Portraitfoto von Dr. Tanja Gabriele Baudson

Hochschullehrerin des Jahres
So frei wie möglich forschen können

Die diesjährige Hochschullehrerin des ­Jahres hat den deutschen „March for Science“ organisiert. Was hat sie dazu motiviert?

Von Friederike Invernizzi Ausgabe 1/18

Forschung & Lehre: Weltweit wurde am 22. April 2017 beim "March for Science" für die Freiheit von Wissenschaft und Forschung demonstriert. Sie waren die Koordinatorin für die 22 Veranstaltungen in Deutschland, an denen 37.000 Menschen teilnahmen. Warum haben Sie sich dafür engagiert?

Tanja Gabriele Baudson: Ich wollte nicht mehr zusehen, wie Wahrheit und Freiheit mit Füßen getreten werden. Diese zentralen Werte unserer Demokratie sind auch die Werte der Wissenschaft. Die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist letztlich ein Streben nach Wahrheit mit nachvollziehbaren Mitteln. Freilich können wir die Wahrheit in ihrer Absolutheit nie erfassen; aber wir versuchen es. Und für ergebnisoffene Forschung ist Freiheit die unabdingbare Voraussetzung. Die weltweit beobachtbaren antidemokratischen Tendenzen sind besorgniserregend. Die Historie zeigt, dass diese immer mit dem Versuch beginnen, eigene Interpretationen der Realität als Wahrheit durchzusetzen. Wer aber die Deutungshoheit über die Wirklichkeit für sich in Anspruch nimmt, greift das Fundament der Wissenschaft an. Wir können also nicht länger so tun, als ginge uns das nichts an, zumal wir täglich sehen, wie schnell theoretische Bedrohungen sehr konkret werden können. Als Wissenschaftlerin will ich dazu beitragen, dass wir auch in Zukunft so frei wie möglich forschen können.

F&L: Für Ihre Aktion haben Sie die meisten Wissenschaftsorganisationen sowie fünf Nobelpreisträger gewonnen. Wie sehr fühlten Sie sich von der scientific community in Deutschland insgesamt getragen?

Tanja Gabriele Baudson: Ich glaube, die Initiative hat einen Nerv getroffen. Dennoch war es anfangs nicht leicht, Unterstützer zu finden, da in der scientific community zunächst intensiv diskutiert wurde, was "Wahrheit" sei und ob man als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler überhaupt politisch sein dürfe. Die erste große Unterstützerin war die Deutsche Gesellschaft für Psychologie. Deren mutige Entscheidung war ein großer Durchbruch für die Initiative, die Unterstützung der Nobelpreisträger der nächste wichtige Schritt. Als die Allianz der Wissenschaftsorganisationen Anfang April geschlossen ihre Unterstützung erklärte, war der Bann endgültig gebrochen. Auch die meisten Universitäten haben die lokalen Marches unterstützt; nur wenige blieben eher reserviert. Wenn wir letztere beim nächsten Mal überzeugen können, freut uns das!

"Am 14. April 2018 findet der zweite weltweite March for Science auch wieder in vielen deutschen Städten statt." Tanja Gabriele Baudson

F&L: Wie geht es für Sie nach dem "March for Science" weiter?

Tanja Gabriele Baudson: Das Kernteam wird größer, sodass ich mich darauf freue, wieder mehr Ressourcen zum Forschen zu haben! 2017 war nicht nur wegen des March for Science ein intensives Jahr. Hinzu kamen ein ungeplanter, sehr kurzfristiger beruflicher Wechsel mit Umzug ins Ausland sowie die Vorbereitung dreier komplett neuer Vorlesungen. 2018 wird wieder etwas ruhiger. Ich freue mich aufs Schreiben und darauf, die in der Zwischenzeit aufgelaufenen Daten zu veröffentlichen. Mein Herz hängt an der Wissenschaft; aber gerade deshalb will ich auch weiterhin zu guten Rahmenbedingungen für die Forschung beitragen: Am 14. April 2018 findet der zweite weltweite March for Science auch wieder in vielen deutschen Städten statt.

F&L: Als Begabungsforscherin arbeiten Sie an Konzepten und Tests zur Diagnose von außergewöhnlicher Intelligenz. Kann man Hochbegabung erkennen und messen?

Tanja Gabriele Baudson: Man muss zunächst klar eingrenzen, was man mit Hochbegabung meint – das Phänomen ist vielfältig! Intellektuelle Hochbegabung – deutlich überdurchschnittlich ausgeprägte Intelligenz – kann man mit IQ-Tests sehr zuverlässig erfassen. Speziell, wenn es um Förderung hoher Begabung geht, muss man natürlich auch weitere Merkmale berücksichtigen, die zur Entfaltung des intellektuellen Potenzials beitragen. Diese können in der Person liegen; wer etwa sehr ehrgeizig ist, wird eher versuchen, hohe Leistungen zu erbringen. Aber auch die Umwelt spielt eine Rolle: So können Familien mit mehr Kapital (höhere Bildung, mehr Geld, gute Netzwerke) ihren Kindern bessere Möglichkeiten bieten. Solche Informationen sind relevant für das, was nach der Diagnostik passiert; das reine Erkennen ist meist nur der erste Schritt.

F&L: Sie setzen sich immer wieder für eine differenzierte und wissenschaftlich orientierte Diskussion über Hochbegabung ein. Wie sehr kämpfen Sie mit Vorurteilen und emotional geführten Debatten zu diesem Thema?

Tanja Gabriele Baudson: Die Vorurteile ziehen sich ja durch die gesamte Gesellschaft – ich habe in einer Repräsentativstudie gezeigt, dass zwei Drittel der deutschen Erwachsenen Hochbegabung mit sozialen Schwierigkeiten und emotionalen Problemen assoziieren. Auch die mediale Darstellung Hochbegabter ist selten nüchtern und faktenbasiert. Ähnlich unzutreffend wie diese Vorurteile gegenüber Hochbegabten sind übrigens auch die Vorurteile gegenüber den Eltern Hochbegabter. Die meisten von ihnen wollen einfach nur, dass ihr Kind glücklich wird. "Eislauf­eltern", die ihr Kind dazu benutzen, ihre eigenen ungelebten Träume zu verwirklichen, sind eher die Ausnahme – sie fallen nur besonders auf.

F&L: Welche Folgen hat es, wenn Lehrkräfte in der Schule eine Hochbegabung nicht erkennen bzw. falsch einschätzen?

Tanja Gabriele Baudson: Es verringert die Chance, dass sich Potenzial entfalten kann, denn Lehrkräfte fallen ja unter die oben erwähnten Umweltfaktoren. Um angemessen schwierige Aufgaben zu stellen, ohne die man sich nicht weiterentwickeln kann, muss eine Lehrkraft einschätzen, was das Kind kann. Unterforderte Kinder sehen keine Notwendigkeit, sich anzustrengen, und lernen nicht zu lernen. Sobald sie aber mit Aufgaben konfrontiert werden, die außer Begabung auch konzentrierte Arbeit erfordern, fehlt ihnen diese wichtige Fähigkeit, sodass sie weniger leisten, als sie eigentlich könnten. Motivation entsteht, wenn individuelle Leistungsvoraussetzungen und Anforderungen der Umwelt zusammenpassen. Deshalb ist es so wichtig, dass Lehrkräfte mehr über Hochbegabung lernen und entsprechende diagnostische Kompetenzen schon früh erwerben. Nur so können sie allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden.

F&L: Sie haben einmal kritisiert, dass man in Deutschland nicht gleichzeitig wissenschaftlich forschen und interessant darüber schreiben könne. Welche Möglichkeiten gibt es, komplexe Inhalte anschaulich und allgemeinverständlich zu kommunizieren? Welche Rolle sollten dabei die sozialen Medien spielen?

Tanja Gabriele Baudson: Zu forschen und darüber zu kommunizieren schließt sich nicht per se aus. Aber: Wissenschaftskommunikation wird im deutschen Wissenschaftsbetrieb kaum honoriert. Bei Berufungen etwa zählen gut quantifizierbare Faktoren: Publikationen, (fragwürdige) Impactfaktoren und Drittmittel. Abhängigkeit von Geldgebern ist übrigens der Hauptgrund für Misstrauen gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Auch bei der Finanzierung von Forschungsprojekten spielt die Frage, wie Ergebnisse nach außen kommuniziert werden, allenfalls eine geringe Rolle. Wer also Wissenschaftskommunikation betreibt, tut dies in der inexistenten Freizeit zu Lasten der Kriterien, die die Karriere befördern. Die Anreizstrukturen des Wissenschaftssystems belohnen somit, wenn man eben keine Kommunikation nach außen betreibt. Auf Dauer ist das aber nicht nachhaltig, der Vertrauensschwund der Bevölkerung ist eine der Folgen. Wie kann man von Menschen erwarten, dass sie jemandem vertrauen, der nicht mit einem redet? Wissenschaft muss transparenter werden und ihre Funktionsweise im Dialog auf Augenhöhe offenlegen. Mit den sozialen Medien lässt sich ein großes Publikum erreichen. Zugleich müssen wir mit Blick nach innen selbstkritisch hinterfragen, inwieweit wir unsere Werte, Freiheit und Wahrheit, tatsächlich leben. Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Vertrauen entsteht, wenn wir als kompetent, wohlwollend und integer wahrgenommen werden. Unserer Kompetenz vertraut man. Arbeiten müssen wir an den beiden anderen Punkten. Es wäre daher kontraproduktiv, nun unsererseits eine Deutungshoheit zu beanspruchen.

Dr. Tanja Gabriele Baudson vertritt die Professur für Entwicklungs- und Allgemeine Psychologie an der Universität Luxemburg.