Das Symbolbild zeigt einen Mann ohne Gesicht.
mauritius images / Westend61

Karrierepraxis
Wie Führungskräfte ihre Selbstreflexion verbessern

Selbstreflexion liefert die Basis für erfolgreiches Führungshandeln. Durch bestimmte Techniken lässt sie sich gezielt steigern.

Von Michael Busch 13.06.2024

Erklärungsansätze wie die authentische, reflexive oder demütige Führung haben das Thema Führungspersönlichkeit in den letzten 20 Jahren vertiefend ausgeleuchtet. Konkret geht es dabei nicht nur um medial gehypte Leader wie Elon Musk, sondern auch um eher bescheiden, doch ebenfalls visionär auftretende Führungsfiguren wie Bodo Janssen, die Menschlichkeit, Potenzialentfaltung und Beziehungspflege – Wertschöpfung durch Wertschätzung – ins Zentrum ihres Handelns rücken und versuchen, den New-Work-Gedanken Frithjof Bergmanns in ihrem Unternehmen wirklich zu leben.

Führung beginnt mit Selbstführung

Hinter öffentlich sichtbaren und erfolgreichen Führungsgestalten, ob charismatisch-inszenierend oder bescheiden-wertschätzend in Erscheinung tretend, stehen immer Teams. Sowohl von Unternehmenslenkern als auch von selbstständig, proaktiv handelnden Teammitgliedern wird heute Führungskompetenz erwartet, die Selbstführungskompetenz mit einschließen sollte. Deren Grundlage wiederum bildet die Fähigkeit zur Selbstreflexion, die Bereitschaft, sich bewusst und kritisch zu analysieren, eigene Vorstellungen und Verhaltensweisen zu überprüfen und das eigene Selbstbild regelmäßig mit Fremdbildern abzugleichen. 

Das moderne Führungs-Credo lautet: (Er)Kenne dich selbst! Führe dich selbst! Und erst dann: (Er)Kenne andere! Führe andere! Nur Persönlichkeiten können Persönlichkeiten führen. Und nur Persönlichkeiten können in Teams erfolgreich zusammenarbeiten, denn Teamarbeit ist neben der sachlichen Problemlösung immer auch Beziehungsarbeit – die aktive Auseinandersetzung mit anderen und nicht zuletzt mit sich selbst, mit den eigenen Reaktionen auf andere.

Selbstreflexion als Zukunftskompetenz

Persönlichkeitsentwicklung, die Formung des eigenen Charakters und Fähigkeitssets, die kontinuierliche Arbeit an sich selbst sind zu Schlüsselthemen unserer Zeit geworden. Die vier Zukunftskompetenzen, zusammengefasst in den vier Ks Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritisches Denken, werden nicht nur als die Grundlage selbstgesteuerten Lernens, sondern überhaupt als Basis des beruflichen Erfolgs gesehen, auch in Abgrenzung zur künstlichen Intelligenz. Nur Menschen, die mit diesen Kompetenzen ausgestattet sind, erkennen neue Chancen und Verbindungen zwischen bisher unverbundenen Bereichen, sehen Dinge, die alle sehen, denken dabei aber etwas, das noch niemand gedacht hat. 

Das grenzt (noch) organische von künstlicher Intelligenz ab. Denn warum löst KI nicht einfach das Problem der Speicherung von Windenergie oder die Entwicklung einer alternativen Antriebstechnologie im Kfz-Bereich? An den falsch formulierten Prompts wird es sicher nicht liegen. Innovationen setzen zunächst immer inner- und zwischenmenschliche Reflexion voraus, tiefes und langsames Denken. Nach Carl Gustav Jung urteilen jedoch die meisten lieber, als dass sie gründlich nachdenken, denn das geht leichter und schneller. Gewöhnlich sehen wir nur dann einen Anlass, uns eingehender mit äußeren Umständen und uns selbst zu befassen, wenn etwas nicht so läuft wie erwartet, wenn Hindernisse und Schwierigkeiten auftreten. In einer aktuellen Studie unter 442 US-Führungskräften wurden Überraschungen, Frustrationen und Misserfolge als die wichtigsten Treiber für die persönliche Weiterentwicklung identifiziert.

Selbstreflexion erfüllt mehrere Funktionen. Sie führt zu einer realistischeren Selbsteinschätzung von Führungskräften, verringert also die Kluft zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dadurch verbessern sich die Mitarbeiterzufriedenheit und das Arbeitsklima. Sie hilft Führungskräften, mit ihren inneren Zweifeln, dem Gefühl der Überforderung, Leistungszwängen, ständiger Erreichbarkeit, Technostress, unterschiedlichen generativen wie stakeholderbezogenen Anforderungen und allgemein mit den immer zahlreicher werdenden Unsicherheiten in einer komplexen und dynamischen Umwelt zurechtzukommen. 

Durch die Reflexion der eigenen Führungsrolle(n) und die Auseinandersetzung mit der Frage, was man überhaupt leisten kann und will, wie das eigene "Energiemanagement" auszugestalten ist und in welchen Bereichen man Hilfe benötigt, lassen sich Resilienz und Stressresistenz aufbauen, verbessert sich allgemein die mentale Gesundheit, die wiederum Voraussetzung dauerhafter Leistungsfähigkeit ist.

Techniken zur Verbesserung der Selbstreflexion

Um die Selbstreflexion zu steigern, lassen sich verschiedene Techniken einsetzen. Unterschieden wird allgemein zwischen lösungs- und zielorientierter Reflexion auf der einen und ziellosem Grübeln auf der anderen Seite. Letzteres hat in unserer "verwertungsbesessenen" Welt oft einen eher schlechten Ruf, vor allem dann, wenn es in überbesorgtes Gedankenkreisen mündet (overthinking). Zweckfreies, ergebnisoffenes Umherschweifen im Geiste oder Tagträumerei bergen aber auch kreative Potenziale in sich. 

Um allgemein mehr über sich selbst zu erfahren, sollten definierende Momente des eigenen Lebens retrospektiv betrachtet werden: Warum habe ich mich damals so und nicht anders entschieden? Was sagt dies über mich, meinen Charakter, meine Prägungen und Werte aus? Wie sehe ich das Ganze heute? Zur Selbstreflexion sollten speziell ruhige Momente des Tages, des Alleinseins oder auch Spaziergänge genutzt werden. Am Abend lässt sich fragen, was an diesem Tag gut lief, was weniger gut lief, woran dies lag und wo Verhaltenskorrekturen vorgenommen werden können. Eigene Ideen, Beobachtungen und emotionale Reaktionsweisen im betrieblichen Alltag sind am besten in einem Notizheft schriftlich festzuhalten (journaling), um speziell aufwühlende Ereignisse zu einem späteren Zeitpunkt nochmals Revue passieren zu lassen und überdenken zu können. 

Das eigene Führungsverhalten kann aber auch im Lichte prägender – ob realer oder imaginärer – Vorbilder, Bücher oder Filme, die als geistige Anregung dienen, betrachtet werden. Die reflektierende Person sollte hierbei nicht zu selbstkritisch sein, sondern sich auch in einem positiven Sinne fragen, welche Aspekte sie an sich mag, über welche Fähigkeiten sie verfügt oder in welchen Feldern sie häufig um Hilfe gebeten wird.

Literaturtipps

  • Alvesson, M., Blom, M. & Sveningsson, S. (2017). Reflexive Leadership. Organising in an imperfect world. London: Sage.
  • Bailey, J. R. & Rehman, S. (2022). Don’t underestimate the power of self-reflection. Harvard Business Review.
  • Busch, M. W. & Groß, M. (2023). Erhöhung der Selbstreflexion von Führungskräften. Über eine unmögliche Notwendigkeit. Universitas, 78 (11), 5-36.
  • Janssen, B./Grün, A. (2017). Stark in stürmischen Zeiten. Die Kunst, sich selbst und andere zu führen. München: Ariston.

Hilfe von außen beim Reflexionsprozess

Neben diesen individuell durchgeführten Techniken kann ebenso die Hilfe anderer Personen in Anspruch genommen werden, ob innerbetrieblich (durch Mentoren, Kolleginnen und Kollegen) oder außerbetrieblich (Coaching, Gespräche mit dem Partner, mit befreundeten Menschen). Auch an Achtsamkeits- und Meditationsübungen ist schließlich zu denken. Selbstbespiegelung allein reicht nicht aus, wir brauchen zusätzlich die ehrliche Rückmeldung aus der Umwelt, um uns ganzheitlich und sozial verantwortlich weiterzuentwickeln.

Bei aller Sinnhaftigkeit eingesetzter Techniken: Das Wichtigste ist, dass Selbstreflexion als eigenständige Aufgabe anerkannt und Zeit hierfür aufgebracht wird. Die Zeit (um zum Beispiel echte Dialoge zu führen, aufmerksam zuzuhören oder gründlich in sich hineinzuhorchen) ist sicherlich die größte Herausforderung, da diese seit jeher die knappste Ressource im Führungsalltag bildet. Daneben spielt die Überwindung, sich selbst zu hinterfragen, eine Rolle. Die Betrachtung und der Ausbau eigener Stärken dürfte jedem willkommen sein, die Thematisierung eigener Schwächen hingegen weniger, denn Selbstzweifel vertragen sich nicht mit dem eigenen Selbstverständnis, dem ausgeprägten Selbstbewusstsein. 

Kompetenzlücken schließen

Auch die Umwelt erwartet von Führungskräften Selbstsicherheit, klare Vorstellungen, wirksame Kommunikation und dominantes Auftreten (leadership prototypes). Bei der Selbstreflexion geht es auch gar nicht darum, Schwächen (es sei denn charakterliche) zu beseitigen, sondern darum, die eigenen blinden Flecken im Fachlichen und Zwischenmenschlichen zu (er)kennen, um diese Kompetenzlücken im Sinne des Teamgedankens mit entsprechend kompetenten Wissensträgern zu schließen. 

Die Identifikation eigener Schwächen und die Suche nach fremden Stärken, die eben diese Schwächen ausgleichen können, ist letzten Endes nichts anderes als die praktische Umsetzung des Arbeitsteilungsgedankens. Dieser bildet die Grundlage jedes organisationalen Erfolgs. Sein Ursprung aber liegt in individuellen und kollektiven Reflexionsprozessen, in der gezielten Nutzung der menschlichen grauen Zellen.