Eine Frau gibt in einer Wahlkabine ihre Stimme ab für die US-Wahl 2020
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US-Wahl 2020
Warum die Wahl knapp wird und Religion eine Rolle spielt

Aus europäischer Sicht scheint es undenkbar, dass Trump die US-Wahl gewinnt. Was am Ende entscheidet, erklärt ein Religionssoziologe.

Von Gert Pickel 03.11.2020

Als politisch Interessierter in Deutschland, staunt man darüber, dass die Präsidentschaftswahl in den USA immer noch als relativ offen betrachtet wird. Angesichts der Vielzahl an Unwahrheiten und Verfehlungen Donald Trumps und des beachtlichen Vorsprungs des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Joe Biden in Umfragen, erscheint dies Europäern fast paradox. Doch fast alle amerikanischen Meinungsforschungsinstitute warnen inständig vor einer verfrühten Prognose. Sicherlich, die Meinungsforschungsinstitute waren 2016 im wichtigsten Punkt – der Prognose des Wahlausgangs – falsch gelegen und haben seitdem einiges an Häme über sich ergehen lassen müssen. Doch was sind andere Gründe für diese Vorsicht?

Sieht man einmal von den Sorgen ab, dass Donald Trump eine Wahlniederlage nicht akzeptiert, sind die Besonderheiten des US-Wahlsystems zu nennen. So kann durch die traditionelle Vergabe über regionale Wahlmänner (immerhin heute auch Frauen), das Ergebnis und der Sieg vom Popular Vote – also den Stimmenanteilen, die US-weit auf die Befragten entfallen – deutlich abweichen. Gelegentlich gewinnt, wie bei den Wahlen von Donald Trump oder George W. Bush Jr., sogar der Kandidat mit der geringeren Gesamtstimmenzahl. Wichtiger als landesweit die meisten Stimmen auf sich zu vereinen, ist es enge Bundesstaaten (Swing-States) zu gewinnen – und sei es noch so knapp. Durch die (abgesehen von zwei Bundesstaaten) geltende Regelung, "the winner takes it all" kann die in manchen Bundesstaaten oft anhand weniger Stimmen fallende Entscheidung massive Konsequenzen (alle Wahlmänner eines Bundeslandes) nach sich ziehen. Entsprechend konzentrieren sich Kandidatinnen und Kandidaten, auf die Bundesstaaten, wo ein enges Abstimmungsverhalten erwartet wird.

"Diese Knappheit liegt an einem seit Generationen fest verankerten Wahlverhalten."

Diese Knappheit der Wahl liegt an einem seit Generationen fest verankerten Wahlverhalten. Gefördert von einem Mehrheitswahlrecht in einem bipolarem Parteiensystem, zementieren Traditionslinien in der Familie, die durch Wahlpraxis bestärkte Gewöhnung an die Wahl einer Partei und ein milieuspezifisches Wahlverhalten eine Grundverteilung der Wählerstimmen zwischen Republikanern und Demokraten –  und trägt nicht erst seit dem Antreten Donald Trumps zur Wahl 2016 zu einer scharfen Polarisierung bei. Unter diesen Bedingungen kommt es für die Kandidatinnen und Kandidaten weniger darauf an, neue Wählergruppen zu erschließen, als alle auch nur entfernten Anhängerinnen und Sympathisanten der eigenen Partei zur Wahl zu mobilisieren. Bei einer Wahlbeteiligung von 50 bis 60 Prozent steht Mobilisierung vor Neurekrutierung. So kann sich auch Donald Trump Teilen seiner Wählerschaft sicher sein. Sie würden faktisch niemals eine Demokratin oder einen Demokraten wählen, komme was da wolle. Die einzige Reaktion wäre, bei einem als ungeeignet angesehen "eigenen" Kandidaten oder Kandidatin der Wahl fern zu bleiben.

Bindung religiöser Wähler über Jahrzehnte stabil

Für die Sozialmilieus besitzen Religiosität und Ethnie eine große Bedeutung. So können sich die Republikaner seit Jahrzehnten auf zwei Drittel der protestantischen Weißen verlassen und auf vier Fünftel der Wählerinnen und Wähler unter den weißen Evangelikalen. Diese Wählerinnen und Wähler sind (überwiegend) gegen Abtreibung, die gleichgeschlechtliche Ehe, Einwanderung und für Waffenbesitz. Angesichts dieser Kernwählerschaft ist es nicht verwunderlich, wenn Donald Trump – bis 2016 was Religiosität angeht noch unauffällig – zu Wahlzeiten mit der Bibel zu sehen ist. Auch die Installation von Amy Coney Barrett als Bundesrichterin, die ihre Ablehnung von Abtreibung schon öffentlich kund getan hat, dient der Bindung religiöser Wählerinnen und Wähler aus diesem Bereich.

Dieser für "Whiteness" und (religiöse) Tradition eintretenden Amerikanerinnen und Amerikaner stehen schwarze Protestanten, das Gros der jüdischen Bevölkerung, aus Lateinamerika stammende Katholikinnen und Katholiken sowie Konfessionslose entgegen. Über 90 Prozent der schwarzen Protestanten wählen konstant die Demokraten, im Prinzip egal, wer für sie antritt. Unter den andere genannten Gruppen kommen sie auf 65 bis 75 Prozent der Wählerstimmen. Bei diesem festgefügtem Wahlverhalten, lohnen sich keine großen Experimente. Es bedarf aber umgekehrt auch nicht vieler Personen, um das Pendel der Waage bei der Wahl in eine andere Richtung ausschlagen zu lassen. So konnte Donald Trump 2016 seinen Sieg vor allem durch nationalistische Appelle gekoppelt mit Versprechen für die sich vernachlässigt fühlende weiße unteren Mittelschicht sichern.

"Die amerikanische Wählerschaft hat sich seit 2016 zugunsten der Demokraten verändert."

2020 ist die Situation für Donald Trump ungünstiger als noch 2016: Die amerikanische Wählerschaft hat sich seit 2016 zugunsten der Demokraten verändert. Die Zahl lateinamerikanischer Christinnen und Christen sowie Konfessionsloser hat sich erhöht. Beide Gruppen werden Umfragen aus dem Juni zufolge zudem 2020 mehr als sonst schon üblich die Demokraten wählen (Konfessionslose 83 Prozent, lateinamerikanischen Katholiken 75 Prozent). Auch die Zustimmung moderater Katholikinnen und Protestanten zu Donald Trump ist gesunken. 

So könnte die Wahl diesmal durch eine andere Gruppe entschieden werden: weiße, intellektuelle Republikanerinnen und Republikaner, welche den sich zuspitzenden Weg und die autokratischen Äußerungen des Präsidenten dazu motivieren von der Wahlurne fern zu bleiben. Dieser Wahlverzicht einer begrenzten Gruppe von Stammwählerinnen und Stammwählern, bei starker Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler der Demokraten, könnte die Wahl zuungunsten Donald Trumps entscheiden.

Donald Trump wird die anstehende Wahl vermutlich verlieren. Aber dies vielleicht knapper als viele Deutsche und Europäer erwarten – und keinesfalls aufgrund eines starken Gegenkandidaten. Joe Biden wird Präsident, weil viele Wählerinnen und Wähler der Republikaner Donald Trump nicht mehr wollen und paradoxerweise dieser durch sein Verhalten die Wählerinnen und Wähler der Demokraten mobilisiert und die nicht-evangelikale Wählerschaft der Republikaner demobilisiert hat.