Boris Johnson und Ursula von der Leyen
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Ende der Übergangsfrist
Was der Brexit ab 2021 für die Wissenschaft bedeutet

Mit dem Jahr 2020 ist die Übergangsfrist nach Austritt Großbritanniens aus der EU abgelaufen. Das hat Auswirkungen auf Hochschulen und Wissenschaft.

Von Katrin Schmermund 04.01.2021

Kurz vor knapp lag er auf dem Tisch: Der Vertrag über die künftige Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Großbritannien. Am 24. Dezember kamen die Unterhändlerinnen und Unterhändler zu einer Einigung. Die Zeit drängte, denn zum 31. Dezember endet die Übergangsfrist, die auf den Austritt des Königreichs aus der EU gefolgt war.

Einreisebestimmungen

Ab 2021 brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für einen Aufenthalt in Großbritannien, der länger als sechs Monate dauert, in der Regel ein Visum. Sind sie an einer britischen Universität beschäftigt, gilt das neue punktebasierte Einwanderungssystem des Vereinigten Königreichs. Finanzieren sich Forschende dagegen über ein Stipendium oder Drittmittelprojekt, können sie über ein vereinfachtes Visa-Verfahren einreisen, die "Global Talent Visa Route".

Bei kürzeren Studien- oder Forschungsaufenthalten von bis zu sechs Monaten muss für die Einreise kein Visum beantragt werden. Außerdem können Kurzaufenthalte etwa ohne Visum angetreten werden, wenn Lehrende in Auswahlkommissionen mitwirken oder Prüfungen in Großbritannien abnehmen wollen.

Ausstieg aus Austauschprogramm "Erasmus+"

Auf den letzten Metern der Verhandlungen verkündete der britische Premier Boris Johnson, sich weiterhin am "Horizon"-Programm beteiligen zu wollen, aber aus dem "Erasmus+"-Programm auszusteigen. Nur nach Nordirland sollen Studierende auch weiterhin zu Erasmus-Konditionen kommen können. Die irische Regierung will den Aufenthalt über das Programm weiterhin finanzieren. Bis Ende 2020 bewilligte Förderungen über "Erasmus+" sind jedoch im ganzen Vereinigten Königreich über deren Laufzeit gesichert.

Das "Erasmus"-Programm ist eines der erfolgreichsten EU-Programme und dient als Aushängeschild des europäischen Austauschs. Den Ausstieg begründete Johnson mit den hohen Kosten des Programms. Eine weitere Teilnahme hätte Großbritannien laut Verhandlungsteilnehmern mehrere hundert Millionen Pfund gekostet. Mit dem "Turing -Programm" will die britische Regierung laut Mitteilung eine Alternative für inländische Studierende schaffen. Rund 35.000 Studierende sollen 2021-22 mit rund 100 Millionen Pfund gefördert werden.

Für EU-Studierende gibt es bislang kein Angebot. Für sie wird der Auslandsaufenthalt an Universitäten im Vereinigten Königreich deutlich teurer werden. Die Gebühren für internationale Studierende sind in Großbritannien deutlich höher als für inländische Studierende. Bislang galten für EU-Studierende die inländischen Gebühren. Mit dem Ausstieg aus der EU ändert sich das.

"Wir wollen so viel wie möglich dafür tun, Studierende aus der EU auch weiterhin anzuwerben." Uta Staiger, UCL

Beobachter der Verhandlungen wie der Zusammenschluss britischer Universitäten "Universities UK" erklären den Ausstieg der britischen Regierung aus Erasmus damit, dass der Anteil britischer Auslandsstudierender zuletzt gesunken sei und mit rund 7,4 Prozent deutlich unter dem Anteil in anderen Ländern liege. Zudem gingen nur 42 Prozent von diesen über "Erasmus" ins Ausland.

Die Vorsitzende von "Universities UK", Vivienne Stern, beschrieb den Ausstritt als "offensichtlich enttäuschend". Das "Turing"-Programm sei aber eine "fantastische Entwicklung" für britische Studierende, die einige Zeit in einem anderen Land verbringen wollten. Jetzt müsse es darum gehen, eine Lösung für ausländische Studierende in Großbritannien zu finden. Sie begründete dies vor allem mit den von ihnen gezahlten Studiengebühren. EU-Studierende hätten 2018 rund 440 Millionen Pfund zur britischen Wirtschaft beigetragen. Dieser Anteil werde mit dem Austritt aus "Erasmus" sinken, fürchtet Stern, und plädiert auf britischer Seite für einfache Visa-Regelungen und auf Seite der EU-Staaten für eine ausreichende finanzielle Förderung der Studierenden.

Hohe Studiengebühren: Wissenschaft sucht Lösungen

Wissenschaftsförderer und Hochschulen arbeiten auf beiden Seiten an Konzepten, um den Austausch von Studierenden so gut es geht aufrechtzuerhalten. "Wir wollen so viel wie möglich dafür tun, Studierende aus der EU auch weiterhin anzuwerben – und zwar nicht nur solche, die aus vermögenden Haushalten kommen und sich hohe Gebühren leicht leisten können", sagt Dr. Uta Staiger. Sie ist Geschäftsführerin des European Instituts am University College London (UCL), die sich als "London’s Global University" beschreibt und mit den höchsten Anteil EU-Studierender in Großbritannien hat.

"Studierende aus anderen EU-Staaten tragen zur Diversifizierung in der Lehre bei. Das bereichert insbesondere Studiengänge, die sich inhaltlich mit der Region beschäftigen, wie europäische Sprachen, Osteuropastudien, EU-Politik oder EU-Rechtswesen", sagt Staiger.

Gerade Studierende aus Süd- und Osteuropa könnten künftig in den britischen Universitäten fehlen, befürchtet der Literaturwissenschaftler Dr. Sebastian Matzner, der seit seiner Promotion in Großbritannien forscht und lehrt. Das "Turing"-Programm beschreibt er als Platzierungsprogramm für Britinnen und Briten anstatt eines Austauschprogramms, wie es "Erasmus" gewesen sei.

"Viele Studierende sind dem Vereinigten Königreich auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treu geblieben", sagt Staiger. "Wir wollen solche jungen Talente auch künftig bei uns halten." Eine Möglichkeit für Universitäten wie die UCL sieht sie darin, die Gebühren einzelner Programme an der Hochschule für internationale Studierende herunterzusetzen. Die Gebühren allein und flächendeckend über alle Studienangebote für EU-Studierende zu senken, sei dagegen nicht möglich. Das würde gegen das Diskriminierungsverbot gegenüber anderen internationalen Studierenden verstoßen.

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) will überprüfen, wie er sein Förderportfolio an die neue Situation anpassen kann und appelliert an deutsche Hochschulen, mit britischen Partneruniversitäten über Gebührenerlassungen oder -reduktionen zu verhandeln. Die Entscheidung der britischen Regierung bezeichnete die Leiterin der DAAD-Außenstelle in London, Dr. Ruth Krahe, als "überaus bedauerlich". Im Sinne der Stärkung europäischer Hochschulnetzwerke könne das angekündigte "Turing"-Programm allenfalls eine Ergänzung zu "Erasmus+" sein.

Krahe rechnet damit, dass sich die Auswirkungen des Ausstiegs aus dem "Erasmus"-Programm sowohl direkt als auch graduell zeigen werden – je nach Fördergruppe. "Bei den Selbstzahlern ist sicherlich eine unmittelbare Veränderung ab dem akademischen Jahr 2021/2022 zu sehen", sagt sie. Wie stark sich der Austritt auswirken wird, bleibe abzuwarten. "Ein Teil der Studierenden wird sicher auch die höheren Studiengebühren zahlen können und werden."

Bei den "Erasmus+"-Geförderten werde es zu einer graduellen Veränderung kommen, weil bis zum Auslaufen der derzeitigen Förderungen 2023 keine weiteren Förderungen vergeben werden und bei DAAD-Förderprogrammen rechne sie mit einer Steigerung der Antragszahlen für Großbritannien als Gastland. Dieser Trend zeigte sich zuletzt bereits bei vorläufigen Statistiken der Förderorganisation.

Beteiligung an Forschungsförderprogramm "Horizon"

Die Details zur Teilnahme an dem rund 95 Milliarden schweren "Horizon Europe"-Programm von 2021 bis 2027 müssen noch verhandelt werden. Johnson will sich weiter an dem Programm beteiligen, weil Großbritannien zwar eine "Wissenschaftssupermacht" aber eine "kollaborative Wissenschaftssupermacht" sein soll. Seine Regierung hatte die Bedeutung der Forschungszusammenarbeit für das Land bereits früh in den Verhandlungen deutlich gemacht.

Die Zusammenarbeit über "Horizon" hätte an den finanziellen Rahmenbedingungen scheitern können. Der Beitrag Großbritanniens soll anhand des Bruttoinlandsprodukts des Landes bemessen werden. Erhalten Forschende mehr als eingezahlt aus dem EU-Topf, soll die britische Regierung nachzahlen. Sie soll aber kein Geld zurückbekommen, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weniger Geld einwerben als eingezahlt. Johnson hatte das verhindern und einen zunächst auch angedachten Schutzmechanismus einführen wollen, der sichert, das Großbritannien nicht mehr einzahlt als es letztlich bekommt.

Großbritannien ist zwar weiterhin eines der stärksten Länder im Wettbewerb um Geld aus der EU, der jährliche Anteil an der gesamten Fördersumme ist laut Auswertungen der britischen Royal Society seit 2015 jedoch um fast ein Drittel gesunken.

Wissenschaftsbeobachter können sich vorstellen, dass Großbritannien nach der Laufzeit von "Horizon Europe" von 2021 bis 2027 mit mehr Zeit einen besser planbaren Austritt aus den Forschungsprogrammen erwägen könnte. Die Regierung hätte ja bereits alternative Ideen für eine Forschungsförderung für den Fall einer Nicht-Assoziierung entwickelt.

"Es war ein langer, von Unsicherheiten geprägter Prozess. Durch das Abkommen haben wir endlich mehr Klarheit." Uta Staiger, UCL

"Insgesamt bin ich froh, dass wir ein Abkommen haben und der ungeregelte Brexit verhindert werden konnte", sagt Staiger von der UCL. "Es war ein langer, von Unsicherheiten geprägter Prozess. Das haben andere und ich im Austausch mit der wissenschaftlichen Community gespürt. Durch das Abkommen haben wir endlich mehr Klarheit."

Eine befürchtete "Abwanderung" aus Großbritannien habe sich an der Universität aber bislang nicht gezeigt. Insgesamt seien derzeit 21 Prozent des Personals aus EU-Staaten und sowohl der Anteil als auch die absolute Zahl sei in den vergangenen drei Jahren gestiegen. Das gelte bislang auch für Studierende. Insgesamt seien derzeit rund 5.300 der rund 21.000 ausländischen Studierenden aus der EU, zum Zeitpunkt des Referendums seien es rund 4.900 gewesen.

Auch Senior Lecturer Matzner sagt, dass kaum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in seinem Umfeld Großbritannien alleine aufgrund des Brexits verlassen hätten. Die Entwicklung des britischen Hochschulsystems sieht er dennoch kritisch. "Der Brexit ist zugleich Teil und Symptom weiterer gesellschaftspolitischer Verwerfungen, deren Konsequenzen den Wissenschaftsstandort Großbritannien schwächen." Er denke dabei an die zunehmende wirtschaftliche Ausrichtung der Hochschulen, den Einfluss von Begriffen wie "impact" oder "value for money" und die insgesamt hohen Studiengebühren.

Wie sich der Austritt aus "Erasmus" auf die Zahlen auswirkt, wird sich ab den kommenden Bewerbungsphasen zeigen und auch von den entwickelten Alternativen für EU-Studierende abhängen. Das jetzt verabschiedete Abkommen zwischen EU und Großbritannien soll bis Ende Februar 2021 zunächst vorläufig gelten. Das europäische Parlament muss dem mehr als 1.200 dicken Papier noch zustimmen.

Aktualisierung: 04.01.2021. Zuerst veröffentlicht: 31.12.2020