Das Bundeskanzleramt ist am Tag nach der Bundestagswahl im Regierungsviertel hinter Blätter zu sehen, die anfangen, sich herbstlich bunt zu verfärben.
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Koalitionsverhandlungen
Wie die Parteien ihre Positionen stärken können

Nach der Bundestagswahl hat das Ringen um eine Regierungskoalition begonnen. Verhandlungsexperten stellen sinnvolle Strategien der Parteien vor.

29.09.2021

Rot-Grün-Gelb, Schwarz-Grün-Gelb oder doch wieder eine große Koalition: Die Regierungsbildung wird in den nächsten Wochen nicht einfach werden. Aus Verhandlungssicht ist das Ergebnis der Bundestagswahl eine spannende Situation, sagen die Verhandlungsexperten Professorin Uta Herbst von der Universität Potsdam und Professor Markus Voeth von der Universität Hohenheim in Stuttgart. Die beiden Direktoren der Negotiation Academy Potsdam (NAP) beschäftigen sich mit Strategien und Taktiken, auf die es jetzt ankommen dürfte, teilten ihre Hochschulen gemeinsam mit. Schon die unerwartete Ankündigung von FDP und Grünen, sich zunächst untereinander abstimmen zu wollen, bevor sie in Verhandlungen mit den beiden großen Parteien eintreten, sei ein kluger Schachzug.

Das Wahlergebnis vom 26. September 2021 macht rechnerisch verschiedene Koalitionsoptionen möglich: Eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP sowie eine große Koalition aus SPD und CDU/CSU. Doch wie geht man die komplexen Verhandlungen am besten an? Aus Sicht der Experten Herbst und Voeth deuten die begonnenen Vorverhandlungen der "Königsmacher" auf einen ausgeklügelten Matchplan hin.

"Denn in diesen Gesprächen werden Grüne und FDP ausloten, welche Projekte des jeweils anderen sie nicht unterstützen werden und welche toleriert werden können. Mit dieser Liste der gegenseitig tolerierbaren Projekte werden sie dann in die Gespräche mit den beiden großen Parteien SPD und CDU/CSU gehen. Damit können sie verhindern, dass der größere Partner sie gegen den anderen kleineren ausspielt", erklärte Voeth. Das ziele quasi auf ein grün-gelbes Regierungsprogramm ab, da die beiden "Kleinen" so viele ihrer Themen durchsetzen könnten.

Verhandlungsoption "GroKo" nicht ausschließen

Verhandlungstechnisch nutzen Grüne und FDP nun laut Herbst aus, dass sie im Gegenzug zu SPD und CDU/CSU jeweils eine Alternative haben. Den beiden Großen falle jetzt auf die Füße, dass sie trotz inhaltlicher Schnittmengen eine Große Koalition im Wahlkampf ausgeschlossen haben und daher in den Koalitionsverhandlungen nun im Nachteil seien. Für die SPD könne laut Voeth die Neuerwägung einer Großen Koalition ein wichtiges Hilfsmittel sein, um in den Gesprächen eigene Themen gegenüber Grünen und FDP durchzusetzen. "Wahlgewinner Olaf Scholz sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, auf die CDU/CSU zuzugehen und sie zu Gesprächen über eine Koalition unter seiner Führung einzuladen, und damit gleichzeitig FDP und Grüne in Zugzwang bringen", erklärte Voeth. Vielleicht seien die Schnittmengen zwischen den großen am Ende auch doch größer als mit den sehr fordernden kleinen Parteien.

Für die CDU/CSU sieht Herbst nur die Möglichkeit, mit dem Wechsel in die Opposition zu drohen. Aus ihrer Sicht sei es verhandlungstaktisch ungeschickt gewesen, dass Armin Laschet gleich nach der Wahl angekündigt habe, er wolle eine Koalition unter seiner Führung bilden: "So hat er den Grünen und der FDP noch mehr Macht gegeben. Denn sie wissen nun, dass er zu allem bereit ist, um an die Macht zu kommen." Besser wäre es laut Voeth gewesen, erst mal abzuwarten. "Denn Grüne und FDP brauchen die CDU/CSU, um ihre eigenen Themen gegenüber der SPD durchzusetzen."

Seine Empfehlung lautet daher, dass sich die CDU/CSU zurücknehmen und erstmal die anderen machen lassen. Durch die Drohung mit der Opposition wachse sogar die Chance für CDU/CSU, ihre Themen durchzusetzen und vielleicht am Ende eine Koalition anzuführen. "Denn wenn Grüne und FDP die SPD nicht mehr mit ihrer Alternative 'Koalition mit der CDU/CSU' unter Druck setzen können, wird die SPD ihnen weniger Zugeständnisse machen. Und das vergrößert wiederum die Chancen der CDU/CSU doch noch eine Koalition unter eigener Führung zustande zu bringen", analysiert Herbst.

Vorbehalte gegenüber möglicher Minderheitsregierung

Ausgeblendet wird in den Koalitionsverhandlungen bisher, dass auch ein Regierungsformat möglich ist, das in anderen Ländern üblich ist, in Deutschland jedoch als Wagnis gilt: Eine Minderheitsregierung, die je nach inhaltlicher Überschneidung bei bestimmten Themen wechselnde Mehrheiten im Parlament mit unterschiedlichen Parteien bildet. Umfragedaten der Mannheimer Politikwissenschaftler Dr. Theres Matthieß und Professor Christian Stecker zufolge, die sie vor der Wahl erhoben haben, würden die Anhängerinnen und Anhänger aller im Bundestag vertretenen Parteien mehrheitlich eine mögliche Minderheitsregierung der politischen Gegenseite unterstützen.

"Wir sehen, dass die Wählerinnen und Wähler daran interessiert sind, dass die Parteien pragmatisch miteinander nach Kompromissen suchen und dies auch über die Grenzen von Regierung und Opposition möglich sein soll", fasst Stecker die Befunde der Online-Umfrage zusammen. Matthieß ergänzt: "Wir erkennen, dass die Leute auch Minderheitsregierungen gute Leistungen zutrauen und oft kein großer Unterschied zu einer Mehrheitsregierung besteht."

Die Befragten erwarten demnach von einer Minderheitsregierung "offenere" Diskurse und "ehrlichere" Kompromisse, halten sie jedoch für weniger stabil als eine Mehrheitsregierung. Die Präferenz der Wählerinnen und Wähler gehe generell zu Mehrheitsregierungen. Das erklären Matthieß und Stecker damit, dass positive Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in Deutschland fehlten und nur wenig über die Vorteile von Minderheitsregierungen etwa in Skandinavien oder Neuseeland bekannt sei. Gerade in einem zunehmend zersplitterten Parteiensystem seien flexible Mehrheiten gegenüber rigiden Mehrheitskoalitionen häufig im Vorteil, resümieren die Mannheimer Politikwissenschaftler.

ckr