Foto des gewählten US-Präsidenten Joe Biden auf einem Smartphone vor einer US-Flagge
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US-Wahl
Kann Biden das Machtgefüge der Welt neu ordnen?

Joe Biden ist neuer US-Präsident. Was bedeutet das für Politik und Wissenschaft? Im Interview ordnet Michael Werz die US-Wahl und ihre Folgen ein.

Von Claudia Krapp 14.11.2020

Forschung & Lehre: Herr Werz, welche Reaktionen haben Sie auf die US-Wahl beobachtet?

Michael Werz: Mich haben viele Medienanfragen und private Kommentare aus der ganzen Welt erreicht. Die Erleichterung war überall zu spüren. Ich selbst habe in einem kollektiven Stoßseufzer zusammen mit 30.000 anderen Menschen vor dem Weißen Haus gefeiert. Überrascht hat mich bei all den Diskussionen das Detailwissen vieler Menschen und das große Interesse an einzelnen Wahlaspekten in den Bundesstaaten, zum Beispiel zum Prozedere der Nachwahlen oder zur Zusammensetzung der Wahlmanngremien. Das zeigt, dass die US-Wahl ein globales Ereignis ist, an dem alle partizipieren und das vielerorts einen größeren Einfluss hat als in den USA selbst.

Portraitfoto von Michael Werz
Michael Werz arbeitet am Center for American Progress, einem liberalen Think Tank in Washington DC und ist Senior Mercator Fellow sowie Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke. privat

F&L: Nach dem überraschenden Wahlsieg Trumps 2016 haben viele für die US-Wahl 2020 ein klareres Votum erwartet. Haben Sie mit dem erneut knappen Wahlausgang gerechnet?

Michael Werz: Es war sehr viel knapper als alle in den USA gedacht haben. Die Firmen der Meinungsumfragen, in denen die Demokraten mit großem Abstand geführt haben, haben durchaus aus den Fehlern von 2016 gelernt und Anpassungen vorgenommen. Offenbar haben diese aber nicht gereicht, denn die Prognosen lagen wieder schief. Bei 150 Millionen Stimmen und 50 verschiedenen Wahlgesetzten sind Vorhersagen generell schwierig, Meinungsumfragen bleiben dabei die einzige Möglichkeit. Wegen des Zwei-Parteien-Systems drückt sich die politische Vielfalt des Landes in den USA zweidimensionaler aus als in Europa.

F&L: Wird die Wahl mit einem historischen Sieg enden?

Michael Werz: Nach Auszählung aller Stimmen wird das Verhältnis im Wahlmanngremium 306 zu 231 ausgehen. Das ist dasselbe Ergebnis wie vor vier Jahren, nur seitenverkehrt. In der landesweiten Stimmenverteilung liegt Biden mit über fünf Millionen Stimmen vorne, das sind fast vier Prozent und ein deutlicher Vorsprung. Außergewöhnlich ist jedoch nicht der Ausgang, sondern die sensationelle Wahlbeteiligung: die höchste seit 120 Jahren. Auf beiden Seiten hat es eine ungeheure Mobilisierung der Wählerschaft gegeben.

"Außergewöhnlich ist nicht der Ausgang, sondern die sensationelle Wahlbeteiligung."

F&L: Wie ungewöhnlich war der Wahlkampf?

Michael Werz: Juristische Prüfungen von Wahlprozessen sind nichts Neues, in der jetzigen Form sind Trumps widersinnige und aussichtslose Klagen jedoch außergewöhnlich frivol. Traditionell werden rechtliche Prüfungen häufig von den Demokraten eingereicht, da sich die Republikaner seit geraumer Zeit in einer strukturellen Minderheit wiederfinden, da die demographische Struktur sich insgesamt zugunsten der Demokraten verändert hat. Es gibt daher die systematische Unterdrückung von Wählerstimmen, vor allem seitens der Republikaner, da diese auf Machterhalt setzen. Zum Beispiel durch den strategischen Zuschnitt der Wahlkreise, das Schließen von Wahllokalen in Minderheitsbezirken oder die willkürliche Festlegung der gültigen Identifikationsdokumente. Diese strukturellen Ungleichgewichte werden jetzt in den USA zum ersten Mal kontinuierlich diskutiert. Georgia ist in diesem Jahr zum ersten Mal seit 30 Jahren an die Demokraten gegangen, weil dort in Bürgerrechtsbewegungen aktiv gegen diese Benachteiligungen vorgegangen ist.

F&L: Wie schnell rechnen Sie mit Veränderungen des Wahlsystems?

Michael Werz: Der 2021 nach dem diesjährigen Zensus anstehende Neuordnung der Wahlbezirke in den Bundesstaaten wird viel stärker öffentlich diskutiert werden als bisher und hoffentlich zu weniger manipulativen Zuschnitten der Wahlbezirke führen. Aber jegliche Veränderung an dem nicht-repräsentativen Wahlmanngremium oder dem Senat bedarf einer Verfassungsänderung, einem sakralen Dokument der USA. Diese Reform ist sehr unwahrscheinlich, da es einer Zweidrittel-Mehrheit im Senat, im Repräsentantenhaus und unter den Gouverneuren bedarf und damit einem parteiübergreifenden Konsens, der mit den Republikanern derzeit nicht zu haben ist. Die große Sensibilisierung der Wählerschaften bei dieser Wahl lassen jedoch auf eine andauernde, tiefgreifende Debatte hoffen.

F&L: Wie hat diese Wahl die demokratischen Prozesse in den USA beeinflusst?

Michael Werz: Mein persönliches Vertrauen in die amerikanische Demokratie ist in der letzten Woche deutlich gestiegen, weil dieser heikle Wahlprozess in diesem Land mit 330 Millionen Einwohnern ohne größere Probleme stattgefunden hat. Die Einmischungen von außen, vor allem aus Russland, sind offenbar recht erfolgreich abgewehrt worden. Die Auszählungen in den Wahlbüros der Wechselwählerstaaten konnten oft per Webcams online verfolgt werden. Wahlleiter haben permanent Interviews gegeben, die Medien haben insgesamt einen beeindruckenden Job gemacht in der transparenten Dokumentation des Prozesses. Bei den Zwischenwahlen 2018 lief das noch nicht alles so reibungslos, z.B. wegen der nach den Manipulationsversuchen 2016 neu angeschafften Zählmaschinen.

F&L: Womit rechnen Sie bis zur Amtseinführung im Januar?

Michael Werz: Anders als viele Medienvertreter aus Deutschland halte ich einen Bürgerkrieg für undenkbar. Es gibt in beiden Lagern gewaltbereite Untergruppen, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß und nicht in ausreichender Dominanz für eine echte Konfrontation. Das Heimatschutzministerium hat zwar die rechtsextremistischen Milizen, die Trump unterstützen, als größte terroristische Bedrohung für die USA bezeichnet, deren mögliche gewalttätige Proteste würden sich jedoch die Mehrheit der Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, Polizeipräsidenten, Gouverneure, Justizbehörden und Sicherheitskräfte sofort hart entgegenstellen, auch die Republikaner. Das ist eine Sollbruchstelle der amerikanischen Gesellschaft, der sich niemand annähern will. Bis auf einzelne Demonstrationen in überschaubarem Rahmen rechne ich nicht mit einem gewalttätigen Verlauf der Amtsübergabe.

F&L: Können die angestrengten Gerichtsverfahren noch etwas an Bidens Sieg ändern?

Michael Werz: In allen Wechselwählerstaaten, die noch ausgezählt oder nachgezählt werden, ist die Stimmendifferenz so groß, dass die Zusammensetzung des Wahlmanngremiums sich nicht mehr ändern wird. Da müssten schon in mindestens vier Staaten massive Fehler oder Wahlbetrug um mehrere zehntausend Stimmen aufgedeckt werden und dafür gibt es absolut keine Hinweise. Selbst wenn der Streit vor dem Obersten Gerichtshof landen würde, müssten vier der Richter das Verfahren aufnehmen, was sie nach eigenen Angaben nicht vorhaben.

"Die Stimmung an den Universitäten wird sich deutlich verbessern."

F&L: Was ändert sich durch die Wahl von Joe Biden für die Wissenschaft?

Michael Werz: Joe Biden hat angekündigt, als eine der ersten Amtshandlungen Trumps Visablockade für Einwohner bestimmter muslimischer Länder zu revidieren. Auch für Wissenschaftler und Studierende wird es dadurch wieder einfach werden, in die USA zu kommen. Generell wird sich die Stimmung an den Universitäten deutlich verbessern. Innenpolitische Prioritäten Bidens werden die Corona-Pandemie und der Klimawandel sein, aber auch die Zugangschancen zu Bildung und die Kosten in der weiterführenden Bildung. Die Hochschulgebühren, die in den vergangenen Jahren rasant und unverhältnismäßig gestiegen sind, sollen sinken. Zudem wird eine grundsätzliche langfristige Diskussion möglich, wie das Hochschulwesen in den USA organisiert und finanziert werden soll. Das Verhältnis aus staatlicher und privater Finanzierung und die Folgen für die wissenschaftliche Agenda müssen neu durchdacht werden. Zudem ist es notwendig, die Steuerfreiheit der Top-Universitäten mit ihren privatwirtschaftlichen Strukturen in Frage zu stellen. In der Vergangenheit haben die USA von einem Braindrain nach Amerika profitiert und sind zu einem internationalen Knotenpunkt der Wissenschaft geworden, die aktuelle Regierung hält Minderheiten und Einwanderer von einer Teilhabe ab. Das hat zu einem enormen Reputationsverlust der USA geführt, der revidiert werden muss.

F&L: Von wem erhoffen Sie sich Unterstützung für bessere Wissenschaftsbedingungen?

Michael Werz: Unter den jüngeren Abgeordneten gibt es eine starke Lobby-Organisation für Wissenschaft und Bildung. Auch für Biden sind attraktive und erschwingliche Bildungsmöglichkeiten an staatlichen Hochschulen von Interesse, um an Trump verlorene nicht-wohlhabende Wählergruppen zurückzugewinnen. Vor allem Schülerinnen und Schüler stehen durch den Wettbewerb um Studienplätze enorm unter Druck, durch die Erfordernis permanenter Selbstvermarktung schon früh ihre Weichen für eine Hochschulbildung zu stellen. Der enorme Leistungsdruck und Wettbewerb setzt sich für Studierende an den Unis fort und läuft Gefahr, einen Konformismus nach sich zu ziehen, der mit intellektueller Selbstermächtigung und einer universitären Ausbildung der Persönlichkeit wenig zu tun hat. Diese Tendenz zur Verschulung der Universität ist auch in Europa vorhanden, wodurch die Entwicklungen in den USA in den kommenden Jahren auch transatlantisch von Interesse sein werden. Umgekehrt könnte Europa auch Vorbild für den oft kostenfreien Zugang zu Bildung in den USA werden. Eine gemeinsame Diskussion unter Bildungseinrichtungen halte ich hier für nötig, da sie eine große Verantwortung tragen.

F&L: Was ändert sich durch Bidens Präsidentschaft an der Beteiligung der USA an globalen Problemen?

Michael Werz: Hier wird sehr viel sehr schnell passieren. Vieles hängt aber auch davon ab, wie das zerstrittene Europa und andere demokratische Staaten proaktiv aufeinander und auf die USA zugehen. Präsident Joe Biden wird in der ersten Amtswoche per Dekret wieder den Beschlüssen der UN-Klimakonferenz COP15 beitreten, gleiches gilt für die WHO. Wahrscheinlich wird auch die Finanzierung der Vereinten Nationen und der WHO wieder auf ein normales Niveau angehoben. Das Wissen um den internationalen Reputationsverlust der USA und die Zerbrechlichkeit demokratischer Systeme ist bei den Demokraten sehr präsent. Sie wissen, dass die USA nicht einfach wieder jene Weltmachtrolle beanspruchen können, die einst existierte. Vielmehr werden sie sich um inhaltliche und strategisch neue internationale Beziehungen mit Europa und Asien bemühen.

"Ich gehe davon aus, dass sich die USA international komplett neu aufstellen werden."

F&L: Wie könnte eine neues Machtgefüge zustande kommen und aussehen?

Michael Werz: Eine besondere Rolle wird dabei einer gemeinsamen amerikanisch-europäischen China-Strategie zukommen, da USA und EU fundamental andere Sichtweisen und Abhängigkeiten von China haben. Für diese politische Entwicklung braucht es auch viel wissenschaftlichen Input, unter anderem um China besser zu verstehen, gleiches gilt für transnationale Herausforderungen wie Migrationsbewegungen, Klimawandel und künstliche Intelligenz. Dynamische Entwicklungen gesellschaftlicher Prozesse in anderen Regionen zu verstehen, geht oft über das hinaus, was Politiker leisten können. Hier spielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine gewichtige Rolle. Die neue politische Zeitrechnung und die Frage erflogreicher multilaterale Kooperation wird letztlich dadurch bestimmt werden, ob sich das transatlantische Verhältnis am Pazifik und in anderen Regionen beweisen kann. Insgesamt gehe ich davon aus, dass sich die USA international komplett neu und anders aufstellen werden, als Konsequenz aus dem politischen und intellektuellen Zerstörungswerk Donald Trumps. Die Corona-Krise hat uns zudem gezeigt, dass Innen- und Außenpolitik, z.B. regionale Gesundheitsfragen und multilaterale Kooperation, kaum voneinander zu trennen sind. Die Afghanistan- und Irak-Kriege haben dokumentiert, dass Macht nicht auf militärischen Mitteln allein ruht. Und wer der Illusion nachhängt, Außengrenzen könnten mit Mauern oder Zäunen geschützt werden, sucht auf die Fragen des 21. Jahrhunderts Antworten im 19. Jahrhundert.

F&L: Welche Auswege sehen Sie auf diese Zeitfragen?

Michael Werz: Die Macht Amerikas hat eine wichtige immaterielle Dimension: die Fähigkeit Kooperationen zu knüpfen und Allianzen herzustellen, auch mit Nichtregierungsorganisationen, z.B. in Epidemien und Pandemien und beim Klimawandel, und dabei gemeinsame Standards und Werte zu definieren. Weltweit braucht es gemeinschaftliche politische Lösungen, die tragfähig sind – dabei ist es wichtig, die eigenen Pläne nie als alternativlos zu erachten und zu präsentieren, um Reaktionären nicht in die Hände zu spielen.