Schriftzug am Eingang der Chinese University of Hongkong.
mauritius images / Ben MacLeod / Alamy / Alamy Stock Photos

Hongkong
Wie weit geht der Einfluss Chinas auf die Wissenschaft?

Seit Juli 2020 gilt in Hongkong das neue Nationale Sicherheitsgesetz. Wie wirkt sich dieses auf die akademische Freiheit vor Ort aus?

Von Gunter Schubert 26.01.2022

Im Frühjahr 2019 brach in Hongkong eine Protestbewegung aus, die sich gegen ein von der Regierung der Sonderverwaltungsregion (SVR) Hongkong betriebenes Auslieferungsgesetz richtete und die Welt über Monate in Atem hielt. Beendet wurde sie schließlich durch die Covid-19-Pandemie, die es der schwer unter Druck geratenen SVR-Chief-Executive Carrie Lam Anfang 2020 ermöglichte, Ausgangssperren zu verhängen. Damit wurde der Bewegung, die zwischenzeitlich in einen täglichen Straßenkampf gegen Polizeigewalt und für ein universelles Wahlrecht eingemündet war, das Wasser abgegraben. Den Rest besorgte die chinesische Zentralregierung, die im Mai 2020 ein neues Nationales Sicherheitsgesetz (NSG) für die SVR Hongkong verabschiedete, das am 1. Juli 2020 in Kraft trat. Die meisten Beobachter sind der Auffassung, dass damit dem Modell "ein Land, zwei Systeme" mit seiner im Hongkonger Basic Law festgeschriebenen Autonomie für Hongkong ein unwiderrufliches Ende gesetzt wurde. Die Zerschlagung der politischen Opposition, eine drastische Änderung des Wahlsystems und die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsbüros durch die chinesische Zentralregierung auf Hongkonger Boden zeugen von einem massiven Rückbau demokratischer Freiheiten in der SVR. Auch die akademische Freiheit in Hongkong ist seitdem in großer Gefahr.

Um die Situation an den Hongkonger Universitäten besser verstehen und einschätzen zu können, beschloss ich, einen Teil meines Forschungsfreisemesters im Herbst 2021 als Gastprofessor in Hongkong zu verbringen. Zwischen September und Dezember lehrte ich am Department of Government and Public Administration (GPA) sowie am Center for Chinese Studies (CSS) der Chinese University of Hong Kong (CUHK). Diese Tätigkeit gab mir die Möglichkeit, einen Einblick in die derzeitige Stimmungslage unter Sozial- und Geisteswissenschaftlern sowie in den Reihen des Verwaltungspersonals der CUHK zu gewinnen. Ich sprach auch mit Wissenschafterinnen und Wissenschaftlern anderer Hongkonger Hochschulen, deren Einschätzungen im Wesentlichen meine Beobachtungen an der CUHK bestätigten. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Viel spricht dafür, dass die akademische Freiheit, wie sie etwa in den Chicago Principles im Hinblick auf die universitäre Redefreiheit und umfassend in unserem Grundgesetz (Art. 5, Abs. 3,1) ausgelegt ist, in Hongkong erodiert. Offen ist einstweilen aber noch, ob die Universitäten damit am Ende denselben Restriktionen und einer ähnlichen ideologischen Einflussnahme durch die chinesische Zentralregierung ausgesetzt sein werden, wie dies derzeit in der Volksrepublik (VR) China allenthalben beobachtbar ist.

Divergierende Perspektiven in der Academia

Grundsätzlich sind in der Academia in Hongkong zwei Meinungslager unterscheidbar: Die einen verweisen darauf, dass es nach wie vor mehr akademische Freiheit und institutionelle Unabhängigkeit an den Hongkonger Universitäten gibt als in der VR China. Sie glauben nicht, dass die Zentralregierung sich in einem Maße in die Belange der Hochschulen einmischen werde, das ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit und Reputation kompromittieren würde. Die Hochschulleitungen schützten ihre Professorinnen und Professoren so weitgehend wie möglich gegen willkürliche Anfeindungen chinafreundlicher Parteien und Gruppierungen, und insgesamt seien Forschung und Lehre nach wie vor frei. Strukturelle Reformen, die auf die "Eingemeindung" verschiedener politikwissenschaftlich ausgerichteter Institute in größere Einheiten zielen*, seien eher eine Schutzmaßnahme der Universitätsleitungen als der Versuch der Zerstörung einer kritischen Sozialwissenschaft an den Universitäten. Das NSG hänge nämlich wie ein Damoklesschwert über den Universitätsleitungen und veranlasse diese, durch strukturelle "Anpassungsprozesse" den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Auch müssten sie der Tatsache Rechnung tragen, dass immer weniger Studierende politiknahe Fächer nachfragten, da sie sich dadurch exponierten und nach subjektiver Wahrnehmung ihre Karrierechancen aufs Spiel setzten.

Dabei muss man wissen, dass viele Studierende der Sozialwissenschaften eine federführende Rolle in der Protestbewegung von 2019 spielten und nicht wenige von ihnen derzeit inhaftiert sind und auf ihren Prozess warten. Auch Teile des Lehrkörpers waren aktiv beteiligt und stehen sehr wahrscheinlich unter genauer Beobachtung der Hongkonger Sicherheitsbehörden. Ob Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich bisher an Problemen des politischen Systems in Hongkong oder der VR China abarbeiteten, ihrer Arbeit zukünftig weiter nachgehen können, sei derzeit ungewiss. Man befinde sich an den Universitäten in einem Positionskampf mit der SVR-Regierung und der Zentralregierung. Eine Einmischung des Staates in das Mikromanagement der Hochschulen gebe es aber nicht und sei auch nicht zu erwarten.

"Eine direkte Einflussnahme der Zentralregierung auf die Universitätsleitungen sei von außen (noch) nicht erkennbar."

Das andere Meinungslager sieht die Dinge sehr viel pessimistischer. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich bisher kritisch mit der Politik in Hongkong und der VR China auseinandergesetzt haben, spüren Druck, und viele wollen die SVR verlassen. Besonders exponierte Köpfe haben dies bereits getan, weil sie – so jedenfalls ihre Vermutung – auf schwarzen Listen der Hongkonger Polizei und Strafverfolgungsbehörden stünden. Andere suchen nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten im Ausland – nicht, weil sie sich unmittelbar gefährdet sähen oder sich ihre Arbeitsbedingungen bereits spürbar verschlechtert hätten, sondern weil sie dies über kurz oder lang befürchten. Nicht zuletzt die Zukunft der in Hongkong intensiv betriebenen Chinaforschung wurde von meinen Kolleginnen und Kollegen als negativ eingeschätzt; zukünftig würde das Hongkonger University Grants Committee kaum mehr als politisch sensibel eingeschätzte Projekte bewilligen, abgesehen davon, dass deren Durchführung in der VR China wohl nicht mehr möglich sein werde.

Eine direkte Einflussnahme der Zentralregierung auf die Universitätsleitungen sei von außen indes (noch) nicht erkennbar. Vielmehr geht man im pessimistischen Lager davon aus, dass die Zentralregierung ihren Zugriff auf das Hongkonger Bildungssystem mit einer Mischung aus sanftem Druck und Signalpolitik vorantreiben werde – zu sehen etwa an der Vorgabe zur Einführung eines obligatorischen Kurses zum "richtigen Verständnis" des NSG für Bachelor-Studierende oder an den ständigen Hinweisen führender Politiker in Beijing, dass die akademische Freiheit in Hongkong gesichert sei, solange sie sich als "patriotisch" erweise und im Einklang mit dem NSG ausgeübt werde. Damit sei ein grauer Bereich definiert, in dem für das wissenschaftliche Personal nicht klar erkennbar sei, wo die Grenzen des politisch Tolerierbaren verlaufen. Genau dieser Governance-Modus aber, den die Hongkonger University Councils übernehmen müssten, um ihre Universitäten vor direkten Angriffen der Beijing-freundlichen Medien und letztlich der Zentralregierung selbst zu schützen, drohe die akademische Freiheit in der SVR zunichte zu machen. Er werde über kurz oder lang zum Exodus jener führen, die Chancen auf dem akademischen Arbeitsmarkt außerhalb von Hongkong haben. Daraus folgt, dass die, die bleiben, sich anpassen müssen – so etwa wie jener renommierte Kollege, der bisher zu den sozialen Bewegungen Hongkongs und zur Untergrundarbeit der chinesischen Einheitsfront in der SVR forschte, sich nun aber thematisch umorientiert.

Die Nervosität nimmt auch bei den Verwaltungen zu

Die Bedrohung durch das Nationale Sicherheitsgesetz hat in den letzten Monaten zur Auflösung der wichtigsten Studierendenorganisationen an den Hongkonger Universitäten geführt und die Arbeit der verbleibenden Vereinigungen auf College-Ebene weitgehend entpolitisiert. Die Erinnerung an den Aufstand vom 4. Juni 1989 ist durch die zeitgleiche Entfernung der Godesses of Democracy an der University of Hong Kong (HKU), der CUHK und der City University of Hong Kong (CityU) sowie eines Wandreliefs an der Lingnan University Ende 2021 nunmehr symbolträchtig getilgt worden, was die Universitätsleitungen mit möglichen Verstößen gegen das NSG rechtfertigten. Die Eingänge zu den Universitäten sind, mit Ausnahme der HKU, durch Gitter und Metallzäune gesichert und werden von speziell engagierten privaten Sicherheitskräften bewacht – angeblich aus Gründen des Pandemie-Managements, faktisch jedoch als Instrument der Zugangskontrolle, um eventuelle "Unruhestifter" abzuschrecken.

"Der Widerstandsgeist der Studierenden schwelt unter der Oberfläche politischen Stillhaltens."

Die Verwaltungen sind hochgradig nervös: Als an der CUHK im Rahmen der Graduation Ceremonies Anfang November 2021 Studierende weiße Bänder als Protest gegen die Auflösung der Student Association der Gesamtuniversität verteilten und einige Spruchbänder an zentralen Stellen auf dem Campus platzierten, wurden sofort die Sicherheitskräfte alarmiert. Dies und andere Formen des symbolischen Widerstands – wie zum Beispiel das Nicht-Abhängen von Postern und Fotos der Protestbewegung von 2019 in einem College der CUHK – zeigen: Der Widerstandsgeist der Studierenden schwelt unter der Oberfläche politischen Stillhaltens.  

Aufsehen erregte Mitte November 2020 eine Nachricht in der South China Morning Post, derzufolge der zukünftige Präsident der CityU eine Persönlichkeit mit festlandchinesischem Hintergrund sein solle. Kandidaten aus dem Westen oder mit einem taiwanischen Hintergrund würden explizit ausgeschlossen. Diese "Profilbeschreibung" wurde von der CityU umgehend dementiert, aber die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind überzeugt, dass es dort und anderenorts genau so kommen wird.

Hochschulkooperationen bleiben wichtig

Insgesamt befinden sich die Hongkonger Universitäten in einem Schwebezustand, allerdings mit Sinkflugtendenz – so sehen es jedenfalls die "Pessimisten". Ihnen zufolge werde der politische Druck auf die Hochschulen, vor allem auf die Sozial- und Geisteswissenschaften, weiter steigen – etwa durch eine veränderte Berufungspraxis, durch die zunehmend festlandchinesische Professorinnen und Professoren berufen würden sowie durch eine gleichzeitige Verdrängung China-kritischer Kräfte. Ein "probates" Mittel dafür sei die Verweigerung der so wichtigen Substantiation, also der Hochstufung und Entfristung des Lehrpersonals. Bei festgestellten dienstrechtlichen Verstößen gegen das NSG könnten auch Entlassungen ausgesprochen werden.

Ob es so kommt, bleibt abzuwarten. Die Zeichen für ein Fortbestehen der akademischen Freiheit stehen jedoch nicht gut in Hongkong. Die Zusammenarbeit mit ausländischen, auch deutschen Universitäten ist vor diesem Hintergrund wichtiger denn je, um die Hochschulen in der SVR in ihrem Ringen mit der Zentralregierung um die Erhaltung dieser Freiheit zu unterstützen und ihren Widerstand gegen eine zunehmende ideologische Vereinnahmung zu stärken. Dies nicht mindestens versucht zu haben, sollte keine Option sein.

* So etwa der Plan der CUHK, das renommierte Department of Government and Public Administration mit anderen Master-Programmen der Faculty of Social Sciences zu einer neuen School zusammenzufassen. An der CityU fusioniert das Department of Asian and International Studies im kommenden Jahr mit dem Department of Public Policy. An der Baptist University gibt es Überlegungen, das Department of Government and International Studies umzustrukturieren.