Symbolbild Teamleitung: Holzfiguren stehen in einer V-förmigen Position
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Dieter Lenzen
"Unser Bildungsniveau ist nicht selbst-verständlich"

Als Präsident hat Dieter Lenzen jahrelang die Uni Hamburg geprägt. Im Abschieds-Interview reflektiert er seine Amtszeit – von Bologna bis Corona.

Von Claudia Krapp 25.02.2022

Forschung & Lehre: Herr Professor Lenzen, Sie verlassen die Universität Hamburg im vierten Digitalsemester. Was hat Sie als Hochschulleitung während der Corona-Pandemie am meisten beschäftigt?

Dieter Lenzen: Die Pandemie war eine große Herausforderung, weil mit dem plötzlich verordneten Lockdown sehr viele Entscheidungen getroffen werden mussten. Wir mussten vieles neu organisieren. Es gab kein Homeoffice, keine Geräte, keine Schutzmaßnahmen. Die ersten Monate waren wir beschäftigt, die materiellen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Betriebs zu schaffen. Die Situation hatte teils kriegsähnliche, dramatische Züge. Wir mussten zum Beispiel eine Studentengruppe aus dem Himalaya mit Hubschraubern retten, weil sie nicht mehr anders zurückkamen. Eine andere Studentengruppe war in Afrika unter Beschuss, weil ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten das Virus eingeschleppt. Die Lage hat sich inzwischen verbessert, aber die Ungeordnetheit der politischen Akteure ist leider geblieben. Die kurzfristigen Änderungen von Verordnungen und Gesetzen haben die Menschen verunsichert und verärgert, zum Beispiel die vielen ausländischen Studierenden, die nicht wieder in ihre Länder zurückkamen. Das waren kraftzehrende Zeiten. Ich hätte mir gewünscht, dass die Politik das Ziel in zwei Jahren avisiert und auf dieses frühzeitig hinarbeitet und nicht von der Hand in den Mund agiert. Absurde Beispiele für politisches Versagen wie die aktuell fehlenden Tests gibt es in Massen.

Portraitfoto von Prof. Dr. Dieter Lenzen
Professor Dieter Lenzen war von 2010 bis Februar 2022 Präsident der Universität Hamburg. Zuvor war er zehn Jahre an der Freien Universität Berlin, zunächst als Erster Vizepräsident und später als Präsident. UHH/Bertold Fabricius

F&L: Was sollte Ihre Hochschule in den kommenden Jahren noch tun, um aus dieser Krise gestärkt herauszukommen?

Dieter Lenzen: Es muss etwas in der Gesellschaft als Ganzer geschehen, nicht nur an den Hochschulen. Wenn derzeit nennenswerte Teile der Bevölkerung und auch in unseren Hochschulen psychisch beeinträchtigt sind, zeigt das, dass sie nicht resilient sind. Hierzulande ist man es nicht gewohnt, in eine so schwierige Lage zu geraten. Es wird aber nicht nur bei Pandemien bleiben, absehbar werden wir auch Versorgungsengpässe sowie externe und interne kriegerische Konflikte bekommen. Die Gesellschaft muss gegen Herausforderungen von diesem Kaliber resilienter werden. Die notwendigen Maßnahmen für eine Pandemie waren übrigens durch das RKI und Sars-CoV-1 alle bekannt, aber keiner hat darauf aufbauend Vorbereitungen getroffen. Daher muss man für künftige Krisen nun Resilienzvorkehrungen treffen, auch an den Hochschulen – vom Absichern von Laboren, die sich selbst abschalten, bis hin zu den Fragen, ob Präsenz ja oder nein, welche Schutzmaßnahmen und so weiter.

F&L: Wie könnte man konkret die Lehre resilienter gestalten?

Dieter Lenzen: Ich denke, dass dabei mehr Digitalisierung hilft, da hat Deutschland generell Nachholbedarf. Im Prinzip muss es bei Krisen immer möglich sein, zeitlich begrenzt komplett auf Digital umzustellen, ohne den Lern- und Ausbildungsfortschritt der Studierenden zu beinträchtigen. Für einen Teil der Lehre steht diese Transformation auch ohne Krisen an, etwa für große Vorlesungen. In dieser Hinsicht ziehen wir jetzt aus den Erfahrungen der Pandemie Profit, insbesondere die Lehrenden.

F&L: Hat die Umstellung auf digitale Lehre insgesamt gut geklappt?

Dieter Lenzen: Ja, ich bin erstaunt, dass es geklappt hat, im ersten Pandemie-Semester einen Betrieb aufrecht zu erhalten, in dem sich die Studierenden prüfen lassen konnten. Die Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben großartige Arbeit geleistet. Entgegen aller Behauptungen ist der Notenschnitt in den Prüfungen sogar derselbe wie vorher gewesen. Auch die Prüfungs- und Absolventenzahlen haben sich nicht geändert. Es ist also nicht wahr, dass das Bildungssystem durch die Pandemie am Ende und eine verlorene Generation erzeugt worden sei.

F&L: Was sagen Sie zu Befürchtungen, dass trotz guter Ergebnisse auf dem Papier, die Qualität der Lehre gelitten haben könnte?

Dieter Lenzen: Das ist aktuell nur anekdotische Evidenz und bloße Behauptung. Das müsste von der Bildungsforschung geklärt werden. Es wird auch häufig geklagt, die Studierenden würden generell immer schlechter. Aber auch dafür gibt es keine Evidenz. Das sind gefühlte Behauptungen aus Erlebnissen heraus, denen diejenigen zustimmen, die ähnliches erlebt haben.  

"Die Pandemie war sicher das weitesttragende Ereignis während der 22 Jahre meiner Präsidentschaft."

F&L: Welche Krisen aus Ihrer Amtszeit sind Ihnen neben der Pandemie noch als einschneidende Erlebnisse in Erinnerung geblieben?

Dieter Lenzen: Wenn ich den gesamten Zeitraum von 22 Jahren anschaue, in denen ich erst an der FU Berlin und dann in Hamburg Präsident war, ist die Pandemie sicher das weitesttragende Ereignis gewesen. Aber es hat auch reichlich andere einschneidende Krisen gegeben wie Amokdrohungen oder die G20-Veranstaltung in Hamburg, die sehr viele Vorkehrungen erforderlich machte. In Berlin hat es bei den notwendigen Streichungen in den Universitäten, die schwer umzusetzen waren, zum Teil gewalttätige Proteste gegeben, so dass die Gremien unter Polizeischutz tagen mussten und unser Privathaus rund um die Uhr bewacht werden musste. Solche Ereignisse zehren an den Kräften. Eine besondere Herausforderung war und ist Bologna. Ich stehe dem Bologna-Prozess bekanntermaßen kritisch gegenüber, weil ich glaube, dass diese heimliche Transformation der Universitäten von einer Universalitätsidee in Richtung von Utilität ein schwerwiegender Fehler gewesen ist, der sich erst in Jahrzehnten gänzlich bemerkbar machen wird. Durch Bologna steht die gesellschaftliche Mündigkeit der jungen Leute nicht mehr im Mittelpunkt, was aber eigentlich mal die Idee der Universität war. Die hohe Spezialisierung und die starke Ausrichtung auf die Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden sind ein Problem. Viele Politiker sehen die Aufgabe der Universität allein in der Berufsausbildung, ebenso wie die angloamerikanischen Länder, aber schauen sie sich den dortigen Bildungsstatus mal an… Das deutsche Bildungsniveau ist nicht selbstverständlich.

F&L: Die Universität Hamburg stand während Ihrer Amtszeit mehrfach in den Schlagzeilen, zuletzt mit der "Studie" zum Corona-Ursprung aus einem chinesischen Labor von dem Physikprofessor Roland Wiesendanger. Wie haben Sie die Kritik daran erlebt?

Dieter Lenzen: Ich würde in Zukunft keinen Deut anders mit Publikationen dieser Art umgehen. Jemandem zu verbieten, etwas zu veröffentlichen, kommt nicht in Frage. In diesem Fall haben wir die Verantwortung von Wissenschaft tangiert gesehen. Die in dem Papier kritisierte Gain-of-Function-Forschung kann Experten zufolge genauso gefährlich sein wie die Kernspaltung. Wenn solche Risiken bestehen, muss darauf hingewiesen werden können, auch wenn es die Gefahr birgt, dass es für Gain-of-Function-Forschung keine Mittel mehr gibt. Aber wir können uns nicht mitschuldig machen, indem wir das publizierte Wissen um die Risiken leugnen. Hier haben wir als Hochschulen eine Verantwortung, die über einen einzigen Betrieb hinausweist.

F&L: Kritisiert wurde bei diesem Dossier neben dem Inhalt, der nicht wissenschaftlichen Standards folgte, auch die Veröffentlichung als "Studie" mit dem Logo der Uni Hamburg. Welche Verantwortung trägt die Universität hinsichtlich der öffentlichen Einordnung solcher Publikationen?

Dieter Lenzen: Überhaupt keine. Die Individuen, die Wissenschaft betreiben, sind frei. Wenn ein Wissenschaftler alles in Cartoons machen würde, weil er meint, das würden die Leute besser verstehen, dann ist das selbstverständlich auch durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt. Der Begriff "Studie" ist nicht geschützt. Wenn der Autor gewusst hätte, dass die Bezeichnung öffentlich so missverstanden werden würde, hätte er sein Dossier vielleicht anders genannt. Ich glaube aber, diese Kritik aus den Reihen der Wissenschaft ist auch ein Stellvertreterkrieg.

F&L: Sehen Sie in dem Vorfall einen Anlass, die Schulung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Sachen Wissenschaftskommunikation zu überdenken?

Dieter Lenzen: Zunächst ist für die Texte, die jemand publiziert, und für den Publikationsweg, den er oder sie wählt, diese Person selbst verantwortlich. Eine Universität hat nicht das Recht, darauf einzuwirken. Eine Hochschule kann nur die Art und Weise der Zweitverbreitung professionalisieren. Das wird sicher kommen und ist zum Beispiel auch im Koalitionsvertrag vorgesehen. Ich würde eher sagen, Wissenschaftskommunikation muss vermehrt werden – wegen Erscheinungen wie der Pandemie selber. Die Kakophonie der Virologen in der Pandemie kann man zum Beispiel als Wahrnehmung ihrer Freiheit deuten, aber darunter sind auch Fälle, bei denen unterschwellig persönliche Missgunst mitschwingt. Dieses "Professorengezänk", wie schon Schleiermacher es am Anfang des 19. Jahrhunderts nannte, gibt es wie in allen Berufen. Wichtig ist, dass die Bürgerinnen und Bürger das erkennen und von Fällen unterscheiden können, in denen ein Sachverhalt noch nicht abschließend wissenschaftlich geklärt ist. Wissenschaftskommunikation muss daher auch die Schulung der Rezipienten umschließen und nicht nur die der Produzenten. Den Bürgern sind auch oft simple statistische Sachverhalte nicht vertraut.

F&L: Der zweite Fall, der während Ihrer jüngeren Amtszeit Aufsehen erregt hat, ist die Rückkehr von Professor Bernd Lucke aus der Politik an die Uni Hamburg. Welche Schlüsse haben Sie aus den Protesten dagegen gezogen?

Dieter Lenzen: Dass es bei Herrn Lucke zu solch schweren Protesten kommen würde, war nicht absehbar. Der Asta hatte zuvor mit der Hochschulleitung abgesprochen, dass er außerhalb des Gebäudes demonstrieren werde, ohne Luckes Lehrveranstaltungen zu stören und damit in seine Lehrfreiheit einzugreifen. Daran hat er sich auch gehalten, aber plötzlich sind andere auf diesen Zug aufgesprungen. Die daraus entstandene Situation mit den Protesten im Hörsaal war dann keine Aufgabe des Wissenschaftssystems mehr, sondern des Sicherheitssystems.

F&L: Inwiefern hängt der Fall Lucke mit dem neuen "Kodex Wissenschaftsfreiheit" zusammen, den Ihre Uni Anfang Februar vorgestellt hat?

Dieter Lenzen: Für den Kodex gab es diverse Anlässe, einer davon war auch die Causa Lucke. Der Kodex soll klarstellen, was durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt ist und was nicht, und konkretisiert das anhand diverser Fallbeispiele. Es soll eine Orientierung sein, denn bei der Abgrenzung haben alle Hochschulleitungen Probleme und im akademischen Alltag kommt es immer wieder zu Irrtümern.

F&L: Inwiefern hat sich der gesellschaftliche Anspruch an Universitäten in den letzten Jahrzehnten verändert?

Dieter Lenzen: Die allgemeine Menschenbildung – also Persönlichkeits- und Weltbildung –, die Bestandteil der Selbstbeschreibung der Uni Hamburg seit 1919 war und ist, ist durch den Bologna-Prozess sehr stark zurückgedrängt worden. Als ich studiert habe, gab es keine Beschränkung hinsichtlich der belegbaren Kurse. Die Möglichkeit, fachfremde Kurse zu besuchen und sich gesamtgesellschaftlich zu einem mündigen Bürger zu bilden, ist bis heute leider immer weiter eingeschränkt worden.

F&L: Wenn Sie an Wegbegleiter denken, die mindestens ähnlich lange an der Spitze einer deutschen Hochschule standen wie Sie – zum Beispiel Wolfgang Herrmann an der TU München –, was haben Sie voneinander über den Wandel an Hochschulen gelernt?

Dieter Lenzen: Wir haben uns immer wieder über die Veränderungen an Hochschulen ausgetauscht. Wir reflektieren gegenseitig, welche Veränderungen des anderen Sinn machen und etwas bewegen können, wo es Widerstände geben könnte, wo Dinge nicht bedacht wurden. Aber die Situationen an den verschiedenen Hochschulen sind nur begrenzt vergleichbar, zum Beispiel wegen eines anderen Verhältnisses zur Politik, eines anderen Typus des Personals und anderer Prioritäten. Eine technische Universität ist zum Beispiel etwas völlig anderes als eine Volluniversität.

F&L: Was kommt auf Ihren Nachfolger Hauke Heekeren nun zu?

Dieter Lenzen: Eines seiner nächsten Themen wird es vielleicht sein, sich darauf vorzubereiten, die Pläne im Koalitionsvertrag umzusetzen, so dass die Universität vorbereitet ist, wenn die ersten Ausschreibungen stattfinden. Aber das ist ausschließlich seine Angelegenheit. Ich möchte mich keinesfalls ungefragt einmischen. Er kommt praktischerweise wie ich zuvor von der FU Berlin und kann seine Situation sehr gut mit meiner vergleichen. Seine Wahl war ein Glücksfall, und ich bin sicher, dass sie für die Uni Hamburg weiter zum Erfolg führen wird.