Universität Heidelberg
Fakultät nach Amoklauf "im Schockmodus"
Nach dem Amoklauf in einem Hörsaal der Universität Heidelberg setzt die betroffene Fakultät ihre Präsenzveranstaltungen für Studierende im ersten Semester vorerst aus. Dies gelte zunächst bis zur geplanten zentralen Trauerfeier am Montag, sagte der Dekan der Fakultät für Biowissenschaften, Joachim Wittbrodt, der Deutschen Presse-Agentur. "Ich würde mir als Dozent auch sehr komisch dabei vorkommen, wenn ich jetzt in einen geschlossenen Hörsaal gehen müsste." In höheren Semestern seien bei Lehrveranstaltungen Schweigeminuten und Zeiten zum Austausch geplant.
Am Montag hatte ein 18-jähriger Student der Fakultät während eines Tutoriums vor allem für Erstsemester in einem Hörsaal eine 19- und eine 20-jährige Frau sowie einen 20-jährigen Mann mit Schüssen leicht verletzt. Eine 23-jährige Studentin starb später an den Folgen eines Kopfschusses. Der mutmaßliche Schütze tötete sich nach der Tat selbst. Das Gebäude mit dem Hörsaal, in dem die Schüsse fielen, bleibe vorerst geschlossen, sagte Fakultätsvorstand Wittbrodt.
Studierende und Dozenten seien nach den Ereignissen "im Schockmodus". Dennoch habe am Dienstag ein digitales Treffen der Fakultät mit mehr als 170 Teilnehmern stattgefunden, auch Uni-Rektor Bernhard Eitel sei dabei gewesen. "Wir haben vor allem versucht, die Studierenden zu informieren und ihnen Angebote zu machen", betonte Wittbrodt. Bei der psychologischen Betreuung solle "niemand durchs Raster fallen".
Bei den anstehenden Prüfungen sei nun Augenmaß gefragt, sagte Wittbrodt. Eine Prüfung am Mittwoch sei ausgesetzt worden, für weitere werde es Ersatztermine geben. "Wir geben den Studierenden auch die Gelegenheit, an den Prüfungen teilzunehmen", sagte Wittbrodt. "Aber wenn sie währenddessen merken, es klappt nicht, genügt ein kurzes Signal. Dann zählt diese Prüfung nicht."
Studierende und Uni-Leitung gegen Sicherheitskontrollen
Nach einer gewissen Zeit wolle man die Studierenden an der Fakultät ermutigen, sich dem Präsenzbetrieb wieder "zu nähern", betonte Wittbrodt. "Biowissenschaften ist ein sehr praktisches Fach, mehr als 50 Prozent des Studiums sind Praktika." Zudem sei ein gewisses Maß an Routine wohl auch bei der Bewältigung des Erlebten sinnvoll.
Zusätzliche Sicherheitskontrollen halte er dabei nicht für das richtige Mittel, sagte Wittbrodt. "Das ist eine ganz natürliche Reaktion, aber ich kann mir das an einer so freien Universität wie Heidelberg nicht vorstellen." Viele Studierende hätten bei dem digitalen Treffen am Dienstag ähnlich argumentiert. "Die breite Antwort war: Ich würde mich auf dem Campus nicht wohlfühlen, wenn ich wie auf dem Flughafen durchleuchtet würde", sagte Wittbrodt.
Der Vorsitzende der Landesrektorenkonferenz der Universitäten und Rektor der Universität Hohenheim, Stephan Dabbert, sagte: "Die Universitäten verstehen sich als weltoffene Bildungsstätten, in denen auch in diesen schweren Zeiten Austausch und Kommunikation stattfinden; sie sind damit Teil einer offenen Gesellschaft. Einschränkungen des Zugangs mit sicherheitsorientierten Kontrollmaßnahmen laufen diesem Selbstverständnis entgegen."
Das bedeute aber nicht, dass die Universitäten Notsituationen hilflos ausgeliefert seien. "Alle Landesuniversitäten verfügen über Notfall- und Krisenpläne – diese haben im Fall von Heidelberg auch gegriffen, so dass die Einsatzkräfte innerhalb weniger Minuten vor Ort sein konnten", sagte Dabbert.
Augenzeugen brauchen Zeit zum Verarbeiten
Augenzeugen der Amoktat müssen nach Erfahrung des Psychologen und Psychotherapeuten Frank-Hagen Hofmann das Erlebte nun erst einmal verarbeiten. Zentral sei, sich dafür Zeit zu geben, sagte der Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle des Studierendenwerks (PBS) am Mittwoch der "Rhein-Neckar Zeitung". Die Reaktionen auf solche belastenden Ereignisse seien so individuell wie die Bewältigungsschritte. Wichtig seien anfangs oft vor allem ein sicheres Umfeld und Kontakt zu vertrauten Menschen, um sich sicher, unterstützt und aufgehoben zu fühlen, so Hofmann. "Mit dem Umfeld darüber zu sprechen, sich und sein Erleben mitzuteilen, kann Teil davon sein."
Die 2017 gegründete Psychosoziale Beratungsstelle berät Studierende sonst bei Konflikten und Problemen wie Ängsten oder Depressionen. Hofmann zufolge können nach einem solchen Ereignis viele Symptome auftreten: Anspannung, Konzentrationsstörungen oder intensive Emotionen. Dies seien Schutzreaktionen des Gehirns. "Das ist eine sinnvolle und normale Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis." Mit den Bewältigungsversuchen, mit dem Erlebten zurechtzukommen, lasse die Symptomatik in der Regel nach. Wenn man sich überfordert fühle und Beschwerden nicht nachlassen, sei Hilfe von Experten sinnvoll.
Die Anlaufstelle bietet zunächst ein Kontingent von Terminen für Studierende an, die sich durch die Ereignisse belastet fühlen und Rat und Unterstützung suchen. "Gegebenenfalls leiten wir dann auch beispielsweise an traumaspezifische Angebote und entsprechend spezialisierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten weiter."
dpa/ckr