssuche, Beratung in Schul- und Betreuungsfragen, Sozialversicherungen, Pensionskasse und Steuern sowie das Leben in Zürich und der Schweiz. Essenziell beim Entscheid für oder gegen das Angebot der ETH Zürich ist das Thema Dual Career und die realistische Möglichkeit des Partners bzw. der Partnerin, sich nach dem Wechsel in die Schweiz wieder erfolgreich der eigenen Karriere widmen zu können.

F&L: Wie funktioniert bei Ihnen die möglichst sofortige Herstellung der Arbeitsfähigkeit frisch berufener Professorinnen und Professoren?

Birgit Kessler: Die Phase nach dem Entscheid für die ETH Zürich und vor dem eigentlichen Amtsantritt ist für einen glatten Übergang in die neue Funktion entscheidend. Sie wird genutzt, um den Amtsantritt mit den zuständigen internen Personen und Einheiten zu planen, damit der Professor bzw. die Professorin einen fliegenden Start hinlegen kann. Dies beinhaltet, dass die ETH Zürich ihnen frühzeitig die Möglichkeit zur Beschaffung relevanter Infrastruktur und Geräte gibt, allfällige bauliche Anpassungen realisiert, rechtzeitig die Anstellung von neuen Mitarbeitenden aufgleist und dabei hilft, dass mitreisende Gruppenmitglieder (Doktoranden oder Postdocs) geregelt aufgenommen werden können. Doch auch hier begleitet die ETH Zürich den neuen Professor bzw. die neue Professorin nicht nur hinsichtlich der neuen Tätigkeit an der ETH Zürich, sondern konkretisiert die während der Verhandlung skizzierten privaten Themen (Dual Career, Wohnung, Schule/Kinderbetreuung, Versicherungen), damit alle Familienmitglieder sich rasch und unkompliziert am neuen Ort eingewöhnen können.

F&L: Das durchschnittliche Berufungsalter an der ETH Zürich ist über die vergangenen 20 Jahre stetig gesunken und liegt nun bei ungefähr 40 Jahren. Welche Überlegungen leiteten und leiten die ETH Zürich in diesem Prozess?

Birgit Kessler: Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich eine Berufung von jüngeren Personen mit nachweislichem Potenzial, denen man die notwendigen Ressourcen und exzellente Entwicklungsmöglichkeiten an der ETH Zürich bietet, letztendlich bewährt. Auch dank der im Jahr 2000 nach amerikanischem Vorbild eingeführten Assistenzprofessuren mit Tenure Track, bei denen bei hervorragenden Leistungen die Möglichkeit besteht, über ein direktes, mehrstufiges Tenure-Verfahren die Eignung für eine permanente Professur abzuklären, kann die ETH Zürich exzellente Wissenschaftler schon früh in deren Karrieren für sich gewinnen. Außerdem sind jüngere Personen, die aus dem Ausland kommen, meistens unkomplizierter hinsichtlich der privaten Integration in die Schweiz. Die Kinder sind meist jünger, Sprachbarrieren leichter abzubauen und Diskussionen über teure internationale Privatschulen erübrigen sich, da die Kinder ganz selbstverständlich in das öffentliche Schweizer Schulsystem hineinwachsen. Zudem steht der Partner noch eher am Anfang der beruflichen Karriere und ist offener für Veränderungen und eine Neuorientierung. Und schließlich zeigt sich auch die Situation in den Sozialversicherungen (namentlich Pensionskasse) in einem besseren Licht, können allfällige Lücken aufgrund des Wechsels von einem System ins andere noch über viele Jahre hinweg kompensiert werden.