Macht
Mythen über Machtmissbrauch in der Wissenschaft
Seit 2017 haben mehrere Fälle von Machtmissbrauch gegenüber Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern eine hohe Aufmerksamkeit für das Thema ausgelöst. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat sich in ihrem 2019 verabschiedeten neuen Kodex zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis deutlich zum Thema positioniert, über das gleichwohl in der wissenschaftlichen Community mehr oder weniger weit verbreitete Mythen bestehen. Eine Analyse.
Mythos 1 – Machtmissbrauch ist kein Thema für Ombudspersonen
Die DFG setzt unter Leitlinie 4 ihres Kodex ein klares Zeichen: "Machtmissbrauch und das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen sind durch geeignete organisatorische Maßnahmen […] zu verhindern." Damit ist Machtmissbrauch explizit ein Aspekt der Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Bei Verdacht auf einen Verstoß gegen die gute wissenschaftliche Praxis sind die an allen Einrichtungen vorgesehenen Ombudspersonen nun auch bei Fällen möglichen Machtmissbrauchs gefordert. Gemäß Leitlinie 6 sind sie es, die zunächst "als neutrale und qualifizierte Ansprechpersonen" beraten sollen.
Fazit: Machtmissbrauch ist ein Thema für Ombudspersonen. Um dem damit zusätzlichen Anspruch an sie gerecht zu werden, wird es unerlässlich sein, adäquate Qualifizierungsmöglichkeiten zu schaffen.
Mythos 2 – Machtmissbrauch ist ausschließlich eine Frage von schlechtem Charakter
Macht ist zunächst einmal ein zur Steuerung von Organisationen erwünschtes Werkzeug, ob Macht nun im klassischen Sinn von Weber (1922) als "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" oder im moderneren, auf Luhmann (1975) zurückgehenden Sinn als soziale Interaktion zwischen machtunterworfener und machthabender Person verstanden wird. Die formale Legitimität zur Machtausübung wird Machtinhabern und -inhaberinnen durch die ihnen innerhalb der Organisation zugewiesene Rolle und Status verliehen. Rein grundsätzlich ist die Legitimation zur Machtausübung daran gekoppelt, dass sie den übergeordneten Organisationszielen dienen soll und nicht dazu, persönliche Ziele durchzusetzen.
"Macht ist ein zur Steuerung von Organisationen erwünschtes Werkzeug."
Die Fokussierung auf eigene Ziele ist ein typischer Charakterzug von Persönlichkeiten, die der Dunklen Tirade (Machiavellismus, Narzissmus, Psychopathie) zuzurechnen sind. Kaltblütigkeit, manipulatives Agieren und ausgeprägter Egoismus sind bei ihnen gepaart mit positiven Zügen wie hohem Charisma, Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungsstärke. Während Personen mit diesen positiven Eigenschaften vorzugsweise für Leitungspositionen ausgewählt werden, versäumen es die Auswahlgremien meist, zu hinterfragen, ob die "Lichtgestalt" nicht auch dunkle Schatten wirft und bei Überantwortung von Macht diese eben nicht primär zur Erreichung der übergeordneten sondern der eigenen Ziele nutzen wird.
Wie Macht ausgeübt wird, spiegelt die Kultur einer Organisation wider, also wie miteinander umgegangen wird. Die Kultur steht dabei in einem Dreiecksverhältnis mit der Struktur (Aufbau, Abläufe, Regeln) und der Strategie (Sinn/Mission, Ziele, Inhalte) der Organisation.
Fazit: Machtmissbrauch ist nicht primär Resultat eines schlechten Charakters. Struktur und Strategie setzen der Kultur einer Organisation den Rahmen und definieren, ob Machtmissbrauch entweder ermöglicht oder limitiert wird.
Mythos 3 – Machtmissbrauch wird durch sogenannte "flache" (formale) Hierarchien verhindert
Bei Diskussionen um Prävention von Machtmissbrauch wird gerne die Einführung "flacher" Hierarchien angemahnt. Flach- oder Steilheit einer Struktur ist wissenschaftlich klar durch die Parameter Leitungsspanne (Anzahl untergebener Personen pro Führungskraft) und Leitungstiefe (Anzahl der Hierarchieebenen) definiert, wobei human- und naturwissenschaftlich ausgerichtete Organisationen unterschiedliche Hierarchien erfordern. Oft wird der Ruf nach Einführung der angelsächsischen Department-Struktur laut. Worauf sich die Hoffnung gründet, dies sei ein Garant für die Verhinderung von Machtmissbrauch, bleibt unklar. Denn auch wenn in einem Department Macht von einem mehrköpfigen Leitungskomitee (wie bei außeruniversitären Instituten üblich) ausgeübt wird, bedeutet dies noch nicht, dass sie nicht missbraucht werden könnte. Die Notwendigkeit, bei Entscheidungen über Ressourcenzuweisung, strategische Ausrichtung, Schwerpunktbildung et cetera Koalitionen schließen zu müssen, verschärft die verbreitete mikropolitische Taktik, Telefonate im Hintergrund oder Vorabsprachen unter vier Augen zu führen et cetera und dabei zu versuchen, gegenseitige Abhängigkeiten, welcher Couleur auch immer, zu nutzen. Und wer kennt sie nicht, die Situationskontrolle als eine Facette von Macht, die zum Beispiel bei der Vorbereitung von Agenden zum Tragen kommt, wenn Tagesordnungspunkte in ganz spezifischer Abfolge zur Entscheidung vorgelegt werden, die allein schon geeignet ist, Entscheidungsoptionen von Opponenten einzuschränken.
Die der "modernen" Department-Struktur gegenübergestellte "traditionelle" Lehrstuhlstruktur von Universitäten hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten grundlegend verändert, ohne dass dies im Organigramm sofort ersichtlich würde. Durch Reduktion direkter staatlicher Regulierung und Zuwachs an institutioneller Autonomie bei gleichzeitigem Erstarken eines Executive Management hat sich ein neues, stärker professionalisiertes und zentralisiertes Organisationsmodell herausgebildet. Neue Elemente der Steuerung und des Qualitätsmanagements sind entstanden, die in Form von zentralen Stabsstellen, Organen des Qualitätsmanagements, Agenturen, Advisory Boards et cetera den Leitungsgremien bei der Umsetzung von strategischen, meist Ressourcen relevanten, Entscheidungen zur Seite stehen. Angeblich nicht von der Hand zu weisende Sachargumente und Sachzwänge entpuppen sich häufig als Werkzeuge einer weiteren Facette von Macht, der Deutungsmacht. Sie ist geeignet, durch Definition des Deutungsrahmens die Handlungsoptionen von Opponenten zu begrenzen.
"Sachzwänge entpuppen sich häufig als Werkzeuge einer weiteren Facette von Macht, der Deutungsmacht."
Zusätzlich ist durch den institutionellen Wettbewerb im Rahmen der Exzellenzinitiative/-strategie, der Einrichtung der Deutschen Gesundheitszentren et cetera eine neue Kategorie sehr starker Akteure entstanden, die der "akademischen Entrepreneure" und Spitzenforscher, denen, auch ohne dass sie zwingend eine strukturelle Legitimation besitzen, ein hohes Maß an Macht innerhalb einer wissenschaftlichen Einrichtung zukommt, gleich ob als Department oder traditionell strukturiert. Reichert (2012) fasst dies treffend zusammen: "So verschiebt sich das Machtgefüge innerhalb der Universität zugunsten einiger weniger Multiplikatoren, während die Mehrheit der Wissenschaftler und ihre Vertretungsgremien einen Machtverlust erleiden."
Fazit: Machtmissbrauch wird durch flache Hierarchien nicht verhindert, da die akut wirksame Macht im Kontext unüberschaubarer "hinterlagerter" Einflussgrößen und Abhängigkeiten entsteht.
Mythos 4 – Selbstkontrolle ist ausreichend, um Machtmissbrauch zu verhindern
Dem Prinzip Selbstkontrolle kommt in der wissenschaftlichen Community eine sehr hohe Bedeutung nicht nur als Ausdruck der Selbstverwaltung zu. Vielmehr spiegelt sich darin auch das Selbstverständnis als ein Bereich unserer Gesellschaft, den Ausstehende nicht wirklich verstehen und beurteilen könnten. Selbstkontrolle findet zum Beispiel bei der Begutachtung wissenschaftlicher Publikationen, Anträgen auf Drittmittelförderung, Habilitationsschriften, Bewerberinnen und Bewerbern um W-Professuren sowie der Evaluierung von Einrichtungen oder zur Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis statt. Sie beruht im Wesentlichen auf dem Prinzip des Peer-Reviews.
Voraussetzung für das adäquate Funktionieren dieses Prinzips ist die weitgehende Unabhängigkeit der Peers. Doch kann eine solche Unabhängigkeit vorausgesetzt werden in einem System, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die einzelnen Akteure Teile eines höchst komplexen Netzwerkes sind und typischerweise ständig wechselnde Rollen einnehmen, als Autor und Reviewer, als Antragstellerin und Gutachterin, als wissenschaftliche Beiräte, als Verbundkoordinator und Principal Investigator, als Institutsdirektorin oder Mitglied eines Evaluierungskomitees? Wäre es nicht geradezu naiv anzunehmen, dass jene, die dem Missbrauch ihrer Macht zugeneigt sind, in solchen Konstellationen ihr Handeln an den erforderlichen ethischen Standards orientierten? Grifka et al. (2018) wiesen auf solch potentielle Konflikte hin: "In der Praxis kann diese Selbstverwaltung aber auch zu Interessenkonflikten der zuständigen Ethikkommission führen, da ihre Entscheidungen unmittelbaren Einfluss auf die Reputation der Einrichtung haben, durch die sie eingesetzt worden ist." Dass dies nicht nur hypothetisch ist, haben Klein et al. (2012) in einer Studie zu gruppendynamischen Prozessen bei Panel-Reviews von Sonderforschungsbereichen gezeigt: "Es wurde deutlich, dass die Gutachter/innen während einer Gruppenbegutachtung von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden, was dazu führen kann, dass die Notengebung nicht allein nach wissenschaftlichen Qualitätskriterien, sondern auch nach strategischen Opportunitäten verläuft."
"Machtmissbrauchsvorwürfe gehören in die Hände unabhängiger nationaler Gremien."
Fazit: Selbstkontrolle per se ist nicht ausreichend, um Machtmissbrauch zu verhindern. Machtmissbrauchsvorwürfe gehören in die Hände unabhängiger nationaler Gremien. Denn nur diese, wie zum Beispiel Ombudsman für die Wissenschaft, sind zumindest weitgehend unabhängig von Netzwerkzwängen.
Mythos 5 – Machtmissbrauch in der Wissenschaft ist ein seltenes Phänomen
Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber Führungskräften stellen eine große Herausforderung für die betroffene Einrichtung dar. Nicht zuletzt steht bei prominent in der Öffentlichkeit diskutierten Fällen deren Reputation auf dem Spiel. Solche Fälle mögen als "Ausnahmefälle, Sache einiger schwarzer Schafe," gesehen werden, wie 2017 vom Prorektor Doktorat der ETH Zürich nach Bekanntwerden eines Missbrauchsfalles geäußert. Machtmissbrauch tritt jedoch nicht immer in zweifelsfreier Form auf, vielmehr sind die Übergänge von legitimem Gebrauch zu illegitimem Missbrauch von Macht fließend. Die Situation dürfte ähnlich sein wie bei wissenschaftlichem Fehlverhalten, wo Fälle von questionable research practises weitaus häufiger zu beobachten sind als Fälle von grobem Fehlverhalten. Umfragen unter Doktoranden und Doktorandinnen an der ETH Zürich unterstreichen dies: 24 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten fragwürdiges Führungsverhalten bis hin zum Machtmissbrauch schon selbst erfahren.
Fazit: Machtmissbrauch in der Wissenschaft dürfte sehr viel weiter verbreitet sein als gemeinhin anerkannt, denn die Angst vor negativen Folgen offener Kritik an Fehlverhalten ist insbesondere bei fragwürdigem Führungsverhalten oder gar Machtmissbrauch groß und leider berechtigt.
Die Worte von Beck (2002) sollten uns Ansporn und Ermutigung sein: "Wo niemand von Macht spricht, ist sie fraglos da, in ihrer Fraglosigkeit sicher und groß. Wo Macht Thema wird, beginnt ihr Zerfall." Machtmissbrauch geschieht dort, wo er unwidersprochen bleibt.
Basierend auf dem Impulsreferat vom 6. Februar 2020 im Rahmen des vom unabhängigen, nationalen Gremium "Ombudsman für die Wissenschaft" ausgerichteten Ombudssymposium in Berlin.