Hand eines Mannes im Anzug gießt einen symbolischen Geldbaum im Blumentopf
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Wissenschaftsfreiheit
Welchen Wettbewerb braucht die Wissenschaft?

Forschung folgt in vielen Punkten ökonomischen Prinzipien. Vergessen wird dabei das höhere Ziel des Erkenntnisgewinns, findet unsere Autorin.

Von Tanja Gabriele Baudson 10.05.2019

Über das Gespenst des Neoliberalismus zu schreiben, das in Deutschland und anderswo umgeht, wäre wohl verfehlt. Allzu offensichtlich haben seine Werte – Effizienz, Produktivität und Verwertbarkeit – in der gesamten Gesellschaft Einzug gehalten; die akademische Welt ist da keine Ausnahme.

Wie passen freier Markt und freie Wissenschaft zusammen? Dass Erkenntnisgewinn und geistige Unabhängigkeit leiden könnten, wenn Unternehmen Einfluss auf Universitäten nehmen, beschrieb Thorstein Veblen bereits vor gut hundert Jahren; und die Folgen der Durchökonomisierung sehen wir in Forschung und Lehre aktuell nur zu deutlich. Wettbewerb soll zu größerer Effizienz und Exzellenz beitragen – aber welche Nebenwirkungen bringt der Konkurrenzkampf mit sich? Kompetenzen, die anstelle schnöder (Er-)Kenntnisse in der Lehre vermittelt werden, sollen die "employability" der studentischen Kunden und Kundinnen maximieren – aber ziehen wir so jene wissenshungrigen, kritischen und selbstständigen Menschen heran, die unsere Gesellschaft so dringend braucht?

Patente und Publikationen, der kreative "Output" von Forschenden, gehen – juristisch einwandfrei – in das Eigentum von Hochschulen und Wissenschaftsverlagen über, die dann aus diesen fremden Früchten maximalen "Return on Investment" erwirtschaften können. Wie passt das mit den Ideen von Urheberschaft und von Wissen als öffentlichem Gut zusammen, vor allem, wenn die Forschung durch Steuergelder finanziert wird? Und was gute Wissenschaft ist, lässt sich anhand von quantifizierbaren Indikatoren transparent und objektiv messen – aber sind diese Metriken auch valide?

"Die Verwertbarkeitslogik des Neoliberalismus steht dem Ideal der Zweckfreiheit von Wissenschaft diametral entgegen." Tanja Gabriele Baudson

Das Wissenschaftssystem unterliegt Trends ebenso wie alle anderen Teilsysteme der Gesellschaft. Dennoch verwundert es, dass der Neoliberalismus hier Wurzeln schlagen konnte, steht seine Verwertbarkeitslogik dem ursprünglichen Ideal der Zweckfreiheit von Wissenschaft doch diametral entgegen. Was Wissenschaft charakterisiert, ist der Prozess, das Streben nach Wahrheit; diesem allein sind Lehrende und Lernende verpflichtet, die an den Hochschulen zusammentreffen.

Kein gesellschaftlicher Nutzen ohne akademische Freiheit

Voraussetzung für dieses unbedingte Wahrheitsstreben ist die (seit 1949 grundgesetzlich garantierte) Wissenschaftsfreiheit: die Freiheit von staatlicher, kirchlicher oder anderweitiger Einflussnahme, die durch Verbeamtung beziehungsweise "tenure" zur Sicherung der persönlichen Unabhängigkeit der Forschenden flankiert wird. Diese Freiheit stützt die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft.

Freiheit ist ein großes Privileg, bringt jedoch auch Verantwortung mit sich. Integrität, also professionelles Handeln im Einklang mit wissenschaftlichen Standards, ist die Mindestvoraussetzung, um verlässliche Erkenntnisse erzielen zu können, die dann wiederum in evidenzbasierte Politik einfließen und so der Gesellschaft nützen können. Neuseeland sieht die Institution Universität gar als "critic and conscience of society".

Ein "Goldenes Zeitalter", in dem das Ideal der Wissenschaft und die Realität des Wissenschaftssystems tatsächlich eins gewesen wären, hat nie existiert; zu Nostalgie besteht also kein Anlass. Menschen, die der Verantwortung nicht gerecht werden, welche aus ihren Privilegien resultiert (etwa durch Missbrauch ihrer Machtpositionen oder schlicht durch Trägheit und Unproduktivität), wird es wohl immer geben. Ich bin jedoch skeptisch, ob die Orientierung an wirtschaftlichen Maßstäben tatsächlich das Allheilmittel ist.

Meine Zweifel gründen vor allem in zwei Annahmen des neoliberalistischen Menschenbilds. Die erste ist, dass Menschen ohne Kontrolle nicht produktiv sind. Gerade Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen arbeiten jedoch quer durch die Hierarchieebenen intrinsisch motiviert und gerne – nicht, weil ihre oft prekäre Lage sie dazu triebe, sondern weil sie die Freiheiten schätzen, die ihnen ihre Tätigkeit bietet. Wer mit diesem Privileg verantwortlich umgehen kann, braucht weder Zuckerbrot noch Peitsche; Befunde zum "Korrumpierungseffekt der Belohnung" zeigen anschaulich, dass Einflussnahme von außen der intrinsischen Motivation nicht unbedingt zuträglich ist. Das mechanistische und reduktionistische Menschenbild, das dieser "Incentivierung" zugrunde liegt, ist entwürdigend für jeden denkenden Menschen.

Die zweite Annahme ist, dass Wettbewerb Produktivität und Wohlbefinden mehrt. Das mag für einen konstruktiven Wettbewerb gelten, in dem sich die Akteure und Akteurinnen im Dienste des Erkenntnisgewinns wechselseitig beflügeln und daran persönlich wachsen. Doch das, was aktuell unter diesem Etikett läuft, ist darauf angelegt, im Kampf um (ver)knapp(t)e Ressourcen "Gewinner" und "Verlierer" zu erzeugen.

Dieses Gegeneinander entsolidarisiert Menschen und vergeudet Ressourcen, die für den gemeinschaftlichen Erkenntnisgewinn sinnvoller eingesetzt wären. Zumindest theoretisch – denn praktisch sind Erkenntnisse in der neoliberalistischen Welt ja kein Allgemeingut, sondern Privateigentum der (wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen) Unternehmen, welche die Verwertungsmöglichkeiten ausschöpfen und Profite maximieren wollen, bevor andere zum Zuge kommen dürfen.

Versagensängste ersetzen die intrinsische Motivation

In Anbetracht der statistischen Erfolgsaussichten auf eine Professur (mehr oder weniger die einzige Option, dauerhaft im Hochschulsystem zu verbleiben) ist die Sorge, zu den "Verlierern" zu gehören, durchaus berechtigt. Hier offenbart sich nun ein zentraler Wirkmechanismus von Ideologien allgemein. Sie schüren nicht nur Angst (in unserem Fall durch Verknappung der Ressourcen), sondern liefern zugleich das Gegenmittel: nämlich eine in sich schlüssige, gegen Widerspruch immune Systemlogik, welche noch im größten Chaos die beruhigende Illusion von Vorhersagbarkeit vermittelt.

Der Angst vor dem Versagen setzt sie die Hoffnung auf Erfolg entgegen – so man denn bereit ist, alles zu geben, um den systeminternen Erfolgskriterien (vor allem "impact"-reiche Publikationen und umfangreiche Drittmittel) zu genügen. Wenn sich der Sinn des Erkenntnisstrebens darin erschöpft, instrumentelle Ziele zu erreichen, um im akademischen System weiter zu überleben, wäre es verwunderlich, wenn die intrinsische Motivation nicht litte. Die aus dem neoliberalistischen Menschenbild resultierende Annahme, dass Menschen ohne Kontrolle und Anreize nicht produktiv sind, wird also bestätigt – sofern man ausblendet, dass sich die Prophezeiung erst erfüllt hat, nachdem die Bedingungen für intrinsisch motiviertes Arbeiten erfolgreich zerstört worden waren.

"Wie förderlich sind die Rahmenbedingungen der Wissenschaft, um das hervorzubringen, was wir als wertvoll erachten?" Tanja Gabriele Baudson

Kontrollstreben ist ein Wesensmerkmal von Ideologien. Sie fürchten die Freiheit mit Recht: Denn jeder freie Mensch beweist, wie illusorisch ihr Unterfangen ist. Umfassende "standards and procedures", aufgeblähte Verwaltungsapparate, die deren Einhaltung überprüfen, "KPIs", Evaluationen, "accountability reports" und andere Kontrollinstrumente finden präventiv Anwendung, wo es an Vertrauen mangelt; neue, noch nicht berücksichtigte Regelübertretungen ziehen weitere Regularien nach sich.

Den Menschen wieder mehr Eigenverantwortung zutrauen

Sobald wir aber Freiheit deshalb beschränken, weil wir nicht mehr daran glauben, dass Menschen verantwortungsvoll mit ihr umgehen können, sind unsere Praktiken mit dem fundamentalen Prinzip Wissenschaftsfreiheit nicht mehr kompatibel und unsere wichtigste Aufgabe, das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis, in Gefahr.

Mir erscheint eine kritische, auf empirischen Befunden basierende Reflexion des Menschenbildes, das wir unseren Praktiken zugrunde legen, sinnvoller: Trauen wir Menschen zu, mit ihrer Freiheit verantwortungsvoll umgehen zu können? Wie können wir sie dabei unterstützen? Und wie förderlich sind die Rahmenbedingungen von Wissenschaft und Gesellschaft, um das hervorzubringen, was wir als wertvoll und wichtig erachten?

Die Freiheit der Wissenschaft ist zu kostbar, um sie ökonomischen Prinzipien und Profitinteressen zu opfern – für uns persönlich und für unsere Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft, die uns dieses keineswegs selbstverständliche Privileg mit großem Vorschussvertrauen finanziert. Dieses Vertrauens müssen wir uns würdig erweisen.