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Hochschulgröße als Erfolgsfaktor
Groß ist gut, klein bloß charmant?

Gibt es eine angemessene Größe für Universitäten? Welche Vor- und Nachteile hat ihre Größe für die Qualität von Forschung und Lehre? Eine Analyse.

Von Gerd Grözinger 05.01.2021

Deutschland weist 213 Fachhochschulen und 107 Universitäten auf, dazu eine Vielzahl kleinerer Spezialeinrichtungen wie Kunst-, Musik- und Verwaltungshochschulen. In der erstgenannten Kategorie sind aktuell 1.074.000 Studierende eingeschrieben, in der zweiten 1.750.000. Rechnerisch hat also eine Universität etwas über 16.000 Studierende, eine Fachhochschule gut 5.000. Sind das angemessene Größen? Es gibt (mindestens) fünferlei Weisen, wie eine solche Frage beantwortet werden könnte.

A) Man kann historisch vorgehen und den gegenwärtigen Zustand mit früher vergleichen. B) Man kann sich international umschauen und dort an nachgewiesen erfolgreichen Einrichtungen orientieren. C) Durchschnittswerte verhüllen, dass in beiden Hochschularten große Spreizungen vorkommen. Also lässt sich untersuchen, welches Größensegment hier besonders erfolgreich scheint. D) Weiter kann man auf die generelle Literatur zur Bedeutung der Größe von Organisationen rekurrieren und hierbei auf Übertragbarkeit für den Hochschulsektor setzen. E) Schließlich kann man noch externe Effekte mitbedenken, deren Berücksichtigung eine vorher auf der Basis der reinen Institutionenbetrachtung getroffene Einschätzung noch einmal verändern kann.

Im Folgenden werden nur Universitäten betrachtet. Zum einen sind hier die klassischen Doppelaufgaben des Tertiärsektors, Lehre und Forschung gemeinsam zu betreiben, am besten verwirklicht und zum anderen sind zeitliche und internationale Vergleiche für Fachhochschulen schwierig bis unmöglich.

Historische Perspektive

A) Wenn man nach wirklicher Weltgeltung deutscher Hochschulen forscht, rückt die Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende in den Fokus. Nehmen wir zwei große Beispiel daraus: die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, älteste deutsche Hochschule, und die Humboldt-Universität zu Berlin, 1809 unter dem Namen Friedrich-Wilhelms-Universität als preußische Hauptstadt- und Reformuniversität gegründet und in relativ kurzer Zeit international erfolgreich. Beide sind in ihrer damaligen Größe aus heutiger Sicht nur Mini-Einrichtungen. In der Metropole Berlin waren 1900 immerhin schon über 6.000 Studierende eingeschrieben, in Heidelberg dagegen nur etwa 1.500. Zum Vergleich, heute sind es in Berlin 36.000, in Heidelberg 29.000. Und beide sind bekanntlich weiterhin sehr erfolgreiche Einrichtungen, samt Nobilitierung durch die Exzellenzinitiative.

Internationaler Vergleich

B) Man kann berechtigt einwenden, dass sich sowohl der Wissenschaftsbetrieb wie der Anteil der Studierenden an einer Alterskohorte seit 1900 dramatisch verändert haben. Deshalb lohnt ein kleiner Blick auf hoch erfolgreiche Universitäten im Ausland zur Jetztzeit. Das Mekka bleibt dabei die USA und darin besonders die Ivy League. Auch hier wieder einige Beispiele. Die wahrscheinlich berühmteste Hochschule der Welt ist die Harvard University. Sie hat aktuell 32.000 Studierende. Die wohl nächstbekanntesten Einrichtungen dürften Yale und Princeton sein. Die eine zählt 14.000 Eingeschriebene, die andere 8.000. Während also Harvard im Umfang einer größeren deutschen Universität ähnelt, würden Yale und Princeton bei uns eher als kleinere Provinzuniversitäten angesehen werden.

Die amerikanische Erfahrung, dass eine relativ geringe Größe nicht unbedingt den Erfolg blockiert, zeigt sich auch in zwei anderen Messzahlen. Die Carnegie-Foundation ordnet seit langem und regelmäßig das vielfältige US-Hochschulsystem verschiedenen Kategorien zu. Den deutschen Universitäten am ähnlichsten dürften die beiden oberen Einteilungen sein, die Doctoral Universities, einmal mit Very High Research Activities und dann mit High Research Activities. Die 131 Einrichtungen der ersteren Gruppe haben im Schnitt 29 000 Studierende, die 135 der zweiten recht bescheidene 14.000.

Unklarer Erfolgsbegriff

C) Wenn man versucht, den Erfolg deutscher Universitäten mit ihrer Größe in Beziehung zu setzen, stellt man schnell fest, dass schon der Erfolgsbegriff recht unklar ist. Universitäten sind Multi-Produkt-Einrichtungen. Sie sollen Studierende verschiedenster Disziplinen erfolgreich zum Abschluss führen, Forschungsleistungen generieren und zunehmend wird als Third Mission auch noch erwartet, dass man sich regional und zivilgesellschaftlich aktiv einbringt. Für keine dieser Dimensionen gibt es klare, unumstrittene Erfolgskriterien. Im Bereich der Lehre etwa wissen wir, dass die Abschlussquoten per Fach genauso variieren wie Noten und dass die Ausgangslage der jeweiligen Studierendenpopulation vor Ort, etwa mit welcher Abiturnote man anfing, große Auswirkungen auf den Studienerfolg hat. Eigentlich müsste man hier im großen Umfang Langfriststudien zum späteren Berufsleben der Alumni bei Berücksichtigung zahlreicher Kontrollvariablen durchführen, um etwas Definitives zu Unterschieden in der Lehrqualität aussagen zu können. Das geschieht aber praktisch kaum.

"Der bei weitem größte Geldgeber in Deutschland, die DFG, bevorzugt systematisch die größeren Einrichtungen."

In der Dimension der Forschung scheint es ein wenig besser auszusehen. Hier gibt es mehr oder minder handfestes Material wie Publikationen, Zitationen, Promotionen, Patente und Drittmittelerfolg. Vor allem die letztere Angabe wird gerne als wichtigster Forschungsindikator verabsolutiert. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn die beiden Variablen sind nicht voneinander unabhängig. Der bei weitem größte Geldgeber in Deutschland dafür, die DFG, bevorzugt nämlich durchaus systematisch die größeren Einrichtungen. Laut letztem Förderatlas wurden von den bewilligten Mitteln 42 Prozent in koordinierten Programmen ausgegeben, also Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs, Forschergruppen et cetera. Dazu kamen 19 Prozent für die Exzellenzinitiative und ganze 32 Prozent gingen noch in die Einzelförderung. Kleinere Universitäten haben aber schon mangels des dafür nötigen Umfangs an wissenschaftlichem Personal viel geringere Chancen auf koordinierte Programme und müssen sehr viel stärker mit den eher kargen Brosamen der Einzelförderung auskommen. Was dann wieder zu einer Negativspirale verminderter Reputation bei der Landespolitik und bei den so entscheidenden Berufungen führt.

Die USA hat diese Tendenz zur Oligarchisierung schon seit langem als Problem erkannt, weil das wissenschaftliche Potenzial an kleineren Einrichtungen oder in ärmeren Bundesstaaten nicht ausgeschöpft wird. Die National Science Foundation plus viele andere öffentliche Fördereinrichtungen haben deshalb spezielle Programme aufgelegt (EPSCoR), um die Hochschulen, die nur wenig über die klassischen Wege an ausreichend Drittmittel kommen, mit Sonderzuwendungen für Forschungsprojekte zu unterstützen.

Bedeutung von Größe

D) Aus den Wirtschaftswissenschaften kommt die generelle Diskussion um Skalen- und Verbundeffekte. Vor allem in der Produktionstheorie wird thematisiert, wie die Herstellung größerer Mengen die Stückkosten zu reduzieren vermögen. Auf den Lehrbereich einer Universität bezogen: Zwar lässt sich erst ab einer bestimmten Mindestzahl von Professuren ein Studiengang etablieren, aber nach dieser Eingangsschwelle kann die Anzahl der Studierenden scheinbar leicht erhöht werden, ohne dass die Personalausstattung gleich stark mitwachsen muss. Wenn etwa eine Vorlesung von 200 statt 100 Hörerinnen und Hörern besucht wird, bleibt die Vorbereitung gleich, es wächst nur der Korrektur- und Nachbesprechungsaufwand.

Allerdings hat diese so einleuchtend klingende Rechnung ihre Tücken. Sie berücksichtigt nicht nur nicht, dass später dann doch zusätzliche Einzelprüfungsleistungen wie BA- und MA-Arbeiten mit wieder proportionalem Betreuungsaufwand anfallen, sondern vor allem auch nicht, dass Studierende keine zu bearbeitenden Produktionsstücke sind. Als menschliche Wesen reagieren sie auf Veränderungen der Lehrbedingungen. Empirische Studien zeigen, dass lokale Fachgröße und Studienerfolg auch negativ korrelieren können. Ähnlich schwierig ist es mit einem eindeutigen Nachweis, dass Forschungserfolg und Größe immer positiv verbunden sind.

Ein schönes aktuelles Beispiel des Auseinanderfallens der unterschiedlichen Bedingungen erfolgreicher Forschung und der von Massenproduktion ist der in Großbritannien und den USA zuerst zugelassene Corona-Impfstoff. Entwickelt wurde er von Biontech, einer Einrichtung mit nur ein paar Hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Hauptsitz Mainz. Herstellungs- und Vertriebspartner ist dagegen die Weltfirma Pfizer mit über 90.000 Beschäftigten.

Neben Skaleneffekten gibt es auch noch Verbundeffekte. Zum Beispiel sind viele naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Fächer davon abhängig, dass sie noch in der Lehramtsausbildung tätig sind. Oder: Masterprogramme bringen Promotionsinteressierte hervor, die wieder für die Forschung interessant sind. Das spräche für Größe. Die Ökonomie lehrt aber auch, dass negative Skalen- und Verbundeffekte existieren. Wenn Organisationen immer mehr wachsen, wird ihre Führung komplexer, nimmt die Bürokratie zu, das Engagement der Beschäftigten dagegen oft ab. Und auch Interdisziplinarität, ein Paradebeispiel für Verbundeffekte, ist leichter gefordert als praktisch ohne Reibungsverluste gelebt.

Externe Effekte

E) (West-)Deutschland hatte sich vor einem halben Jahrhundert etwas getraut. Es wurde damals nicht nur der Fachhochschulsektor eingeführt, sondern auch eine Vielzahl neuer Universitäten gegründet. Aber nach etwa einer Dekade war die Sturm- und Drangperiode wieder vorbei. Außer der Umwandlung einiger Pädagogischer Hochschulen und der Etablierung kleiner privater Einrichtungen passierte danach nicht mehr viel. Stattdessen wuchsen die einzelnen Universitäten. Empirische Studien für Deutschland zeigen, dass aber die physische Nähe die Aufnahme eines Studiums befördert.

Neugründungen in bisher unversorgten Gebieten würde also das Potenzial Studieninteressierter besser ausschöpfen und gleichzeitig die alten Standorte entlasten. Dazu kämen willkommene Effekte für den regionalen Arbeitsmarkt und die dortige Innovationsfähigkeit. Besonders in den neuen Bundesländern, wo außer im Großbereich Berlin für die nächsten Jahrzehnte ein dramatischer Bevölkerungsrückgang erwartet wird, wären Neugründungen von, dann zunächst kleineren, Universitäten ein rechter Segen.