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Berufungsverfahren
Was die Praxiserfahrung bei Ingenieuren so wichtig macht

Industrieerfahrung darf bei der Berufung von Ingenieurinnen und Ingenieuren nicht in den Hintergrund rücken. Davon ist dieser Autor überzeugt.

Von Christian Bonten 01.03.2019

Frau Ministerin Edelgard Bulmahn führte, gemeinsam mit der Innen-Staatssekretärin Brigitte Zypries, am 21. September 2000 die Juniorprofessur ein, geplant zunächst als Ersatz, später als Ergänzung zur Habilitation. Dies geschah, um die Unabhängigkeit und eigenständige Arbeit von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern zu stärken und vor allem um die Zeit dieser Qualifikationsphase zu verkürzen.

Bereits bei Verkündung und Erläuterung der Reform sprach Bulmahn davon, dass die Berufungen aus dem Ausland sowie aus der Industrie, wie in den Technikwissenschaften üblich, dadurch nicht ersetzt werden sollen.

Heute ist allerdings auch bei Berufungen in den Technikwissenschaften zu beobachten, dass der Senat immer häufiger nach einer Habilitation fragt, wenn sich kein Juniorprofessor auf eine W3- oder W2-Professur bewirbt. Der erfolgreiche Sonderweg der Ingenieure, industrieerfahrene Bewerber zu berufen, riskiert, in Vergessenheit zu geraten.

Bedrohtes Erfolgsmodell der Ingenieurwissenschaften

Damit wird das deutsche Erfolgsmodell bedroht. Belegt wird dies durch Ergebnisse einer Befragung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) zu Berufungsverfahren in den Technikwissenschaften. Es wird deutlich, dass über 60 Prozent der Dekane und Hochschulleitungen der Meinung sind, dass Industrieerfahrung in den Technikwissenschaften einer der wichtigsten Faktoren für Qualität von Forschung und Lehre sei. Über 90 Prozent geben an, dass eine Industrietätigkeit sehr gut oder gut auf eine solche Professur vorbereite und die bestmögliche Variante sei.

Der weltweite äußerst gute Ruf deutscher Ingenieurinnen und Ingenieure ist starker Hinweis auf eine der besten technischen Ausbildungen. Eine Absolventin oder ein Absolvent der Technikwissenschaften gilt bereits mit dem Masterabschluss als berufsfertig und hat mit der Masterarbeit bewiesen, wissenschaftliche Methoden zur Lösung wissenschaftlicher Fragestellungen anwenden zu können, die auch geeignet sind, wichtige Fragestellungen in der beruflichen Praxis zu lösen.

"Ingenieurinnen und Ingenieure können jederzeit das Institut auch ohne Promotion verlassen, um anderswo erfolgreich zu sein."

Die fertige Ingenieurin oder der fertige Ingenieur ist somit sofort einsetzbar; sie oder er benötigt keine Promotion, es sei denn, sie oder er möchte in die Wissenschaft zurückkehren.

Eine Ingenieurin oder ihr männliches Pendant an einem technikwissenschaftlichen Lehrstuhl oder Institut zu halten bedarf bei der seit Jahren angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt einer besonderen Überzeugungskraft der Institutsleitung. Sie oder ihn zum Bleiben zu überzeugen, gelingt nicht etwa mit einer Promotionsvereinbarung, sondern nur mit interessanten Arbeitsinhalten, inspirierender Arbeitsatmos­phäre und nicht zu hoher Dauer bei vollem Gehalt.

Nur in extremen Ausnahmefällen ist von einem Abhängigkeitsverhältnis oder "Ausgeliefertsein" die Rede, denn Ingenieurinnen und Ingenieure können jederzeit das Institut auch ohne Promotion verlassen, um anderswo erfolgreich zu sein. Im Rahmen der Arbeit am Institut wird die bereits im Studium erlernte Problemlösungskompetenz vertieft, die Projektmanagementfähigkeiten durch "Training-on-the-Job" weiter ausgebaut sowie erste Führungserfahrung durch die Anleitung von Studierenden gesammelt.

Die wenigsten streben Habilitation oder Juniorprofessur an

Der promovierte Ingenieur und sein weibliches Pendant verlassen stets das Institut und streben nur im seltensten Fall die Habilitation oder Juniorprofessur an. Sie stehen nicht vor dem Dilemma, sich für oder gegen eine akademische Laufbahn zu entscheiden, denn dies können sie Jahre später noch aus der Praxis heraus tun. Promovierte Ingenieure gehen fast ausnahmslos in die Industrie, um ihre durch wissenschaftliche Arbeit verbesserten Fähigkeiten zur Problemlösung nun zum Nutzen der Produkte und Prozesse ihres Arbeitgebers einzusetzen.

Nachteil dieses Sonderwegs sind die sehr begrenzten Publikationsmöglichkeiten. Eine Firma ist intrinsisch nicht daran interessiert, dass die Grundlagen ihrer erfolgreichen Produkte und Prozesse in die Öffentlichkeit getragen werden. Hingegen ist das erteilte Patent in den Technikwissenschaften einer der stärksten Nachweise von Neuigkeit und Werthaftigkeit eines Forschungsgegenstands, zumal sich auch ein Patent unter weltweiter Beobachtung befindet und sich externer "Angriffe" erwehren muss. Erteilte Patente werden in den Berufungsverfahren der Technikwissenschaften weit höher als Veröffentlichungen bewertet.

Die Vorteile des Sonderwegs sind vielfältig: Bewerber aus der Industrie können quasi sofort Drittmittel akquirieren, denn auch im Unternehmen mussten sie andere für ihre kostenintensiven Vorhaben gewinnen. Sie haben meist Führungserfahrung, können delegieren sowie ihr Personal anleiten und motivieren. Sie haben ein hohes Kombinationsvermögen, auch über Länder- und Fachgrenzen hinweg; zudem Erfahrungen mit größeren Einheiten und deren Verwaltungen. Das Reden vor größeren Gruppen sind sie gewohnt, und soziale Kompetenz ist in einem Unternehmen unabdingbar für die erfolgreiche Zusammenarbeit.

Erfolgsgarant ­Industrielle ­Praxis

Wie kann man der Praxiserfahrung wieder mehr Gewicht geben? Ich plädiere dafür, die tradierten Regeln bei der Berufung von Technikwissenschaftlern auf eine W3- oder W2-Professur weiter beizubehalten bzw. wiederzubeleben. Besonders wichtig in den Technikwissenschaften ist eine Kombination von wissenschaftlicher Herangehensweise und industrieller Praxiserfahrung.

So sollen weiterhin Persönlichkeiten aus der Industrie zurückgewonnen werden, welche die Promotion als Nachweis der Befähigung eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit vorweisen können und sich nachfolgend mindestens acht Jahre – davon mehrere Jahre in der industriellen Praxis – erfolgreich in Forschung und Entwicklung bewährt haben.

Darüber hinaus sollte Wert auf Management und Führungsqualität, den Blick für das Wesentliche, didaktische und Kommunikationsfähigkeit sowie Kombinationsvermögen und Erfahrung mit größeren Einheiten gelegt werden. Darüber hinaus sind erteilte Patente u.ä. besonders hoch, Veröffentlichungen hingegen als "nice-to-have" zu bewerten.

Bedauerlicherweise ist zu beobachten, dass die verhandelte Ausstattung in den Technikwissenschaften über die Jahre abgenommen hat; so sind die neuen, langfristig ermittelten Durchschnittswerte ernüchternd. Die Investitionsmittel liegen inzwischen bei 281.410 und die laufenden Mittel bei 30.340 Euro. Die durchschnittlichen Berufungszusagen für wissenschaftliches Personal liegen nur bei knapp drei und für nichtwissenschaftliches bei nur circa 1,5 Personen. Die räumlichen Zusagen liegen lediglich bei etwa sieben Büros.

Um erfahrene, gut bezahlte "Schwergewichte" aus der Praxis zurückzugewinnen und zu halten, müssen sich jedoch die Lehrstühle und Institute in einem attraktiven Zustand personeller, räumlicher und sachlicher Ausstattung befinden und die Rektorate in die Lage versetzt werden, Leitungs- und Leistungszulagen möglichst voll auszuschöpfen. Teure, aus der Industrie zurückgewonnene Technikwissenschaftler sind der Preis für die weltweit geachtete  Ingenieurausbildung.