Mann schaut verwirrt und frustriert auf einen Laptop
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Digitalisierung
"Manchmal ist das Ziel auch im Weg"

Die digitale Welt stellt Hochschulen vor Herausforderungen. Welche Folgen hat die Digitalisierung für die Organisation von Lehre und Forschung?

Von Michael Jäckel 14.12.2019

Mit Blick auf die lange Geschichte der Universität ist unlängst die Resilienz dieser Institution als Organisationsform des Wissens betont worden. Der "Witz der Organisation" (eine Formulierung von Dirk Baecker) liegt auch hier in der Absetzung von ihrer Umwelt, für die sie eigentlich da sein soll. Die inneren Strukturen werden als notwendig im Sinne des Erhalts und der Wahrung des Auftrags betrachtet: Das Wachstum der Erkenntnis soll kontrolliert erfolgen, die Wissenschaft muss ihre Komplexität ordnen können und über anerkannte Reputationspfade Integration gewährleisten.

Für die Wirksamkeit resilienter Strategien spricht, dass die vielzitierte Aussage von Peter Drucker, erstmals 1997 im Magazin "Forbes" geäußert, wonach die Universität in 30 Jahren ein Relikt sei, weil ihre Infrastrukturen ("Brick university") entbehrlich werden ("It is as much a change as when we first got the printed book."), wohl nicht zutreffen wird. Uns blieben anderenfalls nur noch wenige Jahre, auch, um das eine oder andere Jubiläum zu feiern. Aber auch im Jahr 2027 werden die meisten Erststudierenden am Morgen ihren Wecker mit der Hand "ausschlagen" oder ihr Smartphone zur Ruhe bringen und sich nach kurzem Fluch über die so früh angesetzte Vorlesung auf den Weg zu ihrem Campus machen.

"Digitale Sattelzeit"

Was erzählt uns nun das Jahr 2019? Im Mai erschien beispielsweise eine Trendanalyse zur Hochschullandschaft im Jahr 2030. In einem Info-Kasten wird erklärt, warum "Digitalisierung" ein Prozess sei. Die Antwort: Es gehe um die Interaktion von Technologie, Mensch und Organisation. Gut: Aber wo gilt denn eine solche Beschreibung nicht? "Jeder neue Output des Silicon Valley […] ist ein Ereignis der sozialen Physik." Mit diesen Worten beschrieb Frank Schirrmacher im Jahr 2013 pointiert einen Prozess, der sich eigentlich lange hinzieht, also viel mehr als ein Ereignis oder ein vorübergehendes Phänomen ist. Wir reden von einem neuen Bauplan "for the whole way of life". Anders formuliert: Wer von Digitalisierung spricht, tanzt auf einer gut besuchten Hochzeit.

Vor einiger Zeit habe ich diesen "Prozess" mit dem Begriff "digitale Sattelzeit" umschrieben. Die Bezugnahme auf diesen historischen "Epochen"-Begriff von Reinhart Koselleck steht für Übergänge und Entwicklungen, deren Ergebnis wir nicht genau benennen können, zugleich für fragile Formen der Zeiterfahrung ("Wo geht die Reise hin?") Aber eingebettet in die Geschichte der Universität als Institution wäre es überraschend, wenn sie an ihrem eigenen Auftrag scheitern würde. Niemand erwartet das, aber es wird trotzdem darüber gesprochen: ein Prozess, dem es an Interaktion und Klarheit fehlt. Ebenso wenig klar ist bis heute, welches Ziel die IT-Investitionen im Bildungswesen verfolgen. Kaum wird gemeldet, dass – so unlängst die neue "International Computer and  Information Literacy-Studie – Deutschland mal wieder nur im Mittelfeld spiele, steigt die Unruhe im System. Dabei gibt es viele Formen des "insularen" Engagements, die Aufschluss über das Verhältnis von analogem und digitalem Lernen geben können, auch in Schulen. Und: Die digitale Bildung löst aus sich selbst heraus die analoge nicht ab. Es mag erfolgreiche Nischen-Angebote für Zielgruppen, die sich bewusst auf diese Form des Studierens einlassen, geben. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit einer Nachfolgeregelung für eine historisch gewachsene Institution.

"Die digitale Bildung löst aus sich selbst heraus die analoge nicht ab."

Das Thema Organisation soll hier im Mittelpunkt stehen. Das kann zu einer kühlen Betrachtung des Prozessmanagements führen und mag den einen oder anderen sogar an eine Sonderform bürokratischer Herrschaft erinnern. Wer digitalisiert, der "taylorisiere" die Ablauforganisation
und weise den Akteuren den Auftrag zu, in diesem Prozess mitzuwirken. Diesen Blick kann man wählen. Er suggeriert aber, dass Kontrolle das Ziel sei: Anmelden, Abmelden, Mitteilen, Belegen, Reisen, Abrechnen, Prüfen, Vormerken und so weiter. An der Schnittstelle "Bildschirm" wird heute vieles erledigt, und es liegt in den Händen von Personen, die zuvor diesen Prozess meistens vom Ergebnis her kannten, die Zwischenschaltung anderer Organisationseinheiten aber keineswegs euphorisch befürworteten. Das individualisierte Ressourcenmanagement – Anträge,  Beschaffungen, Druckaufträge – wird nicht immer als willkommene Zuständigkeit empfunden, erhöht aber – trotz aller Fehler und Pannen – die Flexibilität. Ohne eine gute "e-administration" bewegen sich andere Einsatzfelder der Digitalisierung nur langsam.

Also: Von den eingangs erwähnten Interaktionen gibt es bereits eine ganze Menge. Um sich nicht in diesen Details zu verlieren, werden hier zwei Bereiche etwas näher betrachtet: die Organisation der Lehre und die Organisation der Forschung.

Die Organisation der Lehre

Nähme man die vielen Initiativen zusammen, die sich gegenwärtig in der digitalen Lehre beobachten lassen oder wäre man das ganze Jahr nur damit befasst, Messen und Kongresse zu diesem Thema zu besuchen, es ergäbe sich ein sehr engagiertes Bild, vielleicht kein Gesamtbild, auch noch kein koordiniertes. Als Jürgen Habermas im Jahr 1957 "Die chronischen Leiden der Hochschulreform" veröffentlichte, sprach er von didaktischen Seitenwegen in der Hochschullehre. Die Chance, dass über die vielen Lehr- und Lerninitiativen das Didaktische aus einer Nische in die Mitte gerückt wird, stehen heute jedenfalls nicht schlecht.

Aber wird dieses Engagement angemessen anerkannt und honoriert? Dass im Rahmen des Hochschulforums Digitalisierung ein "HFD Certificate" initiiert wurde, verdeutlicht die fehlenden Reputationsfelder in der akademischen Lehre. Wer heute beispielsweise die Präsenzphasen dazu nutzt, bereits vermittelte Inhalte im Hörsaal unter Berücksichtigung bereits vorliegender Rückmeldungen intensiv und gezielt zu besprechen, der investiert nicht nur Zeit in die Vorab-Aufzeichnung einer Vorlesung oder Präsentation, sondern steigert den didaktischen Einsatz. "Video-based learning" heißt: Aufzeichnung, Bereitstellung auf einer Plattform, Installation von Software zur "Bearbeitung" der Lehreinheit (Bookmarking), Auswertung der Indizierungen und so weiter. Das geht nicht nur von selbst. Eine systematische Ausweitung dieser didaktischen Erprobungsfelder verlangt nach Investitionen an anderer Stelle. Leider wird immer noch zu häufig erwartet, dass der Einsatz digitaler Technologien in der akademischen Lehre Einsparungen möglich macht. Nein! Die Umwelt dieser Lern- und Studierwelten ist betreuungsintensiv.

"Die Umwelt digitaler Lern- und Studierwelten ist betreuungsintensiv."

Das gilt auch für kollaborative Formen der Gestaltung von Seminaren und Übungen. Der Campus des 21. Jahrhunderts kann nur dann als ein Gewinn verbucht werden, wenn den Studierenden eine moderne Atmosphäre des Lehrens, Lernens und (auch) Zusammenarbeitens angeboten wird. Jeder kennt die "Tyrannei der glücklichen Arbeitsgruppe", vieles erfolgt auch weiterhin in Einsamkeit und Freiheit. Der Vorwurf des Relikts steckt nicht in den Mauern, sondern in der vernachlässigten Würdigung didaktischer Kompetenz. Das ist kein Appell im Sinne von "Ihr müsst alle digitaler/moderner werden!", sondern die Wertschätzung eines Gebiets, das zukünftig mehr im Zentrum stehen wird und stehen muss: gute Lehre. Denn Wissen hat die Mobilität entdeckt und wird auch vermehrt in "To go"-Varianten offeriert. Die Unterschiede zwischen dem Campus-Stoff und der "Abhol"-Ware müssen evident sein.

Gute Lehre ruft nach guter Infrastruktur. Wenn Schnittstellen als störend empfunden werden, dann ist es nicht weit hin mit dem Prozess, der da (nicht) abläuft. Wir benötigen also noch stärker diesen systemischen Blick. Systemisch heißt in diesem Zusammenhang vor allem, mehr Ordnung in die vielen Appelle zu bringen, die aus der Einsicht abgeleitet wurden, dass die Digitalisierung auch die Wissenschaften verändert. Sie entspricht nicht einer Insel, auf der gelegentlich verweilt werden kann – auch im Sinne eines selektiven Engagements –, sie steht für Abläufe, die einen Sog auf gewohnte Praktiken ausüben. Alles, was die Bereitstellung von Informationen, die Kommunikation zwischen wenigen oder vielen, die Suche in Katalogen, Datenbanken, die Archivierung und Wiedernutzung von Datenbeständen betrifft: Es wird immer noch viel gelesen, vermehrt auch nur überflogen und betrachtet, aber zugleich wird dieser Prozess überlagert von einem Rhythmus, der der Abwechslung wegen erfolgt. Dabei erlebt, wer liest, die Herausforderung der Konzentration; wer archiviert, stellt fest, wie wichtig neue Ordnungssysteme sind und so weiter. Was die Gesellschaft als Ganzes und ihr ständig nach neuen Rekorden strebendes  Kommunikationsaufkommen betrifft, berührt im Kern auch die Welt der Wissenschaft. Deshalb gehört zur Resilienz auch, dass das Zusammenspiel der Organisationseinheiten in einer Hochschule zwar weiterhin arbeitsteilig sein muss, aber zugleich das Prinzip der kommunizierenden Röhren beherzigt.

Dass Schlagworte hier die Diskussion maßgeblich regieren, ist bekannt. Aber die Wissenschaft hat auch erkannt, dass es von Beginn an nützlich ist, den Kompetenzaufbau in den eigenen Reihen als Chance zu nutzen. Es beginnt eigentlich bereits vor dem Studium und berührt die Lehrpläne von Schulen. Bereits in den 1970er Jahren schuf man Informatik-AGs, doch fast 50 Jahre später ist Informatik noch immer nicht durchgängig fester Bestandteil des Schulfach-Katalogs. Müsste hier nicht auch das Wort "Witz" bemüht werden?

"Zu sagen, dass ein "digital native" der akademischen Welt schon eintreibt, was ihn umtreibt, ist naiv."

Im hochschulischen Rahmen geht es um eine Neubestimmung der wissenschaftlichen Propädeutik. Denn die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens haben eben auch sehr viel von einem anderen Lesen, Suchen und Systematisieren, von dem gerade die Rede war. Zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis gehört die Vermittlung von Kompetenzen, die Wissenschaft heute ausmachen, auch für solche, die später nicht in der Wissenschaft arbeiten. Förderprogramme, zum Beispiel im Bereich "Digital Literacy" und "Data Literacy", sollen den guten Blick und das verlässliche Urteil schulen, und dies schon in einer Phase, die auf das gegebenenfalls dauerhafte wissenschaftliche Arbeiten vorbereitet. Für das Bestandspersonal gilt es, bedarfs- und vor allem wissenschaftsgerechte Qualifizierungsangebote zu schaffen. Natürlich sind auch Begriffe geduldig, aber zu sagen, dass ein "digital native" der akademischen Welt schon eintreibt, was ihn umtreibt, ist naiv.

Die Organisation der Forschung

Wenn ich an den Life Cycle von Forschung denke, dann war in der Vergangenheit die sorgsame Dokumentation des gesamten Prozesses – da ist er wieder – eine an sich wichtige, aber nicht von Dritten verbindlich eingeforderte Angelegenheit. Wenn ein Forschungsprojekt beendet war,
dann war es eben zu Ende. Meistens hatte man etwas Neues vor, auch mental wurde das Abgeschlossene als "erledigt" archiviert.

Die Disziplinen selbst erleben den Wandel mit den Herausforderungen, die neue Technologien schaffen, aber ebenso mit den Chancen, die sie als Beobachtungs- und Analyseinstrumente bereitstellen. Zusätze wie "digital" zu etablierten Disziplinen mögen hier und da noch als
Modephänomen eingestuft werden, aber sie signalisieren doch auch die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf neue Forschungsfelder. Wir wissen, dass in "Data Science" sehr Unterschiedliches repräsentiert sein kann, wir sehen eine weitgehend entspannte Adaption neuer Verfahren in vielen – nicht nur naturwissenschaftlichen – Disziplinen, wir kennen die Kontroversen um die Zielsetzung einer "Digital" oder "Computational Sociology", der "Digital Humanities" oder der "Digital History". Wir registrieren, dass in Diskussionen um Künstliche Intelligenz das euphorische Nachvorneblicken ebenso existiert wie der Hinweis auf eine doch schon sehr lange Tradition dieser Forschungsrichtung. Auch die Forschungsförderung hat diese Notwendigkeit längst erkannt und bereitet Instrumente vor, die den besonderen Herausforderungen der Wissenschaft
im digitalen Zeitalter gerecht werden können.

"Zukünftig wird nicht mehr von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Personal, sondern von Aufgabengruppen mit fachnaher Expertise zu sprechen sein."

Zum wissenschaftlichen Arbeiten wird zukünftig dazugehören, dass entlang des gesamten Prozesses die rein fachliche Expertise durch ein Spektrum sehr wissenschaftsnaher Dienstleistungen ergänzt werden muss. Vereinfacht wird nicht mehr von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Personal, sondern von Aufgabengruppen, die forschungs- beziehungsweise fachnahe Expertise benötigen, zu sprechen sein. Welche "Berufsbezeichnung" diese neuen Arbeitsfelder letztlich bekommen werden, entscheidet sich dann im kreativen Wettbewerb. Übergangsnomenklaturen sind nichts Ungewöhnliches. Das gilt auch für neue Berufsfelder in Bibliotheken und (ehemals) Rechenzentren. Mit dieser Neuausrichtung verbindet sich zugleich eine Wertschätzung gegenüber der Wissenschaft, die von dem Vertrauen in ihre Funktionsweise und ihrer historisch gewachsenen Sonderstellung in der Generierung und Vermittlung von Wissen herrührt. Dieser Prozess aber unterliegt keinem Automatismus. Der Satz "Der Weg ist das Ziel" hat durchaus etwas von "Worthülse". Aber er beschreibt die Herausforderung und wie wir damit umgehen. Manchmal ist das Ziel vielleicht auch im Weg.