Palace of Westminster
picture alliance/NurPhoto

Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
"Wider den Ungeist des Brexismus"

Der Termin für den geplanten EU-Austritt Großbritanniens rückt immer näher. Eine Reflexion der Gründe eines rückwärtsgewandten Beschlusses.

Von Rüdiger Görner 21.01.2019

Für Englands Schulen meist wundersam günstige PISA-Befunde hin, mehr oder weniger elitäre Oxbridge und Russell Group-Universitäten her: Der Notstand im Bereich politische Bildung in Britannien hat gravierende Ausmaße angenommen, deren verheerendste Auswirkung der Brexit ist.

Als Schulfach existiert sie nur noch in besseren Privatschulen und auch dort meist ohne Europakunde. Entsprechend sind die European Studies auf universitärer Ebene längst ausgestorben.

Im Land der unreflektierten Traditionen – und ich schreibe dies nach einer über 35jährigen England-Erfahrung – ist geschichtliches Bewusstsein wenig mehr als Kosmetik; kritische Selbstbefragung als Teil eines aufgeklärten Geschichtsverständnisses fehlt den Lehrplänen – von den Medien zu schweigen.

Dazu passt folgendes Paradoxon: Derzeit gedenkt der Inselstaat mit hohem performativen Aufwand des Endes des Ersten Weltkrieges und nährt gleichzeitig einen nationalen, also anti-europäischen Egoismus, der einst in eben diese Weltkatastrophe geführt hat.

Zeichen einer fundamentalen Bewusstseinskrise

Inzwischen ist aus dem Brexit ein Brexismus geworden, in dem das Chaotische der britischen Verhandlungsstrategie pseudoideologisch regiert, einem vermeintlichen Volkswillen gehorchend, der durch beispiellose, von dubiosen Geldgebern finanzierte Lügenkampagnen von Anbeginn korrumpiert worden ist.

Das Land leistet sich einen Außenminister, der ungestraft die EU mit der ehemaligen Sowjetunion verglichen hat, den Geist von Dünkirchen gegen "Brüssel" mobilisieren will und gleichzeitig verquere Geschichtslogik bietet: Britannien und Frankreich würden auch nach dem Brexit gute Beziehungen unterhalten, da schließlich beide im Ersten Weltkrieg Seite an Seite standen.

Der Brexit hat die britischen Inseln gespalten: England (ohne London) und Wales präsentierten sich als Brexisten, Schottland und Nordirland als EU-treu, wobei sich innerhalb dieser Teilstaaten erhebliche regionale Unterschiede im politischen Verhalten zum Brexit gebildet hatten. Das Paradoxon überhaupt war und ist wohl noch, dass diejenigen Regionen, die von der EU-Strukturförderung profitiert haben, für den Austritt aus der EU votierten.

Bizarr ist zudem das im Zeitalter wechselseitiger globaler Abhängigkeiten dramatisch veraltete Verständnis von "Souveränität", das dieser Entscheidung für den Brexit zugrunde liegt, noch bizarrer das Festhalten Whitehalls an einem Volksentscheid, dessen verfassungsrechtliche Bedeutung (bindend oder nur konsultativ) bis heute ungeklärt geblieben ist.

In Wahrheit befindet sich Britannien in seiner fundamentalsten Bewusstseinskrise seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Doch wer will die Wahrheit schon wahrhaben, wer sich ihr stellen...

Künftige Generationen im Nachteil – fehlender Protest an Hochschulen

Zwar sind die Gegenstimmen vernehmlicher geworden. Die Anti-Brexit-Demonstration in London – aber eben nur in London – im Oktober 2018, die über eine halbe Million Menschen mobilisieren konnte, ließ sich schwerlich übersehen. Aber die minderheitsregierungsoffizielle Selbstverblendung geht derweilen weiter.

Warum gab es sie nicht, die landesweiten Proteste der Hochschulen, ja des ganzen Bildungswesens gegen diesen wahnhaften Verrat an den Zukunftschancen der jungen Menschen, der durch den vollzogenen Brexit verübt werden wird? Stattdessen basteln die Brexiteers weiterhin an der Fiktion, das Commonwealth werde die entstehenden mas­si­ven Austrittsverluste kompensieren.

Wer auf diesen britischen Inseln nach Bekanntwerden der wesentlichen Fakten und Konsequenzen eines Brexit weiterhin für das Verlassen der EU eintritt, der ist verlassen – von den guten Geistern, die zu Gespenstern mutieren werden. Das hat Vorbilder. Denn schon Lessing hat in seiner Hamburgischen Dramaturgie festgestellt, das Gespenst bei Shakespeare sei eine handelnde Person. Nur agiert es inzwischen nicht mehr in Helsingør, sondern in Whitehall.