Junge Schülerin schreibt in ein Heft
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Schule
Lehrermangel wird vielerorts noch dramatischer

Der Lehrverband warnt vor den Folgen des bundesweiten Lehrermangels. Man habe zu spät gegengesteuert, vieles seien Behelfslösungen.

09.08.2018

Der teils dramatische Lehrermangel wird sich zum neuen Schuljahr in vielen Bundesländern aus Expertensicht noch zuspitzen. "Ich rechne mit einer Verschärfung vor allem in den neuen Bundesländern und auch in den Stadtstaaten, insbesondere in Berlin", sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, der Deutschen Presse-Agentur. "Aber auch in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist die Unterrichtsversorgung auf Kante genäht." Wenn es Krankheitsausfälle gebe, werde es auch dort zu "massiven Versorgungsengpässen" kommen.

Der Lehrermangel verstärke den Arbeitsdruck und die Belastung der Kollegen, sagte Meidinger. Lehrer fehlten vor allem an Grundschulen, Förderschulen und ehemaligen Hauptschulen. "Im Endeffekt sind die Kinder die Leidtragenden, weil sie keinen guten und vollständigen Unterricht bekommen." Das frustriere auch die Lehrer, weil sie ihr Ziel, die Schüler bestmöglich zu fördern, nicht erfüllen könnten.

Die Zeiten seien vorbei, in denen sich die Schülerinnen und Schüler über Unterrichtsausfall vor allem freuten, sagte der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz (BSK), Hannes Leiteritz. Sie befürchteten vielmehr Nachteile für die nähere Zukunft – zum Beispiel bei Bewerbungen. "Weniger Unterricht heißt weniger Stoffvermittlung. Und der Stoff, der nicht vermittelt wird, kann auch in späteren Jahren nicht aufgeholt werden", kritisierte der Abiturient aus Schleiz in Thüringen. "Es entstehen Lücken, die später nicht wieder geschlossen werden können, weil immer neuer Stoff nachkommt."

Nach einer offiziellen Prognose wird die Zahl der Schülerinnen und Schüler bis 2030 bundesweit um 278.000 auf 11,2 Millionen steigen. Das seien über zwei Prozent mehr als 2016, hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) im Mai mitgeteilt. Als Gründe nannte sie gestiegene Geburtenzahlen und viele Zuwanderer.

Präsident des Lehrerverbands: "Prognosen wurden verschlafen"

Die Länder tun inzwischen einiges, um das Ruder herumzureißen: Bayern will mit einem Ausbau des Studienangebots auf die steigenden Schülerzahlen reagieren: Ab Oktober soll es dort unter anderem 700 neue Studienplätze fürs Grundschullehramt geben. Sachsen will mit einer Geldprämie versuchen, den Lehrermangel auf dem Land einzudämmen: Referendare sollen von Januar 2019 an bis zu 1.000 Euro Zulage bekommen, wenn sie ihren Anwärterdienst im ländlichen Raum absolvieren. In Brandenburg können bald Lehrkräfte nach der Pensionierung weiter arbeiten, bei einem besonderen dienstlichen Interesse.

In Berlin hat der Lehrermangel besonders dramatische Züge angenommen: Im Juni fehlten laut Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) in der Hauptstadt noch 1.250 Lehrkräfte – so viele wie noch nie. Ein Projekt zum Lückenstopfen heißt hier "Unterrichten statt Kellnern": Studierende in lehramtsbezogenen Masterstudiengängen werden Halbjahres- oder Jahresverträge an Schulen angeboten.

Die Maßnahmen kommen aus Expertensicht zu spät. "Es wurden Prognosen verschlafen und es wurde nicht rechtzeitig gegengesteuert", sagte Meidinger vom Lehrerverband. "Die Politik, auch das Bundesbildungsministerium, hätte die Hochschulen auffordern müssen, die Lehrerausbildungskapazitäten nicht so stark abzubauen." Die Länder hätten nicht rechtzeitig auf den Geburtenanstieg reagiert. "Es hätte viel früher eine massive Lehreranwerbung geben müssen."

Auch aus Sicht des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) ist der Lehrermangel zu einem großen Teil hausgemacht. "Wie kann es sein, dass man in solch eine enorme Lücke hineinschlittert?", kritisierte VBE-Chef Udo Beckmann. "Wenn die Politik nicht massiv nachsteuert und umsteuert, dann sehe ich auf absehbare Zeit keine Entspannung."

Die Eltern sind ebenfalls in Aufregung. "Aus unserer Sicht ist der Lehrermangel zurzeit so schlimm, wie er noch nie war", sagte Bundeselternrats-Chef Stephan Wassmuth. "Wir sind eine Leistungsgesellschaft, das darf man nicht vergessen. Eltern machen sich Sorgen, dass die Grundlagen fehlen." Es könne nicht die Lösung sein, dass Eltern den fehlenden Stoff mit ihren Kindern in der Freizeit nachholten oder Nachhilfe finanzierten.

Auch mit Seiteneinsteigern versuchen Länder, Lücken zu stopfen. In Nordrhein-Westfalen hatte 2017 laut Schulministerium jede neunte neu eingestellte Lehrperson keine grundständige Ausbildung. Meidinger sieht diesen Trend kritisch und spricht von einer "Notlösung". "Geschieht das in großem Umfang, verschlechtert das die Unterrichtsqualität." Beckmann vom VBE gibt zu bedenken, Seiteneinsteiger hätten teils überhaupt keine pädagogische Qualifikation. "Gerade in der Grundschule brauchen wir aber bei der hohen Diversität der Schüler gut ausgebildete Pädagogen." Er fordert eine pädagogische Vorqualifikation von mindestens einem halben Jahr.

dpa