Rednerpult im Europäischen Parlament
picture alliance/Ulrich Baumgarten

Europa hat gewählt
Hochschulexperte setzt auf laute Pro-Europäer

Die Europawahlen haben die Sitze im Europäischen Parlament neu verteilt. Ein Blick auf die Zukunft der EU-Forschungspolitik.

Von Katrin Schmermund 29.05.2019

Die Bürgerinnen und Bürger aus den 28 EU-Staaten haben sich entschieden: In den vergangenen Tagen haben sie ihre Stimme abgegeben, welche Parteien sie im künftigen Parlament stark vertreten sehen wollen. Die Gewinner dieser Wahl sind insbesondere die Liberalen sowie die Grünen und die euroskeptischen Parteien. Größte Verlierer sind die Fraktionen der Christdemokraten und Sozialdemokraten. Zwar stellen sie immer noch die größten Fraktionen im Europäischen Parlament, doch sie verloren erstmals ihre gemeinsame Mehrheit.

Experten hatten die derben Verluste der christdemokratischen EVP und der Sozialdemokraten der S&D bereits prognostiziert, ebenso den Zuwachs der Stimmen für EU-skeptische, rechtspopulistische und nationalistische Parteien. EU-weit haben Letztere weniger Stimmen erhalten als zunächst erwartet. In einzelnen Ländern wurden sie jedoch stärkste Partei.

In Italien gewann die rechtspopulistische Lega Nord mit gut 34 Prozent. In Frankreich kam die Rassemblement National auf mehr als 23 Prozent der Stimmen. In Ungarn gewann Victor Orbans Fidesz-Partei mit etwas mehr als der Hälfte der Stimmen. Auch in Tschechien holte die rechtspopulistische Partei Anno 2011 mit rund 21 Prozent die meisten Stimmen. In Großbritannien schnitt die Brexit-Partei mit knapp 32 Prozent am besten ab.

Insgesamt kommen die EU-Skeptiker der EFDD laut vorläufigen Berechnungen des Europäischen Parlaments auf rund sieben Prozent der Sitze, ein Plus von knapp zwei Prozentpunkten. Die rechtspopulistische ENF erhält knapp acht Prozent der Sitze, ein Plus von drei Prozentpunkten.

EVP: "Einige Schwergewichte in der Forschungspolitik"

Dass die EU-skeptischen Parteien nicht noch mehr Stimmen erhalten haben, ist auch für die Wissenschaft eine gute Nachricht. Schließlich widerspricht die nationalistische Ausrichtung einiger Parteien im Parlament dem Grundsatz der grenzübergreifenden Zusammenarbeit und des Austausches zwischen vielen Forscherinnen und Forschern in der EU.

Thomas Jorgensen von der European University Association (EUA) schaut daher grundsätzlich optimistisch auf die neunte Legislaturperiode des Parlaments. "Die nationalistischen Abgeordneten bleiben eine laute Minderheit und glücklicherweise haben wir ein paar sehr laute pro-europäische Abgeordnete", sagte der Hochschulexperte gegenüber Forschung & Lehre. Er setzt unter anderem auf den niederländischen Abgeordneten der ALDE-Fraktion, Guy Verhofstadt; ein "extrovertierter EU-Enthusiast", wie Jorgensen sagte.

Mit den nationalistischen Parteien in Europa hatten zuletzt auch die Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit zugenommen. Hier sieht Jorgensen vor allem in dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Frans Timmermanns, eine starke Stimme.

Auch der deutsche Christdemokrat Christian Ehler habe sich in der Vergangenheit für die Wissenschaft starkgemacht. "Er war eine Schlüsselfigur in der Entwicklung der Forschungsprogramme "Horizon 2020", "Horizon Europa" und früheren EU-Förderungen", sagte Jorgensen.

Der politische Analyst hat außerdem im Blick den polnischen Abgeordneten Jerzy Buzek, Vorsitzender des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie (Itre), ebenso wie Maria de Graca Carvalho. Die portugiesische Abgeordnete saß bis 2014 im Parlament und gestaltet die EU-Politik ab diesem Jahr wieder mit – beide ebenfalls Christdemokraten.

"Die EVP hat als stärkste Gruppe im EP einige Schwergewichte in der Forschungspolitik", erklärte Jorgensen. Er sei gespannt, welche Abgeordneten der Liberalen und Grünen sich in Zukunft einen Namen in der Forschungspolitik machen würden. Durch die neu hinzugewonnen Stimmen in beiden Fraktionen könnten sie versuchen, neue Themen auf die Forschungsagenda zu setzen.

"Ob sie die EU mögen oder nicht – die Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass sie wichtig ist." Thomas Jorgensen

Was Politikerinnen und Politiker auf EU-Ebene entscheiden, scheint mehr Menschen als in der Vergangenheit zu interessieren. Durch Diskussionen über den Rechtsruck in der EU und öffentliche Proteste wie den "Fridays for Future" ist die EU für viele präsenter geworden. Die Wahlbeteiligung war in diesem Jahr so hoch wie lange nicht. "Ob sie die EU mögen oder nicht – die Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass sie wichtig ist", sagt Jorgensen. Die Wahl könnte eine historische Trendwende in der Aufmerksamkeit für die EU sein.

Knapp 51 Prozent der mehr als 400 Millionen Wahlberechtigten machten vom 23. bis 26. Mai bei den Europawahlen von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Zuvor war die Wahlbeteiligung von über 60 Prozent auf zuletzt 43 Prozent gesunken. 751 Sitze im Europäischen Parlament waren zu vergeben. Nach dem Austritt Großbritannien aus der Union werden es 705 Abgeordnete sein.

Im Juli wird das neue Parlament zum ersten Mal im Plenum zusammensitzen. Dann wird auch darüber abgestimmt, wer künftig an der Spitze der EU-Kommission stehen wird. Der- oder diejenige wird dann die Kommissare für die sogenannten Generaldirektionen der EU-Behörde bestimmten, unter anderem für das Politikfeld "Forschung und Innovation". Aktuell wird dieses von dem Portugiesen Carlos Moedas geleitet.