Der russische Präsident Wladimir Putin während seiner Rede am 21. Februar 2022.
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Ukraine-Krieg
Putins Missbrauch des Völkerrechts

Die russischen Angriffe auf die Ukraine verletzen zwingendes Völkerrecht. Wladimir Putin rechtfertigt in seinen Reden die Gewalt. Eine Analyse.

Von Angelika Nußberger 08.04.2022

Am 21. Februar 2022 hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine einstündige Rede, die in die Geschichtsbücher Eingang finden dürfte. Zum ersten Mal seit der Schaffung einer neuen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg stellte der Präsident eines Staates das Existenzrecht eines anderen international anerkannten Staates in Frage und sprach einer Regierung das Recht ab, über innenpolitische Fragen souverän entscheiden zu dürfen. Mit diesem Tabubruch wurde eine Zeitenwende in der internationalen Politik eingeleitet. Ob damit nur die in den späten 80er Jahren des letzten Jahrtausends eingeleitete Periode der Reformen und der Öffnung des ehemaligen "Ostblocks" zu Ende geht oder auch das auf dem Gewaltverbot als zwingendem Recht beruhende UN-System in Frage gestellt wird, ist noch offen. Die Tatsache, dass die Klimax der Rede Putins eigentlich die Anerkennung der ukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk als eigenständige Staaten war, schien im weltpolitischen Gesamtzusammenhang fast nur mehr eine Fußnote zu sein, obwohl gerade über deren Status jahrelang erbittert gestritten worden war.

Drei Tage nach der ersten Rede folgte eine zweite – etwas kürzere – Rede am 24. Februar 2022. Auch hier war die Botschaft, mit Gewalt durchsetzen zu dürfen, was mit Politik nicht zu erreichen sein würde. Das Narrativ einer Unterstützungshandlung für Donezk und Luhansk wurde wiederum aufgerufen, auch wenn es in der Sache schon längst nicht mehr um einzelne Regionen der Ukraine ging, sondern um den Staat Ukraine als Ganzen. So galten die unmittelbar nach dem Ende der Rede befohlenen ersten militärischen Angriffe auch gleich den großen Städten des Landes, Mariupol, Charkiw und Kiew.

"Aus den Ansprachen wird ersichtlich, dass der Krieg ein doppelter ist – einmal zwischen Russland und der Ukraine und einmal zwischen Russland und 'dem Westen'."

Aus beiden Ansprachen Putins ist ersichtlich, dass der Krieg ein doppelter ist – einmal ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine und einmal ein Krieg zwischen Russland und "dem Westen". Beides ist aufgrund der klaren Westorientierung der Ukraine seit dem "Maidan" im Jahr 2014 und ihrem in die Verfassung aufgenommenen Bekenntnis, Mitglied von NATO und EU werden zu wollen, eng miteinander verbunden. Aus russischer Sicht war die Ukraine vom "rechten Weg" abgekommen und abtrünnig, so dass der Ost-West-Konflikt in einem Showdown im Osten Europas ausgefochten werden musste. Es galt, ein Land, das sich als "neuer Westen" verstand, in den Osten zurückzuholen.

Putins Reden hatten den Krieg von Anfang an ideologisiert, zu einer Auseinandersetzung zwischen Systemen und Werten hochstilisiert. Zugleich aber hatte er auch versucht, rechtliche Begründungen für die Gewaltanwendung zu geben. Die konfrontativen Positionen gilt es im Folgenden nachzuzeichnen.

Achtung der staatlichen Souveränität

Die Vorwürfe Putins an die Ukraine waren die eines Lehrmeisters. Die Ukraine habe "ihre Staatlichkeit auf der Verneinung all dessen, was uns vereint, aufgebaut". Sie habe ausländische Kräfte im Land mitbestimmen lassen, die, so wörtlich, "mit Hilfe eines weit verzweigten Netzes von NGOs und von Geheimdiensten der Ukraine ihre Klientel aufgedrängt und ihre Vertreter an die Macht gebracht" hätten. Korruption wirft er der Ukraine vor, Zusammenarbeit mit den Feinden Russlands. Sie habe keine unabhängigen Richter, sogar auf ihre Auswahl werde vom Ausland Einfluss genommen. Sie habe die russische Sprache aus den Schulen vertrieben, zum Schisma der orthodoxen Kirche beigetragen und das Denkmal von Alexander Suworow gestürzt, der die Krim an Russland angegliedert hatte. Und, wie Putin mit einer Reihe von Beispielen zeigt, habe man eine Vielzahl von falschen Entscheidungen im Bereich der Wirtschaft getroffen, die zur Verarmung des Landes geführt hätten.

Diese Vorwürfe zeigen: Bei innenpolitischen Fragen zur Sprach- und Kulturpolitik, zum Aufbau der Justiz und zur Einbindung der Zivilgesellschaft in die politische Arbeit war die Ukraine erkennbar nicht dem Vorbild Russlands gefolgt. Dort waren, wohl schon seit der Jahrtausendwende, verstärkt aber seit den Protesten gegen die angeblich gefälschten Dumawahlen im Dezember 2011 und die Wiederwahl Putins im März 2012, die Schrauben der gesellschaftlichen Repression angezogen worden. Die Arbeit der NGOs wurde durch ein "Agentengesetz" zuerst erschwert und dann unmöglich gemacht, die Justiz wurde so aufgestellt, dass sie bereit war, alle Vorgaben der Exekutive abzustempeln, jede Form von politischer Diskussion wurde unterbunden.

"Art. 2 Abs. 1 UN-Charta stellt den Grundsatz der 'souveränen Gleichheit' aller Mitglieder der Vereinten Nationen allen weiteren Bestimmungen der Charta voran."

In unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Wege zu gehen, die politische Gestaltung einer vom Volk frei gewählten Regierung zu überlassen, macht aber gerade den Inhalt dessen aus, was im Völkerrecht als "Souveränität" garantiert wird. Art. 2 Abs. 1 UN-Charta stellt den Grundsatz der "souveränen Gleichheit" aller Mitglieder der Vereinten Nationen allen weiteren Bestimmungen der Charta voran. Eng verbunden mit der "Souveränität" ist das "Selbstbestimmungsrecht der Völker", das gleichfalls an prominenter Stelle in der UN-Charta, in Art. 1 Abs. 2, normiert wird.

Nun argumentiert Putin aber nicht, ein militärisches Eingreifen sei gerechtfertigt, da die Ukraine bei zentralen gesellschaftlichen und politischen Fragen "anders" oder "falsch" entschieden habe. Vielmehr dreht er das Souveränitätskonzept um, stellt die mit dem Sturz der Janukowytsch-Regierung 2014 neu an die Macht gekommenen Kräfte als Okkupationsregime dar, das die Souveränität der Ukraine nicht schütze, sondern zerstöre, und suggeriert, der wahre Wille des ukrainischen Volkes müsse gegen die Regierung zur Geltung gebracht werden. So führt er zu der Entwicklung nach dem Maidan aus: "In der Zwischenzeit wurden die Radikalen immer dreister in ihren Aktionen und stellten jedes Jahr mehr Forderungen. Es fiel ihnen leicht, den schwachen Behörden ihren Willen aufzuzwingen, die ebenfalls mit dem Virus des Nationalismus und der Korruption infiziert waren und die wirklichen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen des Volkes und die wahre Souveränität der Ukraine kunstvoll durch verschiedene ethnische Spekulationen und formale ethnische Attribute ersetzten". Seine Rechtfertigung für die Nicht-Achtung der frei gewählten Regierung der Ukraine packt er in Suggestivfragen an das ukrainische Volk: "Ist ihnen klar, dass ihr Land nicht einmal mehr ein politisches oder wirtschaftliches Protektorat ist, sondern zu einer Kolonie mit einem Marionettenregime reduziert wurde? Der Staat wurde privatisiert. Infolgedessen handelt die Regierung, die sich selbst als 'Macht der Patrioten' bezeichnet, nicht mehr im Sinne des Staates und treibt die Ukraine konsequent in Richtung des Verlusts ihrer Souveränität."

Zwar versichert er, die Souveränität aller postsowjetischen Staaten zu achten: "Wie ich bereits sagte, hat Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die neuen geopolitischen Realitäten akzeptiert. Wir respektieren alle neu entstandenen Länder der ehemaligen Sowjetunion und werden sie auch weiterhin respektieren. Wir respektieren ihre Souveränität und werden sie auch weiterhin respektieren, …". Allerdings folgt dann das entscheidende "Aber": "Aber Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn eine ständige Bedrohung vom Gebiet der heutigen Ukraine ausgeht." Die Missachtung der angeblich von innen ausgehöhlten Souveränität der Ukraine wird so mit dem Schutz der Souveränität Russlands gerechtfertigt. Dass die nur subjektiv aus Sicht des russischen Präsidenten bestehende "ständige Bedrohung" durch die Ukraine letztlich der potenziellen Attraktivität und Vorbildwirkung eines freiheitlichen Systems geschuldet ist, sagt er nicht.  

Selbstverteidigungsrecht und bewaffneter Angriff

Putins Argumentation bricht, soweit es um die Darlegung völkerrechtlicher Positionen geht, mehrfach. Konkret beruft er sich auf das von Art. 51 UN-Charta garantierte Selbstverteidigungsrecht. Er setzt es in unmittelbaren Zusammenhang mit dem militärischen Eingreifen Russlands in vorausgehenden militärischen Konflikten, angefangen vom Tschetschenienkrieg, bei dem man "gegen Terroristen im Kaukasus" habe vorgehen müssen, um "die Integrität unseres Staates zu verteidigen und Russland zu schützen", zieht von dort eine Linie zur Krim und zum Syrienkrieg, in dem es notwendig gewesen sei, "eine zuverlässige Barriere gegen das Eindringen von Terroristen aus Syrien nach Russland zu schaffen". Man habe keine andere Möglichkeit gehabt, sich selbst zu verteidigen. Daran anschließend heißt es wörtlich: "Das Gleiche geschieht auch jetzt. Wir haben einfach keine andere Möglichkeit, Russland und unser Volk zu verteidigen, als die, die wir heute anwenden müssen. Die Umstände zwingen uns zu entschlossenem und sofortigem Handeln. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten."

Damit aber vermischt er zwei rechtliche Begründungen, das individuelle Selbstverteidigungsrecht Russlands gegen einen ihm unmittelbar geltenden bewaffneten Angriff und das kollektive Selbstverteidigungsrecht, das zulässt, einen anderen Staat, der von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch macht, zu unterstützen. Das "Sich-selbst-Verteidigen" und das "Um-Hilfe-gebeten-Sein" steht in Putins Begründung unverbunden nebeneinander.

Aus der Sicht des Völkerrechts ist die Argumentation so haltlos, dass man kaum von einer "Argumentation" sprechen kann. Zur Begründung des individuellen Selbstverteidigungsrechts wird keinerlei Nachweis für einen "gegenwärtigen bewaffneten Angriff" gegen Russland geliefert. An einer Stelle der Rede vom 24. Februar 2022, nach einer Philippika gegen die NATO, heißt es, die nationalistischen Gruppen und Neonazis "strebten nach dem Besitz von Atomwaffen". Aber selbst wenn man diese Anschuldigungen ernst nähme, wäre in einem "Streben" und "Vorbereiten" kein "bewaffneter Angriff" auf Russland zu sehen. Einen konkreten Angriff nachzuweisen macht Putin keinen Versuch.  

"Aus der Sicht des Völkerrechts ist die Argumentation so haltlos, dass man kaum von einer 'Argumentation' sprechen kann."

So bezieht er sich im entscheidenden Teil seiner Rede auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht und auf die mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk geschlossenen Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand. Aber auch diese Argumentation kann vor dem Völkerrecht nicht bestehen. Zum einen ist die Anerkennung dieser "Volksrepubliken" selbst ein gegen das Interventionsverbot verstoßender Akt, da es sich um Teile des international anerkannten ukrainischen Territoriums handelt. Hier wiederum versucht Putin eine Parallele zur Anerkennung des Kosovo und der Begründung des NATO-Einsatzes in Belgrad herzustellen; auch im Donbass und in Luhansk gäbe es einen Genozid, auch dort hätten die in ihrer Existenz unmittelbar bedrohten Völker von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht. Aber für einen Genozid gibt es keinerlei Belege; Putins Verweis auf einen "täglichen Raketenbeschuss" wäre völkerrechtlich nicht als Genozid zu qualifizieren. Die Ukraine hat zur Klärung dieser Frage den Internationalen Gerichtshof in Den Haag auf der Grundlage der auch von Russland ratifizierten Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords angerufen; Russland aber hat erklärt, Putin habe den Begriff Genozid nicht im Sinne der Konvention verwendet, und blieb dem Verfahren fern. Im Übrigen wurde die Unabhängigkeit der "Volksrepubliken" weltweit von keinem Staat anerkannt. Zudem hätte eine derartige Form der kollektiven Selbstverteidigung oder der humanitären Intervention – auch diese Begründung klingt in dem Genozidvorwurf an – nie Bombenangriffe auf die gesamte Ukraine in einem das Land in seiner Existenz bedrohenden Ausmaß rechtfertigen können.

Das bedeutet, dass Putin zwar die von Art. 51 UN-Charta geforderten Formalitäten – die offizielle Anzeige der Maßnahmen an den Sicherheitsrat – einhält, der Versuch einer Rechtfertigung des bewaffneten Angriffs aber scheitert; was auch immer – andeutungsweise – vorgebracht wird, ist aus der Sicht des geltenden Völkerrechts ohne jede Substanz. Die völkerrechtlichen Begriffe wie "Selbstverteidigung", "Selbstbestimmung" und "Souveränität" werden nicht nur willkürlich, sondern sinnentstellend und zynisch verwendet.