Die Wissenschaftler Peter C. Doherty, Michael Levitt und Saul Perlmutter
Lindau Nobel Laureate Meetings

Nobelpreisträger
Hitzige Debatte über Rolle der Wissenschaft in Corona-Pandemie

Die Lindauer Nobelpreisträgertagung fand in diesem Jahr virtuell statt. Mehr als 40 Stunden Debatte können online nachgeschaut werden.

07.07.2020

Die "Open Science Days" haben in diesem Jahr die Lindauer Nobelpreisträgertagung ersetzt. Rund 40 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger diskutierten wegen der Corona-Pandemie virtuell untereinander und mit mehr als 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, wie aus einer Mitteilung hervorgeht. Auf der Agenda standen sowohl gesellschaftliche Herausforderungen als auch die Stärken und Schwächen des Wissenschaftssystems.

In der Auftaktdebatte zu Corona und der Rolle der Wissenschaft in Krisenzeiten kam es direkt zu einer kontroversen Diskussion. Nachdem die Teilnehmenden zunächst über den Austausch zwischen Politik und Wissenschaft gesprochen hatten – auf der einen Seite die Politik, die klare Aussagen suche, um ihr Handeln gegenüber der Bevölkerung zu begründen, auf der anderen Seite die Wissenschaft, die mit Wahrscheinlichkeiten arbeite und ihre Erkenntnisse immer wieder überprüfe und wo notwendig korrigiere – teilte Biophysiker und Chemie-Nobelpreisträger 2013, Professor Michael Levitt, ordentlich in Richtung Wissenschaft aus.

In seinen Augen habe diese nicht nur versagt, schnelle und gute Antworten auf die Corona-Pandemie zu finden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten sich auch unkollegial und unprofessionell verhalten. "Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beharren auf Fachberichten, niemand will seine Ergebnisse teilen, Forschende sind panischer als irgendwer sonst", sagte Levitt. Insbesondere die Empfehlungen von Epidemiologen hätten für einen riesigen Schaden gesorgt, der vor allem jüngere Generationen treffe. Mit seiner Kritik an den weltweiten Lock-Downs hatte Levitt erfolglos für breite Unterstützung geworben.

Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen überprüfen

"Menschen mögen nun mal keine Menschen um sich herum sterben sehen. Es macht sie aus sehr seltsamen Gründen traurig", hielt Professor Peter Doherty, Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin im Jahr 1996, sarkastisch dagegen. Die Aufgabe von Wissenschaftlern wie ihm sei nun mal, dafür zu sorgen, dass so wenige Menschen wie möglich sterben würden.

Postdoc Dr. Enrique Lin Shiao verwies auf die vielen Unsicherheiten bei der Eindämmung des Coronavirus. Solange es keinen Impfstoff und Medikamente gegen das Virus gebe, sei es richtig, an den Sicherheitsvorkehrungen festzuhalten.

Der dritte Nobelpreisträger in der Runde, Professor Paul Perlmutter, 2011 ausgezeichnet in Physik, sagte beschwichtigend, es gebe in der Corona-Pandemie sicherlich beide Seiten: diejenigen, die anregende Erfahrungen in der gemeinsamen Erforschung des Virus gemacht hätten und diejenigen mit frustrierenden Erlebnissen. Er halte es für die Forschung in den kommenden Monaten insbesondere für wichtig, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Rückmeldung erhielten, welche Einschätzungen sich als zielführend erwiesen hätten und welche nicht. Nur so könnten Annahmen überprüft werden.

Doktorandin und Mikrobiologin Alice Fletcher-Etherington von der Universität Cambridge sowie Postdoc Lin Shiao betonten außerdem, dass gerade in Zeiten digitaler Zusammenarbeit noch stärker darauf geachtet werden müsse, für Gleichstellung und Diversität in der Wissenschaft zu sorgen. Nur wenn die tatsächlichen Lebensumstände der Menschen bedacht würden, könnten sie auch von Strategien zur Eindämmung der Pandemie profitieren.

Mehr als 40 Stunden an Debatten kamen laut Mitteilung aus Lindau insgesamt zusammen. Das Kuratorium zeigte sich mit ihrem Ersatzprogramm für die normalerweise am Bodensee stattfindende Tagung zufrieden. "Mit dem digital-virtuellen Format haben wir – neben den vielen diskutierten Inhalten – die Chance in Sachen Reichweite genutzt", sagte Kuratoriums-Präsidentin Bettina Gräfin Bernadotte. Den Austausch vor Ort könne das jedoch nicht ersetzen: "Uns kommt es aber weiterhin vor allem auf die Qualität des wissenschaftlichen Austauschs an. Und so wünschen wir uns in Lindau nichts mehr, unabhängig vom diesjährigen Erfolg, als dass die Tagungen 2021 wie geplant stattfinden können."

Die Lindauer Nobelpreisträgertagung hätte in diesem Jahr zum 70. Mal stattgefunden. Dieser Anlass soll im kommenden Jahr nachgeholt werden. Die Einladungen für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler sind weiterhin gültig. Kuratoriums-Präsidentin Bernadotte hatte mit Blick auf das virtuelle Tagungsformat im Vorfeld von einem "historischen Einschnitt" in der "Lindauer Tradition" gesprochen.

kas