

Grundgesetz
"Schutzschild" für Verfassungsgericht
Die Ampel-Fraktionen und die Union haben sich darauf geeinigt, die Zahl der Richterinnen beziehungsweise Richter und der Senate sowie weitere zentrale Vorgaben zur Struktur des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz zu verankern. Damit wollen sie nach eigener Aussage die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Gerichts auch in stürmischen Zeiten sicherstellen. Entsprechende Pläne wurden gestern in Berlin vorgestellt.
Denn bisher wären Änderungen, die das Risiko einer Blockade oder einer politischen Instrumentalisierung bergen, theoretisch mit einer einfachen Mehrheit möglich. Für eine Änderung oder Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes ist dagegen immer eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat erforderlich. Das Gericht hat 16 Richterinnen und Richter und zwei Senate.
Eine Öffnungsklausel soll auch dafür sorgen, dass bei der Wahl neuer Richterinnen und Richter das jeweils andere Wahlorgan einspringen kann, wenn es im Bundestag oder im Bundesrat über einen längeren Zeitraum keine Zweidrittelmehrheit für eine Kandidatin oder einen Kandidaten geben sollte. An dem Grundsatz, dass die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts jeweils zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden, soll aber festgehalten werden.
"Parteiübergreifendes Signal der Geschlossenheit"
Die geplante Reform ist das Ergebnis vertraulicher Beratungen von Vertreterinnen und Vertretern der Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU. Der gemeinsame Erfolg sei ein Beleg für die Handlungsfähigkeit der demokratischen Kräfte bei der Stärkung der Wehrhaftigkeit und der Resilienz unseres Rechtsstaats, hält das "Gemeinsame Erläuterungspapier der Fraktionen" fest. "Das Bundesverfassungsgericht ist Schutzschild der Grundrechte, aber sein eigener Schutzschild braucht noch mehr Widerstandskraft", sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).
Es sei gut, dass ein Mechanismus gefunden worden sei, um etwaige Blockaden bei Verfassungsrichterwahlen zu verhindern, sagte der Justiziar der Unionsfraktion, Ansgar Heveling. "Damit ist das Bundesverfassungsgericht auch für stürmische politische Zeiten gerüstet." Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) teilte mit: "Damit stärken Demokratinnen und Demokraten nicht nur den Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor den Feinden unseres demokratischen Rechtsstaats, sondern sie senden auch ein wichtiges parteiübergreifendes Signal der Geschlossenheit."
Erfahrungen aus Polen
Die Verankerung der Stellung des Gerichts in der Verfassung selbst diene der Stärkung der Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit, erläutert das gemeinsame Papier der vier Fraktionen. Dass dies notwendig sei, begründen die beteiligten Parlamentarier nicht etwa mit dem Auftauchen neuer Parteien wie der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Vielmehr verweisen sie auf Bestrebungen "in einzelnen europäischen Ländern", die darauf gerichtet seien beziehungsweise waren, die Unabhängigkeit der Justiz in Frage zu stellen.
Unter anderem Erfahrungen aus Polen wurden in die Überlegungen einbezogen. In Polen hatte die mittlerweile abgewählte nationalkonservative PiS-Regierung, die das Land von 2015 bis 2023 führte, gleich nach ihrem Antritt damit begonnen, das Justizwesen nach ihren Vorstellungen umzubauen.
Zum weiteren Vorgehen heißt es im Erläuterungpapier, es solle nun zeitnah ein Gesetzentwurf "aus der Mitte des Bundestages" eingebracht werden und ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch in dieser Legislaturperiode erfolgen.
Bundesverfassungsgericht befürwortet Reformpläne
Die Pläne für eine stärkere gesetzliche Verankerung des Bundesverfassungsgerichts kommen beim höchsten deutschen Gericht gut an. Gegen wesentliche Aspekte der Reform erhebe das Plenum keine Einwendungen, heißt es in einer am 12. September veröffentlichten Stellungnahme. Im Hinblick auf die Wahl der Richterinnen und Richter habe sich der parteiübergreifende Konsens bewährt. Weil die Debatte darüber auf unterschiedlichen Prognosen über künftige politische Mehrheitsbildungen beruhe, verzichte das Gericht auf eine Stellungnahme zu diesem Punkt.
aktualisiert am 13.09.2024 um 9.00 Uhr, zuerst veröffentlicht am 24.07.2024
Interview
Auch Politikwissenschaftler Frank Decker von der Universität Bonn betonte im März im Gespräch mit "Forschung & Lehre" die Bedeutung des Schutzes des Bundesverfassungsgerichts. "Das ist richtig und wichtig. Denn wie man in Ungarn, Polen und den USA gesehen hat, ist die Gerichtsbarkeit der erste Schritt, über den extreme Parteien ein demokratisches System nach und nach aushöhlen, meist gefolgt von Eingriffen in die Medienfreiheit. Es ist das typische Drehbuch der Verwandlung einer Demokratie in ein autoritäres System."
Das komplette Interview lesen Sie hier: "Demokratie ist eine Zumutung"
dpa/hes