eine Hand legt einen farblosen Holzwürfel auf einen Stapel weiterer Holzwürfel
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Forschungsergebnisse
Kann man Wissenschaft evaluieren?

Wissenschaft kann nur begrenzt sach- und fachgerecht bewertet werden. Denn nur eine zweckfreie Forschung ist nützlich. Eine Kritik zu Evaluationen.

Von Volker Ladenthin 08.10.2020

Zu Recht bezeichnen wir das wissenschaftliche Wissen als das bestmögliche. Seine Qualität ist an Wahrheit ausgerichtet. Wahrheit kann man nicht evaluieren, es sei denn, jemand verfüge schon über sie. Aber dann bräuchte man keine Wissenschaft mehr.

Man kann daher nicht evaluieren, was exzellente Wissenschaft ist. Denn die Evaluation müsste mehr wissen als der Evaluierte. Mehr Wissen als Wissenschaft gibt es aber nicht. Wissenschaft evaluiert sich daher selbst. Die Evaluation von wissenschaftlichen Aussagen ist die Wissenschaft. Zugespitzt kann man formulieren, dass Wissenschaft aus nichts anderem besteht als darin, Wissenschaft auf ihre Gültigkeit hin zu befragen.

Außerwissenschaftliche ­Kriterien

Es kommt noch schlimmer: Man kann Wissenschaften nicht einmal als Wissenschaft bewerten. Was an Evaluationen, Rankings oder Bewertungen präsentiert wird, evaluiert, rankt oder bewertet nicht Wissenschaft als Wissenschaft, sondern es sind außerwissenschaftliche Kriterien, die für die jeweiligen Urteile herangezogen werden. Zum Beispiel, wieviel Patente eine Fachwissenschaft anmeldet, wieviel Geld sie erwirtschaftet, wieviel Sponsoren sie einwirbt oder wie oft ein Text zitiert wird. All das sind sicher Kriterien, aber solche, die wir auch auf Schlagersänger oder Fernsehköche anwenden können – es sind soziale, ökonomische, publizistische, organisatorische Kriterien, die zur Wissenschaft keinen normativen Bezug haben. Sie messen lediglich, wie Teile der Gesellschaft mit Wissenschaft umgehen; aber sie messen nicht die Güte von Wissenschaft. Die Güte einer Fachwissenschaft kann nur von dieser Fachwissenschaft selbst beurteilt werden – in der zukünftigen Disziplingeschichte. Und die Zukunft hat weder begonnen, noch ist sie abgeschlossen.

"Die Güte einer Fachwissenschaft kann nur von dieser Fachwissenschaft selbst beurteilt werden."

Die gesellschaftliche Rezeption von Wissenschaft hängt von Zufällen oder Mechanismen gesellschaftlicher Entwicklungen ab. Es sind aber immer die gleichen wissenschaftlichen Ergebnisse, die da bewertet werden. Sie werden unterschiedlich bewertet, weil unterschiedliche Kriterien normativ gesetzt werden. Mit welcher Begründung? Politisch? Ökonomisch? Soll die Politik regeln, oder darf sie nur ermöglichen? Soll Ökonomie das epistemische System regulieren?

Was jemand mit wissenschaftlich gewonnenen Ergebnissen anstellt, sagt nichts über die Qualität der Wissenschaft aus. Etwas ist nicht deshalb Spitzenforschung, weil soziale Debatten das Erforschte als wichtig erachten. Und: Was gesellschaftliche Anerkennung erfährt, muss nicht wahr sein.

Kein sozialer Fortschritt

Die Anwendung von Wissenschaft ist ein zu ihr differenter Diskurs. Seine Übertragung auf die Wissenschaft stört sie. Man kann Wahrheit nicht als regulative Idee von Wissenschaft ausweisen und bei der Bewertung ein anderes Kriterium heranziehen – zum Beispiel das soft skill, um finanzielle Unterstützung zu werben. Das wäre so, als wenn man nach einem Marathonlauf sagte: Schön, dass ihr euch alle bemüht habt, aber wir zeichnen nicht den besten Läufer aus, sondern den, der die meiste Werbung auf seinem Trikot platzieren konnte.

Wissenschaft be"wirkt" daher auch keinen sozialen Fortschritt – wieviel wissenschaftliches Wissen bleibt sozial ungenutzt! Wissenschaft kann sozialen Fortschritt nur ermöglichen. Und zwar dadurch, dass sie innerszientifischer Logik folgend auch das erforscht, wonach aus gesellschaftlichem Interesse nicht gefragt wird.

Wer bewertet?

Es fragt sich zudem, wer die Wissenschaft bewertet: Die mögen Einzelinteressen sein ("Endlich ein Mittel gegen Erkältung!"), Gruppeninteressen ("Neue Arten der Energiegewinnung") oder der politische Versuch, Gruppeninteressen auszugleichen ("Wir brauchen mehr Nanoforschung, Genderforschung, Klimaforschung, Islamistik …"). Es ist nachzuweisen, dass bei konfligierenden Interessen angesichts beschränkter Ressourcen oft politische Macht oder Geld Evaluationshoheit für sich in Anspruch nehmen. Macht und Geld sind aber keine regulativen Ideen von Wahrheit und damit Wissenschaft. Ja, sie mögen sogar dazu verführen, wissenschaftliche Kriterien hintanzustellen. Die Zunahme der wissenschaftlichen Täuschungsversuche belegt diese Tendenz, die Vermehrung sozialen Kapitals wichtiger zu nehmen als die Orientierung an Wahrheit.

"Die Fremdevaluation von Wissenschaft vermag diese zu schädigen."

Die Fremdevaluation von Wissenschaft vermag diese also zu schädigen. Und zwar nicht nur in einem moralischen Sinne, sondern auch innerszientifisch: Gegenwärtige Interessen verführen dazu, langfristige Perspektiven zu vernachlässigen. Wissenschaft wird einseitig; sie erforscht nur das Pro, nicht das Contra, weil der Abnehmer nur am Pro interessiert ist. Sie erforscht keine Alternativen, weil es dafür keine Finanzierung gibt. Kulturen, die nicht so verfahren, werden auf lange Sicht einen Vorteil haben, weil sie Wissenschaft nicht als Domestiken der Gegenwart behandeln, sondern als Anwalt der Zukunft.

Wenn Sponsoren schließlich ihre (berechtigten) Partikularinteressen (unberechtigt) als Gemeinschaftsinteresse ausgeben, werden Kontroll- und Alternativforschung oder die Erforschung von Nebenfolgen marginalisiert. Sei es, weil die Kapazitäten ausgelastet sind, sei es, weil eine kontrollierende Forschung gar nicht mehr zu finanzieren ist. Je teurer die drittmittelgeförderte Forschung, desto mehr verzerrt sich der Wahrheitsdiskurs einer Gesellschaft. Als wahr gilt dann, was finanziert wurde – nicht aber, was erforscht werden könnte. Zwar kann keine Wissenschaft die ontologische Differenz überspringen, wohl aber kann sie ideologischen Autismus, soziale Selbstermächtigung und ökonomische Kurzatmigkeit ihrer selbst überführen.

Evaluationsgesteuerte Lenkungsversuche betreffen sogar die Methoden der Wissenschaft: Jede Forschungsmethode schließt Erkenntnisse aus, die mit anderen Methoden gewonnen werden könnten: Wer nur quantitative Empirie fördert, schließt alles das, was mittels qualitativer Empirie erkannt werden könnte, aus dem Wahrheitsdiskurs einer Gesellschaft aus. Die Folge ist, dass sich die Gesellschaft nur über einen Teil des möglichen Wissens verständigen kann. Alles, was sich nicht durch die bevorzugte Methode erheben lässt, entzieht sich fürderhin völlig dem sozialen Diskurs. Das überhaupt diskursfähige Weltverständnis ist somit bewusst defizitär. Politische Entscheidungen sind dann unter angemessener Berücksichtigung von Wissensalternativen prinzipiell nicht mehr möglich. Sie werden notwendig fehlerhaft. Wissenschaft ist zwar immer selektiv; die Drittmittelkultur verstärkt aber diese Selektion und führt gesamtgesellschaftlich zu einer Verständigung über eine defizitär wahrgenommene Wirklichkeit, zu unaufgeklärtem Handeln. Es ist, als ob man ein Auto kaufen will, aber für die Kaufentscheidung nur den Auspuff zu sehen bekommt.

Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass wissenschaftliche Antworten auf angeblich brennende Fragen der Gegenwart oft nicht mehr von Interesse sind, wenn man sie dann endlich gewonnen hat: Politik und Soziologie galten 1968 noch als Schlüsselwissenschaften, wurden danach aber in dieser Rolle von Biologie und Ökologie abgelöst. Sind ihre Ergebnisse deswegen nicht mehr zu bedenken?

Sich selbst verpflichtet

Es indiziert nicht die Qualität einer Wissenschaft, Erwartungen zu bedienen. Die Erwartungen könnten falsch sein, partikular, unsinnig, wenig zukunftweisend. Das könnte allein eine unabhängige Wissenschaft herausfinden. Wenn Wissenschaft zuallererst sich selbst verpflichtet sein kann, dann vermag sie auch nützliche Zwecke befördern. Etwas ist aber nicht wahr, weil es nützt, sondern es kann nur nützen, wenn es einen Wahrheitsanspruch erhebt.

Wissenschaft wird langfristig nur dann soziale Bedeutung haben, wenn sie nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch unabhängig ist, um ihrer eigenen Logik zu folgen. Sie kann erst Nebenfolgen erforschen, wenn nicht nur die Erforschung der Anwendungsmöglichkeiten gefördert wird. Sie entdeckt das interessengeleitet Ausgesparte erst dann, wenn sie nur von eigenen Interessen gleitet ist.

Wir müssen unterscheiden zwischen der Bereitstellung von Erkenntnissen in den Wissenschaften und dem Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen in der Gesellschaft. Das eine ist nicht durch das andere zu lenken: Weder sagen uns die Wissenschaften, wie wir handeln sollen, noch sollten Auftraggeber durch Evaluationen normieren können, welche Ergebnisse sie gerne hätten. Beide Bereiche sind notwendig, aber sie stehen in einem kritischen Spannungsverhältnis zueinander. Das muss eine offene Gesellschaft ertragen und finanzieren.