Eine türkische Wissenschaftler hält vor einer Gruppe von Menschen im Freien einen Vortrag
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"Academics for Peace"-Bewegung
Eine Unterschrift und ihre Folgen

Kritiker der türkischen Politik unter Präsident Erdoğan haben einen Friedensaufruf unterschrieben. Damit gefährden sie ihre Freiheit und ihre Rechte.

Von Dilek Dizdar Ausgabe 5/17

Unter den unzähligen Kommentaren, die in den sozialen Medien in den vergangenen Tagen unter den regierungskritischen Türken herumgereicht wurden, war ein kurzer Text, der die Gemüter besonders bewegte. Er beschrieb ein Szenario über die weitere Entwicklung im Land. "Die Veränderung wird nicht, wie man denkt, abrupt stattfinden“, heißt es dort, „sondern langsam und graduell, geradezu unmerklich".

Während heute noch Frauen mit kurzen Shorts auf den Flaniermeilen Istanbuls und Izmirs zu sehen seien, würden in fünf Jahren die meisten sagen, sie hätten ohnehin nicht vorgehabt, Shorts zu tragen. Alkohol werde nicht sofort verboten werden, aber die Lizenzen für den Ausschank würden allmählich ablaufen, die Alkoholsteuer werde steigen. Und Alkohol ist ohnehin schlecht für die Gesundheit und das soziale Miteinander. Der Rechtsstaat? Man werde sich an seine Abwesenheit gewöhnen, wenn man sieht, wie jene behandelt werden, die nicht bereit sind, sich daran zu gewöhnen. Die Kinder würden bald nicht mehr wissen, wie es ist, frei zu denken und zu leben.

Das Grausen, das der Kommentar hervorgerufen hat, liegt darin begründet, dass das Eintreten des dort geschilderten Szenarios als realistisch und äußerst wahrscheinlich wahrgenommen wird – anders als es noch vor einigen Jahren der Fall gewesen wäre. Die Bedrohung bezieht sich nicht auf eine akute und sichtbare Gefahr, sondern auf einen schleichenden Prozess, durch die Repression und Zensur in dem Maße internalisiert werden, dass sie zu einer Trübung der Sicht, zu Betäubung führen und damit eine Reaktion – einen Widerstand – unmöglich machen.

Dieser Prozess steht aber nicht erst bevor, sondern ist längst in Gang; er markiert durch eigene Meilensteine die Errungenschaften des Regimes. Ein solcher Meilenstein ist zweifellos das Referendum, das die de facto bestehende autoritäre Herrschaft des Staatspräsidenten Erdoğan de jure besiegelt. Dass dessen Legitimität allein schon durch die Unterdrückung der Oppositionellen im Vorfeld und der Angriffe auf jene, die für ein "Nein" Werbung machen wollten, in Frage steht, interessiert lediglich im Kontext eines demokratischen Rechtsstaates.

Dieser wurde aber, wie bereits erwähnt, kontinuierlich außer Kraft gesetzt. Anfangs verlief der Prozess subtil und war für Außenstehende kaum sichtbar, so dass etwa der Westen die Entwicklung nicht wahrnahm und sich auf die augenscheinlich blühende Wirtschaft konzentrierte. Ereignisse wie der Putschversuch im Juli 2016, die Festnahme des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel oder der Skandal um die zurückgewiesenen Minister, die für den Wahlkampf nach Europa kamen, sind hingegen nicht zu übersehen, und nur sie haben Nachrichtenwert.

Kritische Berichte und Be­schwer­den interessieren Erdoğan nur, insofern er sie für seine Zwecke nutzen kann. Wie die Vorgehensweise vor und während der Volksabstimmung gezeigt hat, bei der während der Auszählung die Regeln geändert wurden, um nicht offiziell abgestempelte Wahlzettel mitzuzählen, hat es das Regime heute auch längst nicht mehr nötig, subtil zu agieren.

Protestbewegung: "Academics for Peace"

Bei aller überragender Deutungsmacht hat sich gegen dieses Entdemokratisierungsprojekt auch ein starker Widerstand gebildet. Die "mutigen Türken", wie sie in der deutschen Presse mitunter genannt wurden, haben trotz der Umstände mehrheitlich gegen die Verfassungsänderung gestimmt und gehen nun täglich auf die Straße, um den Wahlbetrug anzuprangern. Es braucht heute viel, um in der Türkei mutig zu sein und doch ganz wenig. Mutig ist heute jeder in der Türkei, der Kritik äußert, oppositionelle Aktionen vorantreibt, oder einfach Frieden fordert und sich für die Grundrechte und Freiheiten einsetzt.

Zu den besonders "mutigen Türken" gehören die rund 2.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Januar 2016 einen Friedensappell unterzeichnet haben, in dem sie die Militäroffensive im kurdisch geprägten Gebiet der Türkei scharf kritisierten. Über die unmittelbaren Folgen des Appells hatte ich bereits im letzten Jahr in Forschung & Lehre (s. 2/16, S. 126ff.) berichtet. Wenn die Wirkungsmacht eines Ereignisses an den Reaktionen und Folgen gemessen wird, dann ist der Friedensappell als ein Meilenstein im Prozess des demokratischen Widerstands zu betrachten.

Während andere Petitionen und offenen Briefe wenig Aufmerksamkeit erregten, hatten diese Unterschriften Folgen, die kaum eine(r) der Unterzeichnenden hätte absehen können. Sie wurden von Erdoğan wüst beschimpft, zu Terroristen und Pseudowissenschaftlern erklärt und als Landesverräter den Ultranationalisten als Zielscheibe präsentiert. Zahlreiche Universitäten beeilten sich, Disziplinarverfahren einzuleiten, die Unterzeichnenden zu suspendieren, in Frühpension zu schicken oder die Verträge aufzulösen.

An den Stiftungsuniversitäten ging dies schneller als an den staatlichen, wo die meisten Kolleginnen und Kollegen einen Beamtenstatus hatten. Die Academics for Peace wurden aufgefordert, ihre Unterschriften zurückzuziehen, und jene, die den Deal eingegangen sind, konnten tatsächlich weiterarbeiten. Die Anzahl derer, die ihre Unterschrift zurückgezogen hat, ist jedoch verschwindend gering. Fast alle Unterzeichnenden haben ihre Forderung nach Beginn der Repressionen mehrfach wiederholt.

Vier Kolleginnen und Kollegen, Dr. Esra Mungan, Dr. Meral Camcı, Dr. Kıvanç Ersoy und Dr. Muzaffer Kaya, verbrachten mehrere Wochen in Haft, weil sie eine den ursprünglichen Appell bekräftigende Pressemitteilung im Namen der Gruppe verlesen hatten. Andere waren Drohungen und Beschimpfungen ausgesetzt, wurden gemobbt und/oder entlassen. Mit der Inhaftierung der vier Unterzeichner stieg der Widerstand. Bereits davor hatten sich entlassene Kollegen in den Großstädten zusammengetan, um in Parkanlagen und auf offener Straße Vorlesungen und Diskussionsrunden abzuhalten. ‚Die "Campuslosen", wie sich eine der Gruppen nennt, demonstrieren so performativ ihre Insistenz auf der Freiheit von Forschung und Lehre.

Wissenschaftler übernahmen plötzlich eine ganz andere Rolle als die, für die sie berufen waren: Sie wurden zu wichtigen politischen Akteuren des Widerstands. Die meisten unter ihnen hatten aus ethischen Beweggründen und aufgrund einer so empfundenen soziopolitischen Verantwortung heraus den Appell unterzeichnet. Die meisten waren nicht Mitglied einer organisierten Partei oder Gruppe, sie hatten zum Teil ganz unterschiedliche politische Ansichten. Gemeinsam war ihnen, dass sie Frieden forderten und sich gegen die militärische Gewalt wehrten, die gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt wurde.

Mit der Zunahme der Repressionen nahmen auch Widerstand und Solidarität zu. Es formierten sich weitere Gruppen innerhalb und parallel zur Academics for Peace-Bewegung. Film- und Literaturpreise wurden den Kolleginnen und Kollegen gewidmet, Berufsorganisationen und NGOs bekundeten Solidarität, und die Gruppe selbst bekam den Aachener Friedenspreis 2016. Dies wiederum führte zu noch größerer Hetze und Unterdrückung. Der Putschversuch, dessen Hintergründe ungeklärt sind, war ein von Erdoğan vermutlich inszeniertes, sicher aber ausgenutztes Ereignis auf dem Weg zur Alleinherrschaft.

Er machte es möglich, die Anhänger der Gülen-Bewegung, die die wichtigste Komplizin im Aufstieg der AKP gewesen ist, endgültig auszuschalten und konsequent zu verfolgen. Im Bildungswesen tätige Gülenisten sollten nun auch entlassen werden. Wer von den mit diesem Vorwurf entlassenen Kollegen tatsächlich Gülen-Anhänger ist, kann kaum jemand sagen. Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen den Peace Academics und den anderen betroffenen Kollegen. Erstere haben sich durch eine Unterschrift zu ihrer Überzeugung bekannt; ein Blick in die öffentlich zugänglichen Listen genügt, um festzustellen, ob sie dazu gehören.

Bei den Gülenisten ist das Gegenteil der Fall; sie sind überwiegend verdeckt tätig, und niemand weiß, wer tatsächlich dazu gehört. Den Putschversuch hat die Regierung dazu genutzt, diese Gruppen durcheinanderzubringen. Beide seien Terroristen, beide agierten gegen den Staat, alle sollten entlassen und bestraft werden. Für die Academics for Peace, von denen nach dem Putschversuch viele weitere entlassen wurden, kam so ein zusätzliches Problem hinzu. Sie wurden mit den Gülenisten, die zuvor auf der Seite des Staates waren und die die demokratischen und säkularen Kräfte an den Universitäten all die Jahre bekämpft hatten, in einen Topf geworfen.

Der Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch andauert und nach der Volksabstimmung erneut verlängert wurde, erlaubt es Erdoğan, per Erlass zu regieren. Mit den Dekreten wurden seitdem 314 Academics for Peace entlassen. In vielen Fällen wird die Entlassung von einem Ausreiseverbot bzw. einer Annulierung des Reisepasses sowie der Streichung der Pensionsrechte und Sozialleistungen begleitet. Der zuletzt im April 2017 aktualisierte Bericht der Academics for Peace über Rechtsverletzungen gegen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner führt insgesamt 492 Diziplinarverfahren und 399 Fälle auf, in denen Kollegen entlassen, zur Kündigung oder frühen Pensionierung gezwungen wurden.

Neue Exilgemeinschaft

Was machen Wissenschaftler, denen die Existenzgrundlage entzogen wird? Der Verwaltungswissenschaftler Dr. Meh­met Fatih Tıra, dessen Vertrag an der Çukurova Universität aufgrund seiner Unterschrift unter dem Friedensappell nicht verlängert wurde, bewarb sich an mehreren anderen Universitäten, bis er erkannte, dass er keine Chance auf eine Anstellung mehr hatte. Die Verzweiflung trieb ihn in den Freitod.

Kollegen, mit denen ich in direktem Kontakt stehe, melden, dass ihre Anträge auf Ausstellung neuer Pässe nach dem Referendum gerade wieder abgelehnt wurden, und sie fürchten, dass die Repressionen nun weiter zunehmen. Dennoch ist die Kraft, die die Kolleginnen und Kollegen aus dem Widerstand schöpfen, enorm. Die Campuslosen, die sich zunehmend unter dem Dach der 'Solidaritätsakademien' zusammentun, bieten unentgeltlich Vorlesungen und Workshops an, zu denen auch ihre ehemaligen Studierenden aus den Unis kommen. Damit weiten sie den Raum der universitären Lehre aus, stehen mit ausländischen Kollegen in Verbindung, die das Netzwerk unterstützen.

Von den Wissenschaftlern, die es geschafft haben, ins Ausland auszureisen, befinden sich nun einige in Deutschland. Gemeinsam mit den Journalisten, Künstlern, Gewerkschaftlern und oppositionellen Politikern, von denen ebenfalls nun viele in Deutschland sind, bilden sie eine neue Exilgemeinschaft, die sich von der Gruppe der Türken unterscheidet, die sich aus ökonomischen Gründen seit den 1960er Jahren hier angesiedelt haben.

Nach einem Bericht von Volkan Ağır und İbrahim Karcı aus der Gruppe der "arbeitslosen Journalisten", die nun aus Berlin für das Nachrichtenportal bianet berichten, betrug im März 2016 die Anzahl der türkischen Staatsbürger in Deutschland, die eine Aufenthaltserlaubnis von einem bis vier Jahren hatten, 37.729. Sie schließen daraus auf eine Exil- bzw. Migrationsbewegung, die um die Zeit der Gezi-Park-Proteste begonnen hat.

Unterstützung in Deutschland

Bei diesen "Frustrationsmigranten", wie sie die Autoren nennen, handelt es sich vor allem um kritische und intellektuelle Menschen, die auch eine Chance für die deutsche Gesellschaft sein könnten. Ähnliches gilt für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen derzeit viele nach Möglichkeiten suchen, an deutschen Universitäten zu arbeiten. Die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung fördert Universitäten, die Strukturen schaffen, um gefährdete Wissenschaftler aufzunehmen – jetzt schon in der dritten Runde.

Auch einige andere Stiftungen bieten Sonderprogramme an, wie etwa die Rosa Luxemburg-Stiftung. Dennoch ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Einzelne Universitäten und Fachbereiche können und sollten selbst auch aktiv werden. Einige, wie die Universität Göttingen, stellen bereits Möglichkeiten für Kollegen und Kurzzeitstellen für Doktoranden zur Verfügung, um gefährdete Kollegen in der Anfangs- und Orientierungsphase zu unterstützen.

Wichtig wäre es nun, die Kompetenzen thematisch zu bündeln. Es bieten sich neue Möglichkeiten für Forschungsschwerpunkte an, besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften, durch die aus der Türkei und aus anderen Orten der Gefährdung, wie Syrien, kommende Kolleginnen und Kollegen die deutsche Wissenschaftslandschaft mit ihrer Forschung bereichern und zur Internationalisierung beitragen könnten. Es gilt hier, zunächst möglichst schnell zu reagieren und mittelfristig Konzepte auszuarbeiten, die Synergien schaffen und von denen beide Seiten profitieren können.

Konkret haben in Deutschland tätige Professoren folgende Möglichkeiten, Unterstützung zu leisten: 1. Doktoranden aufnehmen, die verfolgt werden (nur mit einer Betreuungszusage ­können sie Stipendien beantragen und eine Aufenthaltserlaubnis bekommen);

2. Als Mentor(in) einen Antrag bei der Philipp Schwartz-Initiative und ähnlichen Programmen/Einrichtungen anstoßen, die gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen;

3. sich mit den Kollegen solidarisieren und vernetzen und im Rahmen einzelner Projekte und Veranstaltungen kooperieren;

4. an der eigenen Institution die Diskussion über universitäts- und fakultätsinterne Möglichkeiten anregen, um etwa Vertretungsstellen oder Fellowships zur Verfügung zu stellen und

5. die Kollegen, die nicht ausreisen können, durch eine Teilnahme am Netzwerk der Solidaritätsakademien oder durch Spenden an den Solidaritätsfonds, über den in Härtefällen ein Mindesteinkommen gewährleistet werden soll, unterstützen.