rostiger Haken und Seil an einem Bootsrumpf
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Soziologie
Misstrauen in Wissenschaftler bleibt ohne Folgen

Die Vertrauenskrise in der Wissenschaft beschränkt sich auf wenige spezielle Themen. Insgesamt ist das Vertrauen in Wissenschaft krisenfest.

Was ist der Unterschied zwischen einem Intellektuellen und einem Politiker? Den Intellektuellen beunruhigt es, wenn ein Wissenschaftler ihm mitteilt, dass er von unzutreffenden Annahmen ausgeht.

Dieser Vergleich wurde vor fast einem halben Jahrhundert von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons formuliert, der über reiche Erfahrungen mit Politikberatung verfügte. Das hohe Alter der Formulierung zeigt an, dass Wissenschaftler nicht erst heute die Erfahrung machen, dass Politiker sich schwertun, ihren Ratschlägen zu folgen, wenn das die Chancen im Publikum dezimieren könnte. Politiker brauchen politische Gründe, um auf Wissenschaftler zu hören. Protestbewegungen, die dazu bereit sind und damit Erfolg haben, mögen am Ende auch die politischen Parteien zum Umdenken zwingen; die politische Karriere des Umweltschutzthemas ist bekanntlich so gelaufen.

"Politiker brauchen politische Gründe, um auf Wissenschaftler zu hören."

Aber wenn es an politischen Gründen fehlt, kann die Wissenschaft allein das nicht kompensieren. Als man Helmut Kohl einst vorhielt, die Wirtschaftspolitik seiner Regierung werde von führenden Wirtschaftswissenschaftlern keineswegs unterstützt, soll er entgegnet haben, er bewerbe sich ja auch nicht um den Ludwig-Ehrhard-Preis, sondern um das Kanzleramt. Vermutlich hätte er vor einem drohenden Wahlsieg der FDP – ein Gedankenexperiment! – anders geurteilt.
Abweichendes Erleben ist nichts Neues

Dies ist die erste Schwäche an der These von einem neuerdings eingetretenen Vertrauensschwund gegenüber der Wissenschaft. Wie für Zeitdiagnosen typisch, muss sie die Vergangenheit falsch beschreiben, damit die Gegenwart als Phase dramatischer Umbrüche erscheinen und man in den Massenmedien darüber berichten kann. Glaubt man den Diagnosen vom postfaktischen Zeitalter, dann war die Lage noch bis vor wenigen Jahren dadurch gekennzeichnet, dass die Autorität der Wissenschaftler in praktisch jedem Gesellschaftsbereich anerkannt war. Davon kann aber gar keine Rede sein. Es hat zum Beispiel immer schon religiöse Fundamentalisten gegeben, die die Schöpfungslehre der Bibel beim Wort nehmen und sich von dort aus gegen die wissenschaftliche Darstellung der entsprechenden Themen wenden. Die Wissenschaft hat für solche Fälle abweichenden Erlebens den Begriff des Irrtums erfunden, mit dem zugleich gesagt ist, dass sie sich davon, anders als von wissenschaftlich seriöser Kritik, nicht beirren lässt. Auch hat es früher keine nennenswerten Einflüsse der Wissenschaft auf die Partnerwahl, auf die Kindererziehung in Familien, auf die Geschäftspolitik der Unternehmen gegeben.

Dass es in der Gesellschaft andere Systeme gibt, die der Wissenschaft widersprechen oder nur sehr selektiv, mit Blick auf ihre jeweils eigene Funktion, an ihr interessiert sind, daran ist nun wirklich nichts Neues. Und es ist auch schwer zu sehen, wie das anders sein könnte, solange wir in einer differenzierten Gesellschaft leben – mit der Wissenschaft als einem Teilsystem neben anderen.

Fakten lassen sich deuten

Eine zweite Schwäche jener These liegt darin, dass sie die Bedeutung der Frage überschätzt, ob man sich über Tatsachen einigen kann oder nicht. Denn man kann aus denselben Tatsachen ganz entgegengesetzte Schlussfolgerungen ziehen. Sicher ist es fast immer möglich, gegen die Tatsachenfeststellung selbst zu argumentieren, vor allem, wenn dabei Messungen eine Rolle spielen, die man auch anders hätte machen können. Das geschieht aber eigentlich nur sehr selten. Der normale Fall ist, dass man dieselben Tatsachen akzeptiert, von denen auch der jeweilige Gegner ausgeht, und ihnen nur eine andere Deutung gibt. Auch dies wird übrigens bei gemessenen Zahlen leichter, denn dann muss man nur die Vergleichszahl austauschen, um die Sache in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Die Politiker am Wahlabend sind die unerreichten Meister in dieser Kunst: "Wir haben zwar die Wahl verloren, aber dafür das zweitbeste Ergebnis seit zwanzig Jahren erreicht!". Quantifizierte Urteile bieten sehr hohe Interpretationsfreiheiten. Das mag erklären, warum sie eigentlich keinem ernsthaften Widerstand begegnen – jedenfalls nicht in der öffentlichen Diskussion, in der die Beteiligten gar nicht die Zeit für Prüfoperationen haben. Man müsste daher einmal sehr genau prüfen (!), ob mit der Rede von alternativen Fakten nicht eigentlich nur dieser Vorgang der Rekontextierung gemeint ist.

Auch innerhalb der Wissenschaften scheiden sich die Geister oft nicht an den Tatsachenaussagen. Einige Soziologen halten die Tatsachen im Bereich der sozialen Ungleichheit für alarmierend, weil sie an absoluten Maßstäben messen, andere vergleichen eher historisch und sehen daher dieselben Daten ganz anders. Insofern ist es mit den Tatsachen ähnlich wie mit den Werten, die ihrerseits überschätzt werden, und aus einem ähnlichen Grund. Der Einzelwert ist nie kontrovers, denn keiner wird offen sagen, dass er gegen Freiheit sei oder gegen Sicherheit. Aber in konkreten Situationen wählt man immer zwischen unvergleichlichen Werten, also nicht zwischen Freiheit und Unfreiheit, sondern zwischen Freiheit und Sicherheit. Dann ist es mit der Einigkeit auch schon wieder vorbei und es beginnen die innenpolitischen Kontroversen.

Misstrauen gilt immer nur für Teilbereiche

Eine dritte Schwäche sehen wir darin, dass das Vertrauen in Wissenschaft zu sehr nach dem Muster von persönlichem Vertrauen gedacht wird. Das führt dazu, dass man sich eine Vertrauenskrise in die Wissenschaft nach dem Modell einer Ehekrise vorstellt. Das Vertrauen in Wissenschaft ist aber anders aufgebaut als das Vertrauen in Personen. Das hat auch für den Vertrauensverlust Konsequenzen. Nach Enttäuschungen kann man hier nicht einfach zu Misstrauen übergehen und diese Position durchhalten. Dafür ist die Abhängigkeit von wissenschaftlich geprüften Informationen einfach zu groß. Sie steckt in jedem Stück Technik, auf das wir uns im Alltag verlassen, von der Autobahnbrücke über den Lichtschalter bis zur Kopfschmerztablette. Wer nur selbstgeprüften Wahrheiten vertrauen wollte oder allenfalls noch solchen, die den Segen seines Dorfpfarrers haben, der käme nicht weit.

"Das Vertrauen in Wissenschaft ist anders aufgebaut als das Vertrauen in Personen."

Misstrauen und Manipulationsverdächte sind immer möglich, aber sie können die Funktion jenes breiten und unkritischen Vertrauens in Wissenschaft nicht ersetzen. Sie treten daher auch nicht an die Stelle dieses Vertrauens, sondern beziehen sich, ähnlich wie Verschwörungstheorien, immer nur auf bestimmte Themen und Themenbereiche. Man misstraut dann etwa den wissenschaftlichen Thesen über die Ursachen des Klimawandels, besteigt aber weiterhin Flugzeuge und schluckt weiterhin Medikamente. Oder man misstraut den Wissenschaftlern, denen ein Betrug nachgewiesen wurde, nicht aber denen, die den Nachweis geführt haben. Insofern ist das Vertrauen in Wissenschaft eine relativ krisenfeste Angelegenheit.

Auf Skepsis folgen selten persönliche Konsequenzen

Es mag ein themenunspezifisches Misstrauen in bestimmte Aussageformen der Wissenschaft geben, das sich dann etwa an der Statistik festmacht, mit der man angeblich alles, also auch das jeweilige Gegenteil nachweisen kann – um das Bonmot des britischen Premierministers James Callaghan zu zitieren. Aber das ist dann ein inkonsequentes Misstrauen, das den Gebrauch statistischer Argumente zugunsten der eigenen Agenda nicht ausschließt. Ähnlich mögen viele der Meinung sein, dass es der Pharmaindustrie nur um das Geld und nicht um die Wahrheit gehe, aber auch daraus zieht niemand so leicht die Konsequenz, auf die segensreiche Wirkung der Kopfschmerztablette zu verzichten.

Das negative Stereotyp wird also nicht so eindeutig gefasst, dass die positiven Erfahrungen im Einzelfall es falsifizieren könnten. Oder man präzisiert stärker, gesteht dann aber Ausnahmen zu, und immunisiert sich so gegen jede mögliche Widerlegung.

Wir haben es also mit einer misstrauischen, aber folgenlosen Einstellung zu tun. Diese hilft, eigene Entfremdungserfahrungen auszudrücken, ohne auf eigene Teilnahme zu verzichten. Darin liegt natürlich ein Problem für alle Forschungen, die aus abgefragten Einstellungen auf wirkliches Verhalten schließen – und bei deutlichen Einstellungsänderungen, etwa der Wissenschaft oder den Massenmedien gegenüber, gleich einen breitenwirksamen Strukturwandel bevorstehen sehen.