Maßband auf rotem Grund
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Wissenschaft
Qualität sichern und Freiheit verteidigen

Das Haus der Wissenschaft basiert auf den Universitäten. Dieses hochkomplexe Gebilde kann nur funktionieren, wenn seine Grundlagen gesichert sind.

Von Bernhard Kempen 29.04.2019

Exzellenz. In diesem Begriff scheint die deutsche Wissenschaft ihre Bestimmung gefunden zu haben. Exzellent soll sie sein, strahlen wie ein Leuchtturm in dunkler Nacht, zur Spitze gehören im internationalen Vergleich. Nur so, als exzellente Wissenschaft, leiste Wissenschaft einen maximalen Beitrag für Innovation und Wertschöpfung, nur so, als exzellente Wissenschaft, sichere sie den Wirtschaftsstandort, nur so, als exzellente Wissenschaft, sei sie legitimiert, zusätzliche Mittel in Empfang zu nehmen.

Exzellenz stimuliert, sie verschärft den ohnehin bestehenden wissenschaftlichen Wettbewerb. Exzellenz differenziert, sie hebt Wissenschaftsverbünde oder ganze Standorte heraus. Exzellenz strukturiert, sie richtet die Governance von Wissenschaft neu aus.

Mit der Exzellenzinitiative wurden seit 2006 4,6 Milliarden Euro zusätzlich von Bund und Ländern bereit gestellt, und im Sommer werden mit der Exzellenzstrategie noch einmal 520 Millionen Euro pro Jahr hinzu kommen. Das ist je nach Perspektive viel oder wenig: Viel aus dem Blickwinkel mancher Länderhaushalte, wenig aus dem ausländischer Spitzenuniversitäten, beispielsweise der ETH Zürich.

Es gab und gibt berechtigte Kritik an den Exzellenzprogrammen. Die ungleiche Verteilung von Wettbewerbschancen, die exzellenzgetriebene Umverteilung von Haushaltsmitteln in den Universitäten, die Belohnung bloßer Antragsexzellenz, der kaum verborgene staatliche Einfluss auf die Auswahlentscheidungen und – was am schlimmsten wiegt – die unerfüllbaren Stellenversprechungen an eine junge Wissenschaftlergeneration. Auf der anderen Seite ist aber auch viel Positives zu verbuchen: die Selbstvergewisserungsprozesse in den Universitäten, die profilschärfenden Konzentrationsbemühungen, die öffentliche Aufmerksamkeit, die gesamte Dynamik, die auf ein Ziel ausgerichtet ist: Exzellenz.

Wenn wir nur wüssten, was das ist – Exzellenz.

Sicher sind wir uns darin, dass nur exzellente Wissenschaftler entscheiden können, was exzellente Wissenschaft ist. Aber sonst? Anhand welcher Kriterien soll denn entschieden werden, ob ein Cluster zum Internet der Dinge exzellent ist, oder doch ein Cluster zum Klimawandel? Welche Orientierung gibt es denn im Vergleich von Äpfeln und Birnen? Wobei das Problem ja noch tiefer liegt, nämlich in der Frage, wie erkenne ich einen Apfel, wie eine Birne?

Was macht wissenschaftliche Leistung aus? Wie bewerten wir wissenschaftliche Leistung? Dass wir sie erkennen und bewerten können und müssen, steht außer Frage. Wir tun es ja tagtäglich, wenn wir studentische Klausuren und Abschlussarbeiten bewerten, Doktorarbeiten, Habilitationsschriften. Aber oft, etwa in Berufungsverfahren oder bei der Bewertung von Drittmittelanträgen, lassen wir uns von Indikatoren ablenken und blenden. Von Zitationsindizes, Impact-Faktoren, der Zahl der Publikationen, der Zahl der abgeschlossenen Promotionsverfahren und der Höhe der eingeworbenen Drittmittel.

"Das Eigentliche wird durch quantitative Kriterien nicht erfasst." Bernhard Kempen

Diese quantitativen Kriterien sagen natürlich auch etwas aus über den jeweiligen Bewertungsgegenstand, allerdings nur indirekt und indiziell. Das Eigentliche wird damit nicht erfasst. Erforderlich ist eine viel tiefere, intensivere, zeitaufwändigere Auseinandersetzung mit einer Wissenschaftlerin oder einem Wissenschaftler und ihrem oder seinem Projekt, um ein valides Urteil zu fällen. Ich meine, wir müssten uns wieder bewusster und deutlicher dem Eigentlichen zuwenden und das Indirekte und Indizielle hintanstellen. Die nötige Zeit dafür müssen wir uns nehmen, und vielleicht gewinnen wir sie dadurch, dass wir die zahllosen, teilweise schlicht unzumutbaren Gutachtenanfragen, die uns aus allen Himmelsrichtungen erreichen, häufiger unter Hinweis auf die zeitlichen Anforderungen einer seriösen wissenschaftlichen Begutachtung ablehnen. Auf diese Weise können wir zugleich einen Beitrag dazu leisten, die überhitzte Betriebsamkeit der Universität wieder auf den Kern von Wissenschaft zu konzentrieren.

Dabei muss uns freilich die Politik unterstützen. In ihrem Interesse müsste es liegen, die Fehlanreize, die in der quantitätsorientierten Wissenschaftsbewertung liegen, zu beseitigen. Wäre es denn völlig abwegig, in den Hochschulgesetzen festzulegen, dass bei der Leistungsbewertung alle quantifizierbaren Faktoren allenfalls eine indizielle Bedeutung haben dürfen und eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bewertungsgegenstand erforderlich ist? Wäre es denn unvorstellbar, in den Hochschulverträgen auf alles zu verzichten, was bekanntermaßen zu Fehlsteuerungen führt?

Aber die Besinnung auf das Eigentliche ist nicht das Einzige, das vor uns liegt. Wir – die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – fühlen uns insgesamt zwei übergeordneten Imperativen verpflichtet, die riesige Handlungsfelder betreffen: Qualität sichern! Freiheit verteidigen!

Der Qualitätsimperativ

Zu dem Qualitätsimperativ zählt neben der beschriebenen Rekonstruktion wissenschaftsadäquater Bewertungsmaß­stäbe und -verfahren die Auseinandersetzung mit der staatlichen Zumutung von Absolventenquoten, das Eintreten für die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Verteidigung des differenzierten, chancengerechten tertiären Bildungssektors, das Einfordern von Verbesserungen im Bologna-Studium und das unermüdliche Bekämpfen des Akkreditierungsunsinns.

Das alles ist kein Spaziergang. Ein Beispiel: Möglicherweise wird im kommenden Hochschulpakt verankert, dass die Anzahl der Studierenden, die innerhalb der Regelstudienzeit plus zwei Semester ein Erststudium absolvieren, ein Kriterium für die Zuweisung von Hochschulpaktmitteln ist. Das wird uns als Beitrag zur Qualitätssteigerung angedient, aber es ist in Wahrheit genau das Gegenteil, nämlich ein Fehlanreiz, auf Kosten der Qualität in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Absolventen zu generieren.

Ein weiteres Beispiel: Die Entdifferenzierung des tertiären Sektors schreitet voran. Augenfällig wird das in der Zuweisung eines Promotionsrechts an die Hochschulen für angewandte Wissenschaft vulgo die Fachhochschulen, die nun auch in Nordrhein-Westfalen droht. Am Ende dieser Entwicklung wird, wenn die Politik nicht einlenkt, eine nivellierte Hochschullandschaft stehen, in der potemkinsche Qualitätsdörfer neben Städten, Hauptstädten und Leuchttürmen angesiedelt sind.

Der Imperativ "Freiheit verteidigen"

Der zweite Imperativ "Freiheit verteidigen!" wird uns noch viel größere Anstrengungen abverlangen. Vielleicht denken Sie nun, dass es um die Freiheit der Wissenschaft in Deutschland insgesamt doch gut bestellt ist, dass wir uns mit Blick auf die Türkei oder China doch geradezu glücklich schätzen müssen.

Sie haben Recht. Staatliche Gängelung, staatliche Publikationszensur, Reiseverbote für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, alles das gibt es bei uns nicht. Der Staat bedroht unsere Freiheit nicht, jedenfalls nicht direkt und unmittelbar. Er greift nicht durch aktives Tun in sie ein. Allenfalls wird man ihm vorzuwerfen haben, dass er nicht genug für einen wissenschaftsadäquaten und verfassungsrechtlich korrekten institutionellen Rahmen der Wissenschaft leistet und dass er uns mit dem Agendasetting von Großforschungsthemen am goldenen Zügel in der Themenmanege herumführt. Aber das macht die Bundesrepublik nicht zu einem Land, in dem der Staat die Freiheit der Wissenschaft mit Füßen tritt.

"Ein gerüttelt Maß von Freiheits­bedrohung kommt von uns selbst." Bernhard Kempen

Ein gerüttelt Maß von Freiheitsbedrohung kommt aus einer ganz anderen Richtung. Von uns selbst.
Wer mit wissenschaftlichen Methoden nach der Wahrheit sucht, ist auch verpflichtet, für beides einzutreten, für die Wahrheit und für die wissenschaftlichen Methoden. Wenn einzelne Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler alternative Fakten für möglich halten, aus Statusgründen windige Drittmittelprojekte verfolgen, irrationale Denk- und Sprechverbote fordern, mit Forschungsdaten schludern, Plagiate zu wenig verfolgen und sich zu wenig Mühe geben in der Lehre, dann gefährden sie unsere Freiheit. Und wir gefährden sie, wenn wir nicht gegen solches Fehlverhalten einschreiten.

Auch hier will ich ein Beispiel nennen: Wenn an einer Universität ein hochangesehener Wissenschaftler wegen seiner wissenschaftlich begründbaren Thesen von studentischer Seite diffamiert, bedrängt und verfolgt wird, dann ist das ein Vorgang, den wir nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen dürfen. Wir müssen, wenn uns an der Freiheit der Wissenschaft liegt, deutlich machen, dass wir immer und überall für sie eintreten, erst recht, wenn uns die Person und ihre Meinung nicht gefallen.

Wissenschaftliche Qualität sichern und Freiheit der Wissenschaft verteidigen – wenn wir das auch weiterhin tun, dann ist mir überhaupt nicht bange, wohin das Wissenschaftssystem steuert. Aus der Zukunft ist die Wissenschaft nicht weg zu denken. Im Gegenteil, sie wird nach meiner festen Überzeugung eine immer größere, eine immer wichtigere Rolle spielen. Dabei darf sie es gerne sein, aber sie kann und sie muss es nicht immer und überall sein: exzellent.