Prof. Gesine Grande
Kirsten Nijhof

Uni-Präsidentin Grande
"Nicht nur den Mainstream fördern"

Professorin Gesine Grande ist die einzige Ostdeutsche an der Spitze einer Universität. Die BTU will sie zum "MIT der Lausitz" machen.

Von Katrin Schmermund 13.10.2020

Forschung & Lehre: Frau Grande, Sie sind die einzige Ostdeutsche an der Spitze einer deutschen Universität. Die brandenburgische Ministerpräsidentin hat das als "wichtiges Signal und längst überfällig" bezeichnet. Wie erklären Sie sich die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in der universitären Führungsetage?

Gesine Grande: Die Frage ist für mich schwer zu beantworten, weil die Ost-West-Thematik für mich im beruflichen Kontext lange Zeit nicht präsent war und ich mich selbst nicht benachteiligt gefühlt habe. Mir ist erst durch die Befragung einer Zeitschrift im vergangenen Jahr bewusst geworden, dass ich als einzige ostdeutsche Rektorin unter den 100 größten Hochschulen Deutschlands faktisch zwei Minderheiten repräsentiere. Ich kann mir vorstellen, dass ich davon profitiert habe, schon Anfang der 90er Jahre mit meinem Wechsel an die Universität Bielefeld Erfahrungen in einem hoch kompetitiven anderen Wissenschaftssystem erworben zu haben. In Bielefeld habe ich eine andere Haltung und Diskussionskultur erlebt, als ich sie aus der DDR kannte. Die westliche Wissenschaft lebte von der Vielfalt der Ideen und Perspektiven, vom Diskurs, vom Streiten, von der Auseinandersetzung. Für meine weitere Entwicklung waren diese Erfahrungen sicher hilfreich.

F&L: Hat nicht gerade die Situation in der DDR dazu geführt, kritisch zu denken und Umstände zu hinterfragen – wichtige Eigenschaften für die wissenschaftliche Karriere?

Gesine Grande: In meinem Umfeld war eine tiefe Skepsis ebenso verbreitet wie die Verweigerung einer Identifikation mit jedweden politischen oder offiziellen Aktionen. Ich würde sagen, dass auch ich bis heute einen Art dispositionelle Wachsamkeit gegenüber Dogmatismus, Manipulation und fehlender Reflexivität habe. Das sind wichtige Eigenschaften einer Wissenschaftlerin, aber zusätzlich braucht es den Mut, sich offen der wissenschaftlichen Kritik und Diskussion zu stellen, was ich in meiner Zeit in Westdeutschland gelernt habe. In meinem Umfeld in der DDR haben viele Personen eine akademische Karriere dagegen erst gar nicht angestrebt. Vielleicht fehlten die dafür sehr wichtigen Netzwerke oder die unterstützenden Mentorinnen und Mentoren. Vielleicht war es für viele in einer Phase radikaler Umbrüche aber auch einfach überlebensnotwendig, die Wurzeln vor Ort nicht zu verlieren und stattdessen eine sicherere berufliche Perspektive aufzubauen.

Ostdeutsche Führungskräfte in Deutschland

In Leitungspositionen sind Ostdeutsche noch immer deutlich unterrepräsentiert. Ihr Anteil lag in den neuen Bundesländern laut einer Studie der Universität Leipzig von 2016 bei 23 Prozent, bei einem Bevölkerungsanteil von 87 Prozent. Frühere Studien kamen mit 1,7 Prozent bundesweit auf einen noch deutlich niedrigeren Anteil.

Die Studie untersuchte auch den Anteil ostdeutscher Führungskräfte in der Wissenschaft und kam bei den Rektoren und Kanzlern der größten Hochschulen in den neuen Bundesländern auf einen Anteil von 14 Prozent. Unter den Rektoren war Professorin Gesine Grande bundesweit die einzige Frau – damals tätig an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig.

Quelle: Michael Bluhm, Olaf Jacobs: "Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung", Leipzig 2016.

"Ein wichtiges Augenmerk meiner Amtszeit soll auf der Förderung von  Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern liegen."

F&L: Ist die Debattenkultur an ostdeutschen Universitäten auch heute noch eine andere als in Westdeutschland?

Gesine Grande: Das kann ich aus meiner begrenzten, persönlichen Perspektive nicht beurteilen.

F&L: Wollen Sie ostdeutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler während ihrer Amtszeit besonders fördern?

Gesine Grande: Ein wichtiges Augenmerk meiner Amtszeit soll auf der Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern liegen. Wir müssen stärker als bislang über Instrumente nachdenken, wie wir kreativen, eigensinnigen Menschen mit unterschiedlichsten Bildungsbiographien eine Chance geben können und nicht nur den wissenschaftlichen Mainstream fördern. Das kann das akademische Leben an der Universität enorm bereichern. Ostdeutsche Herkunft sollte dabei selbstverständlich inkludiert, aber nicht gesondert gefördert werden.

F&L: Was planen Sie konkret in der Nachwuchsförderung?

Gesine Grande: Die Arbeitsbedingungen müssen weiterentwickelt werden. Unser akademischer Nachwuchs ist eine wesentliche Säule für die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Universität. Wir müssen sicherstellen, dass junge Leute nicht nur alles geben, sondern auch viel zurückbekommen. Dazu gehören angemessene Qualifikationsphasen, eine hochentwickelte und lebendige akademische Kultur, Unterstützungsstrukturen und individuelle Förderung. Wir müssen auch über eine angemessene Balance von befristeten und unbefristeten Stellen im akademischen Mittelbau nachdenken. Wie die aussehen kann, werde ich in den kommenden Wochen und Monaten in verschiedenen Gremien diskutieren.

"Die Berufungskommissionen müssen noch aktiver auf vielversprechende Talente und zu uns passenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugehen."

F&L: Insgesamt wollen Sie die BTU zu einem "MIT der Lausitz" machen – wie soll das aussehen?

Gesine Grande: Am MIT begeistert mich seit jeher die technologische Expertise und das Innovationspotenzial des Instituts. Auch hat das MIT schon früh die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Wissenschaft gefördert. Entlang dieser Grundsätze will ich die Entwicklungsdynamik der BTU nutzen und über das Strukturwandelprogramm große Forschungscluster voranbringen. Im Fokus stehen dabei insbesondere Energieforschungsthemen sowie der Aufbau eines Gesundheitscampus.

F&L: Welche Projekte sind geplant?

Gesine Grande: In Kooperation mit zwei neuen DLR-Instituten und Rolls Royce werden wir Forschungszentren für emissionsarme Antriebe und hybridelektrische Systeme aufbauen. Zusammen mit dem neuen Fraunhofer-Institut für Energieinfrastrukturen und Geothermie werden wir außerdem Forschungsschwerpunkte wie Gas- und Wärmeinfrastrukturen und die Modellierung von Energiesystemen weiter voranbringen. Über die geplante Universitätsmedizin wollen wir an der Schnittstelle zwischen Biotechnologie, Medizintechnik und Künstlicher Intelligenz innovative Profile weiterentwickeln und damit laufende Forschungsarbeiten stärken, bei denen es beispielsweise darum geht, wie in einem Bundesland wie Brandenburg mit teils sehr dünn besiedelten Regionen eine sichere Gesundheitsversorgung gewährleistet werden kann.

F&L: Wie holen Sie sich die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit an Bord?

Gesine Grande: Die Berufungskommissionen müssen noch aktiver auf vielversprechende Talente und zu uns passenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugehen und sie auf für sie interessante Forschungsfelder aufmerksam machen. Schließlich eilt uns die Forschungsexzellenz nicht wie den Exzellenzuniversitäten voraus. Forschende wollen wir durch einzigartige Projekte gewinnen, die sie nur an der BTU finden. In der Kooperation mit der Wirtschaft sehe ich dafür viele Chancen. Das gleiche gilt für die Kooperation mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die sich gerade um die Universität herum ansiedeln.

F&L: Welche Eigenschaften bringen Sie zum Erreichen dieser Ziele mit, die Sie von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Teilen Deutschlands unterscheidet?

Gesine Grande: Braucht man dafür andere Erfahrungen als meine erfolgreichen Kolleginnen und Kollegen aus anderen Regionen? Was ich aus meiner Biographie mitbringe, ist die Kenntnis verschiedener gesellschaftlicher, kultureller und hochschulischer Systeme. Ich bin erfahren im Umgang mit großen Brüchen und Strukturwandelprozessen. Ich habe einen unbesiegbaren Optimismus und die Fähigkeit zur Selbstironie entwickelt. Das kann zumindest nicht schaden.