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Wissenschaftliches Fehlverhalten
Immer mehr unsaubere Arbeiten werden entdeckt

Fingierte Untersuchungen, abgeschriebene Texte und geschönte Ergebnisse: Wie reagiert die Wissenschaft auf derartiges Fehlverhalten? Ein Gespräch.

Von Friederike Invernizzi 25.06.2021

Forschung & Lehre: Frau Dr. Hesselmann, nimmt wissenschaftliches Fehlverhalten insgesamt zu?

Felicitas Hesselmann: Wir wissen nicht, ob wissenschaftliches Fehlverhalten zugenommen hat oder ob es heute mehr entdeckt wird als früher. Man kann nur feststellen, dass die Zahl sichtbar werdender Fälle deutlich wächst. Es gibt dazu die These, dass vor allem der Publikationsdruck die Zahl des unsauberen wissenschaftlichen Arbeitens in die Höhe treibt. Das ist aber empirisch sehr schwer nachzuweisen, weil man nur die bekannten Fälle untersuchen kann. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass immer mehr Initiativen, Institutionen und Anlaufstellen eingerichtet werden, die sich explizit damit befassen, das Fehlverhalten aufzudecken und zu untersuchen. Das ist ein Feld, in dem aktuell sehr viel passiert. Man befasst sich dort vor allem mit den Fragen, wie man besser aufklären kann und wie wir uns in Zukunft bessere Standards geben können, um wissenschaftliches Fehlverhalten zu verhindern. Nach wie vor herrscht in der wissenschaftlichen Community darüber Konsens, dass das Problem wissenschaftsintern gelöst werden muss. Es soll daher möglichst nicht im Rechtssystem also solches geklärt werden, denn das wäre nicht wissenschaftsadäquat. Vielmehr sollten in der Wissenschaft Standards entwickelt werden, um damit umzugehen.

Porträtfoto von Dr. Felicitas Heßelmann.
Dr. Felicitas Hesselmann, Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), forscht zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten, Devianzsoziologie und zu Bewertungsverfahren in der Wissenschaft. Anna Logue

F&L: An welchen Normen und Werten orientiert sich die wissenschaftliche Gemeinschaft dabei?

Felicitas Hesselmann: Das ist eine sehr spannende Frage. Die Orientierungen sind sehr divers. In Deutschland hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit ihren „Empfehlungen für gute wissenschaftliche Praxis“ Standards gesetzt, die bis heute gelten. Die Universitäten entwickeln aber auch vermehrt selbst eigene Regelungen. Diese sind teils stark angelehnt an die Empfehlungen der DFG, teilweise haben die Universitäten aber auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen abweichende Vorstellungen entwickelt, wie die Verfahren zu laufen haben.

F&L: Wie stark weichen diese Vorstellungen der Universitäten von den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ab?

Felicitas Hesselmann: Hier spielt eine große Rolle, welche konkreten Erfahrungen die Universitäten mit wissenschaftlichem Fehlverhalten machen. Zum Beispiel, wenn sie merken, dass bestimmte Regelungen bei bestimmten Vorkommnissen nicht greifen oder es sonstige Schwierigkeiten gibt. Man muss generell bedenken, dass für die Aufarbeitung von Skandalen, die auch in der Presse breit diskutiert werden, die Empfehlungen der DFG nicht konkret genug sind. Häufig werden dann die Regelungen an den Universitäten detaillierter definiert. Dies kann zum Beispiel den Verfahrensablauf betreffen, der dann viel genauer beschrieben wird: Wer soll gehört werden? Wer soll Zeuge sein? Welche Dokumente können herangezogen werden? Was bedeutet das für die betroffene Ombudsperson? Ein genereller Trend ist außerdem, dass die Regeln praxisorientierter geworden sind.

"Hartes Durchgreifen findet man selten, eher das Bemühen, die schwierigen und komplexen Gesamtkonstellationen, in denen sich die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befinden, mit dem gebührenden Respekt zu untersuchen."

F&L: Wie verhalten sich Universitäten, wenn ein Verdachtsfall auftritt?

Felicitas Hesselmann: Die Universitäten versuchen meistens sehr umsichtig und vorsichtig, die Fälle zu untersuchen und zu beurteilen. Man könnte natürlich auch kritisch sagen, dass sie zaghaft sind. Der Eindruck entsteht aber dadurch, dass natürlich jeder Einzelfall individuell betrachtet werden muss. Hartes Durchgreifen findet man selten, eher das Bemühen, die schwierigen und komplexen Gesamtkonstellationen, in denen sich die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befinden, mit dem gebührenden Respekt zu untersuchen. Das erscheint auch insofern sinnvoll, als jeder Fall ein Einzelfall ist. Das Bestreben ist, menschlich gute Lösungen zu finden. Häufig findet wissenschaftliches Fehlverhalten in größeren Zusammenhängen statt, in denen zum Beispiel Arbeitsplatzprobleme oder andere soziale Konflikte eine Rolle spielen. Die Universitäten wollen so versuchen zu verhindern, dass Menschen bloßgestellt und ruiniert werden.

F&L: Ein Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten ist ja so schon eine Katastrophe für eine akademische Karriere…

Felicitas Hesselmann: Genau. Deshalb wird von den Verantwortlichen, die wissenschaftliches Fehlverhalten untersuchen, sehr stark reflektiert, was zu tun ist. Ein Bruch der Vertraulichkeit, allein schon als Verdacht geäußert, kann sehr schwere Konsequenzen haben. Und dies auch dann, wenn die Betroffenen freigesprochen werden.

F&L: Was genau macht die Untersuchung wissenschaftlichen Fehlverhaltens so heikel und schwierig?

Felicitas Hesselmann: Die Sachverhalte, die sich bei der Beurteilung wissenschaftlichen Fehlverhaltens darstellen, sind sehr komplex. Klare Fälle gibt es selten, dass jemand einfach eine ganze Arbeit abgeschrieben hat oder Ähnliches. Die meisten Fälle sind in einer Grauzone zu finden; es ist sehr schwer nachzuvollziehen, wo die Grenze zum Fehlverhalten verläuft. Es kommt auch vor, dass die Fälle nicht so gut dokumentiert sind, um es letztlich genau nachprüfen zu können. Dann gibt es auch unterschiedliche Narrative, wer wann wie wo was gemacht hat.

F&L: Wie sehr spielt das Thema der Vertraulichkeit eine Rolle?

Felicitas Hesselmann: Insgesamt ist man sehr um Vertraulichkeit bemüht, um alle Beteiligten vor negativen Konsequenzen zu schützen, das betrifft sowohl die Hinweisgeber als auch die Betroffenen. Deshalb sind die Universitäten in dieser Richtung sehr vorsichtig. Dies wird vielfach kritisiert. So kann es passieren, dass man bei laufenden Verdachtsfällen wenig bis gar nichts erfährt, das Verfahren kann dann Jahre dauern, und man erfährt auch nicht, wenn es beendet wurde. Bei aller berechtigten Kritik muss man allerdings sagen, dass es hier eigentlich keine richtigen Alternativen gibt. Wie soll man es anders machen? Reputation und öffentliche Wahrnehmung sind in der Wissenschaft als Grundbaustein des wissenschaftlichen Systems kostbar und wichtig.

F&L: Werden insgesamt die Rufe lauter, mit härteren Maßnahmen zu bestrafen?

Felicitas Hesselmann: Generell lässt sich sagen, dass es innerhalb der Wissenschaft unterschiedliche Stimmen gibt, wie wissenschaftliches Fehlverhalten zu sanktionieren sei. Natürlich kommt von außen vermehrt Kritik, zum Beispiel aus der Politik, die ein „härteres“ Durchgreifen fordert. Dies ist auch bei den öffentlichen Medien zu beobachten – gerade, wenn wieder ein aktueller Plagiatsfall publik wird. Aktuell kommt in der Corona-Zeit auch ein gesellschaftlicher Druck dazu, denn die Bevölkerung ist auf seriöse Wissenschaft und deren Ergebnisse mehr als angewiesen. Gleichzeitig gibt es aber auch innerhalb der Wissenschaft Stimmen, die fordern, bei wissenschaftlichem Fehlverhalten klarere Kante zu zeigen. Es gibt aber auch die Meinung, dass die Wissenschaft einen gut funktionierenden „Selbstreinigungsprozess“ hat. Es solle da nicht eingegriffen werden, weil das mehr schade als helfe. Insgesamt ist zudem eine große Zurückhaltung zu beobachten, gerade bei den universitären Ombudspersonen und auch sonst innerhalb der Universitäten, abschließende Entscheidungen über wissenschaftliche Sachverhalte zu fällen. Das ist insofern schlüssig, da dies dem Grundprinzip, wie Wissenschaft funktioniert, auch entspricht: Wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass wissenschaftliche Ergebnisse durch folgende Forschung revidiert werden müssen, so ist das normalerweise ein üblicher Prozess. In dem Moment, wo aber eine Universität das Urteil fällt, dass hier wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt, dann ist das ein abschließendes Urteil mit erheblichen Folgen.