Dr. Magdalena Skipper
Nature/Ian Alderman

Wissenschaftliche Fachzeitschriften
"Forschung sollte nicht am Impact Factor bemessen werden"

"Nature" feiert 150-jähriges Jubiläum. Ein Gespräch über eine der renommiertesten Fachzeitschriften mit Chefredakteurin Dr. Magdalena Skipper.

Von Katrin Schmermund 31.10.2019

Forschung & Lehre: Frau Skipper, stellen Sie sich vor, Sie gehen durch die Stadt und schnappen ein Gespräch über "Nature" auf: Was wollen Sie hören?

Magdalena Skipper: Sind es Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler, freue ich mich, wenn sie darüber sprechen, dass sie in "Nature" von einer faszinierenden Entdeckung gelesen haben, die für sie relevant ist. Das kann eine Studie sein, die ihre eigene Forschung um einen Blickwinkel erweitert hat oder sie zu neuen Kooperationen mit den beteiligten Autorinnen und Autoren anregt. Vielleicht ist es auch eine Arbeit, die außerhalb ihres eigenen Forschungsbereichs liegt, diesen aber dennoch tangiert und ihnen interessante ergänzende Informationen liefert, oder es sind Erkenntnisse, über die sie aus rein intellektuellen Gründen lesen. Wenn es keine Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler sind, die auf der Straße über uns sprechen, ist es ein wichtiges Kompliment, dass sie uns kennen. Ich würde gerne hören, dass sie über eine wissenschaftliche Entdeckung gut informiert sind, vielleicht über eine Kontroverse oder über eine offene Frage. Gerade im heutigen gesellschaftspolitischen Klima ist mir das wichtig. Es schwirren so viele falsche Informationen in der Welt herum. Bei den einen kommt der Faktencheck zu kurz, andere setzen bewusst Falschinformationen in die Welt. Da wollen wir gegenhalten.

F&L: Wie wichtig ist die Zielgruppe "Öffentlichkeit" für Sie?

Magdalena Skipper: Die wissenschaftliche Community ist ganz klar unsere primäre Zielgruppe. Trotzdem haben wir auch die Öffentlichkeit immer im Blick. Vielen ist nicht bewusst, dass "Nature" bei seiner Gründung 1869 tatsächlich zunächst als Plattform gedacht war, über die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Entdeckungen der Öffentlichkeit bekanntmachen können. Die Forschenden mochten das damals vergleichsweise kurze Format von "Nature" und die Schnelligkeit der Veröffentlichung. Sie haben die Zeitschrift daher für ihre eigenen Zwecke genutzt, um sich untereinander auszutauschen. Die damaligen Verleger und Editors von "Nature" haben das zugelassen – zum Glück. Heute ist es das Kerngeschäft unserer Arbeit. Ergänzend zu den wissenschaftlichen Inhalten, die "Nature" veröffentlicht, gibt es auch "Magazin"-Inhalte, die sich nicht nur an Forschende, sondern auch an die breite Öffentlichkeit richten. In Nachrichten und Kommentaren berichten wir, was in der Wissenschaft passiert, und greifen aktuell debattierte Themen auf – sowohl gesellschaftlich relevante als auch solche mit konkretem Bezug zur Wissenschaft. Aktuell berichten wir also beispielsweise immer wieder über Wissenschaftsfreiheit, Chancengleichheit, Mobbing oder sexualisierte Belästigung. Natürlich erreichen wir vor allem diejenigen, die ohnehin wissenschaftlich interessiert sind. Andere kennen uns zum Beispiel, weil sie in der Zeitung von Forschungsergebnissen  lesen, die "Nature" veröffentlicht hat.

"Bei der Auswahl wissenschaftlicher Studien orientieren wir uns nicht an 'Trendthemen'".

F&L: Welche Rolle spielt Aktualität bei der Auswahl der wissenschaftlichen Artikel?

Magdalena Skipper: Bei der Auswahl wissenschaftlicher Studien orientieren wir uns nicht an "Trendthemen", also Themen, die aktuell in der Öffentlichkeit stehen. Wir wählen nach den Grundsätzen von Exzellenz, der Eleganz von Wissenschaft und dem potenziellen Einfluss der Entdeckungen aus.

F&L: Der potenzielle Einfluss von Entdeckungen spielt insbesondere in der anwendungsorientierten Forschung eine wichtige Rolle. "Eleganz" macht negative Forschungsergebnisse uninteressant. Kommt die risikoreiche Forschung damit auch in "Nature" zu kurz?

Magdalena Skipper: Die Zahl der anwendungsorientierten Studien hat definitiv zugenommen, geht in "Nature" aber nicht zulasten der Veröffentlichung von Grundlagenforschung.

F&L: Was hat sich an den Artikeln über die Jahre verändert?

Magdalena Skipper: In den Anfangsjahren haben wir sehr kurze Artikel publiziert. Das wäre heute so nicht mehr denkbar. Natürlich haben sich die Beiträge beispielsweise von Zeitungsartikeln unterschieden, aber sie enthielten wenige Details über Methode und Vorgehen. Sie waren ergebnisorientiert. Der wohl berühmteste von uns veröffentlichte Artikel war 1953 der von James Watson und Francis Crick über die Doppelhelix-Struktur der DNA, der letztlich die Grundlage für die weitere Genforschung und Techniken wie CRISPR bildete. Der Beitrag passt mit einer kleinen Skizze auf eine Seite in zwei Spalten. Er enthielt keinerlei Details zur Studie. Diese waren zwar in anderen Artikeln enthalten, aber der erste Artikel war es, der tausendfach zitiert und bekannt wurde. Heute enthalten Artikel nicht nur einen ausführlichen Theorie- und Methodenteil, sie werden auch mit einem umfangreichen Pool an Daten eingereicht. Andere Forscherinnen und Forscher können auf Datenbanken zur Studie zugreifen, eventuell auch auf den Auswertungsschlüssel. Forschung kann dank der technologischen Entwicklung heute viel besser reproduziert werden und so als Grundlage für weitere Entdeckungen dienen. Auch hat die Zahl der beteiligten Autorinnen und Autoren stark zugenommen. Waren es anfangs noch ein oder zwei Autoren, sind es heute oft hunderte.

Ausschnitt einer Seite aus der ersten Ausgabe von "Nature"
Die erste Ausgabe von Nature erschien am 4. November 1869. Sie wurde vom englischen Physiker Joseph Norman Lockyer herausgegeben und erschien beim Verlag Macmillan. Nature

F&L: Eine Folge des Drucks auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, möglichst viel zu publizieren?

Magdalena Skipper: Die zunehmende Anzahl von Autorinnen und Autoren ist zunächst nicht überraschend, weil Forschung immer komplexer wird und immer mehr Daten im Spiel sind. Für alle Aspekte braucht es die jeweiligen Experten. Wir appellieren daher manchmal an die "Corresponding Authors" einer Studie zu bewerten, wer am Anfang der Studie und wer in der Danksagung genannt wird. Wir können als Herausgeber nicht bewerten, wie groß der Beitrag der Einzelnen war. Davon unabhängig muss in der Wissenschaft aber durchaus wieder weniger die Quantität und stärker die Qualität zählen. Die Leistung eines Forschers oder einer Forscherin sollte sicherlich nicht an der Zahl der Artikel bemessen werden, auch nicht an dem Impact Factor einer Zeitschrift, in der er veröffentlicht wird. Daher haben wir auch "Dora" ("Declaration Of Research Assessment"), eine Erklärung zur Bewertung von Forschung, unterzeichnet.

F&L: Bei "Nature" profitieren sie auch selbst vom Impact Factor…

Magdalena Skipper: Ein Teil unserer Reputation hängt mit dem Impact Factor zusammen, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Unsere Anerkennung basiert auf unserem Ruf für eine strenge Beurteilung der Arbeiten, die wir veröffentlichen, auf unserem Service für Autorinnen und Autoren im Laufe des Veröffentlichungsprozesses sowie auf dem kritischen und preisgekrönten Journalismus, den wir veröffentlichen. Anfangs war unser Impact Factor gar nicht so hoch wie heute und trotzdem wuchsen unser Ruf und unsere Bekanntheit.

"Die ganze Community muss zusammen daran arbeiten, Fehler zu vermeiden, und, falls schon geschehen, zu korrigieren."

F&L: Auf den Tischen Ihres Teams landen verbunden mit dem Publikationsdruck immer mehr Manuskripte. Wie wollen Sie den Qualitätsstandard in der Auswahl sichern?

Magdalena Skipper: Unser Team erfahrener Editors arbeitet daran, die Manuskripte auf Qualität und Relevanz zu bewerten. Sie alle kommen ursprünglich aus der Forschung und werden den eingereichten Artikeln entsprechend zugeordnet. Ich selbst habe über die Genetik promoviert und geforscht und im Anschluss einige Jahre als Editor für diesen Bereich bei "Nature" gearbeitet. Keine Entscheidung über einen Artikel wird jedoch nur von einer Person getroffen. Das liegt auch daran, dass Forschung immer interdisziplinärer wird und wir über die Jahre die Fachbereiche, die "Nature" abdeckt, stärker ausgeweitet haben. Haben wir uns anfangs noch rein auf die Naturwissenschaften konzentriert, reichen die Beiträge heute in verschiedene Bereiche der angewandten Forschung und der Gesellschaftswissenschaften hinein. Eine genaue Prüfung und konstruktive Kritik ist sowohl im Interesse der Autorinnen und Autoren, deren Name über der Veröffentlichung steht, als auch in unserem, weil wir ihre Arbeit veröffentlichen. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für das Ergebnis.

F&L: Trotzdem kommt es immer wieder zu Fehlern. Warum?

Magdalena Skipper: Fehler passieren immer wieder. Ich glaube nicht, dass es irgendwo ein System gibt, in dem keine Fehler passieren. Aber wir arbeiten hart daran, sie zu vermeiden. Daher dauert die Begutachtung der Artikel auch so lange. Fehler können schnell geschehen – egal, ob unbewusst oder bewusst. Manchmal sind sie kaum zu erkennen. Wir haben zum Beispiel ein Manuskript veröffentlicht, dessen Daten nicht geeignet waren, den dargestellten Sachverhalt zu stützen. Nach außen könnte das wie ein Betrug der Autorinnen und Autoren wirken. Diese aber haben sich bei uns gemeldet und wollten das Paper zurückziehen. Sie haben ihre Versuche mit dem richtigen Daten-Set nochmals durchgeführt und die korrekte Fassung eingereicht. Wir haben den alten Beitrag dann zu der neuen, eingehend geprüften Version verlinkt. Es ist ein laufender Prozess: Die ganze Community muss zusammen daran arbeiten, Fehler zu vermeiden, und, falls schon geschehen, zu korrigieren.

F&L: Sie sprechen sich deutlich für "Open Science" aus. Was wollen Sie diesbezüglich bei "Nature" in Angriff nehmen?

Magdalena Skipper: "Open Science", die offene Forschung, finde ich extrem wichtig. Auch der Verlag Springer Nature, in dem "Nature" heute erscheint, ist stark daran interessiert und hat "Open Science" seit vielen Jahren vorangetrieben. Mit der Veröffentlichung über "Open Access" ist es dabei nicht getan. Zu Open Science gehört mehr: die Offenlegung der Daten, der Methodik. Damit andere an veröffentlichten Forschungsergebnissen ansetzen können, müssen sie über die Vorgehensweise Bescheid wissen. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler profitieren davon, wenn andere mit ihren Forschungsergebnissen weiterarbeiten können. In vielen Disziplinen, die schon sehr leicht auf freie und umfangreiche Datenbanken zurückgreifen können, machen wir "Open Science" zur Bedingung einer Veröffentlichung in "Nature", zum Beispiel in der Genetik. Eine Ausnahme ist der Schutz persönlicher Daten, aber durch Anonymisierung ist vieles möglich. Reichen Autorinnen und Autoren eine Erklärung ein, die Daten nur auf Anfrage herausgeben zu können, fragen wir nach, warum, diese nicht anonymisiert zur Verfügung gestellt werden können. Wir wollen der Community dabei helfen, sich in die richtige Richtung zu entwickeln.

F&L: Das Geschäftsmodell von Springer Nature beruht auf der Veröffentlichung von Studien hinter Bezahlschranken. Für "Open Access" wollen sich die Verlage bezahlen lassen. Die Höhe der Gebühren ist umstritten. Haben Sie Sorge, dass sich immer mehr Forschungseinrichtungen den Zugriff auf "Nature" nicht mehr leisten können?

Magdalena Skipper: Springer Nature ist bei der Veröffentlichung über "Open Access" unter den Verlagen vorne mit dabei. In der Tat sind damit komplexe Geschäftsentscheidungen verbunden, aber der Verlag bringt sich in damit zusammenhängende Diskussionen aktiv ein für ein Ergebnis im Interesse von Wissenschaftlern, Verlagen und Öffentlichkeit – auf europäischer Ebene etwa mit Blick auf "Plan S".

F&L: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Skipper.