Aufnahme des Hauptgebäudes der Lomonossow Universität in Moskau, der größten Universität Russlands.
picture alliance/dpa/TASS | Marina Lystseva

Hochschulen in Russland
Prorektoren für "charakterliche Bildung" der Studierenden

Russische Universitäten sollen Prorektoren einführen, die Studierende zu "vollwertigen Bürgern" erziehen. Kritiker fürchten Propaganda.

22.06.2022

Allen russischen Universitäten wird empfohlen, die Position eines Prorektors für Charakterbildung einzuführen. Das haben staatliche und internationale Medien mit Verweis auf das russische Bildungsministerium berichtet.

So habe der stellvertretende Bildungsminister Petr Kutscherenko bei einer Veranstaltung am 14. Juni betont, wie wichtig es sei, die Studierenden nicht nur fachlich zu Experten auszubilden, sondern auch zu "vollwertigen Bürgern der russischen Gesellschaft", wie die russische Nachrichtenagentur TSS berichtet. Um dies zu überwachen, sollten an allen Universitäten in der Russischen Föderation Prorektoren für Erziehungsaufgaben eingeführt werden, deren Arbeit wiederum vom Bildungsministerium bewertet werde. Die russischen Studierenden sind laut Kutscherenko bedingt durch die "Weltlage" in Gefahr.

Dr. Andreas Hoeschen, Leiter der Außenstelle des Deutschen Akademischen Austauschdiensts in Moskau und Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus in Moskau, erläutert die "Empfehlung" an die Hochschulen: "Es liegt sehr nahe, diese Regierungsinitiative im Kontext der zahlreichen Proteste von Studierenden gegen den Ukraine-Krieg zu interpretieren und den Erziehungsauftrag vor allem auch als Disziplinierungsauftrag zu verstehen." In diesem Sinne könne die Empfehlung als ein Bestandteil der Bestrebungen der russischen Führung verstanden werden, mehr politische Kontrolle im Bildungsbereich auszuüben. "Welche praktischen Auswirkungen die Empfehlung haben wird, ist hingegen zurzeit noch schwer einzuschätzen", so Hoeschen weiter. Auch wie der Erziehungsauftrag im Einzelnen auszufüllen wäre, sei noch nicht näher erläutert und noch nicht vom Ministerium vorgeschrieben worden.

Rückkehr zu sowjetischen Zeiten?

Kritiker betrachten die Ankündigung allerdings bereits mit Sorge und fühlen sich an eine längst vergangene Zeit erinnert. So berichtet das britische Onlinemagazin "Times Higher Education", dass es eine gleichnamige Position in der Sowjetunion bereits gegeben habe. Damals hätten die Prorektoren einerseits Aktivitäten und Stipendien für die Studierenden organisiert, aber auch Propaganda verbreitet. Das Magazin hat mit verschiedenen Forschenden gesprochen. Einige befürchten demnach, dass die neue Position der russischen Regierung ermögliche, jemanden für das Verhalten der Studierenden verantwortlich machen und bestrafen zu können und ihren Einfluss in den Hochschulen auszuweiten.

Professor Ulrich Schmid von der Universität Sankt Gallen bezweifelt allerdings, dass man die Entwicklung "adäquat als 'Re-Sowjetisierung'" erklären kann. Er beurteilt die nachdrückliche "Empfehlung" des russischen Bildungsministeriums als die "Institutionalisierung einer Ideologisierung der Gesellschaft", die sich bereits in der Verfassungsreform von 2020 niedergeschlagen habe. In dieser heiße es, dass die Regierung die Durchführung einer einheitlichen, sozial orientierten Staatspolitik auch in den Bereichen der Kultur, Wissenschaft und Bildung sicherstelle und für die Bewahrung der traditionellen Familienwerte sorge. Bildungsminister Waleri Falkow habe schon im April vergangenen Jahres ein Dekret erlassen, in dem er eine strenge Überwachung der sogenannten "erzieherischen Arbeit" forderte. "Dieses Ziel sollen die neuen Prorektorinnen und Prorektoren wohl verfolgen", so Schmid.

aktualisiert am 23.06.2022 um 10.16 Uhr, zuerst veröffentlicht am 22.06.2022

cpy