

Ostdeutsche Wissenschaft
35 Jahre nach Transformations-Beginn
Gab es in Ostdeutschland ohne Berlin zum Ende der DDR 46 öffentliche Hochschulen, so sind es heute 44 (zuzüglich acht verwaltungsinterner Fachhochschulen, in den östlichen Stadtbezirken Berlins gibt es sechs Hochschulen). Das sichert eine flächendeckende Versorgung mit Studienangeboten. Lediglich der Korridor Nord-Sachsen-Anhalt, Süd-Mecklenburg-Vorpommern und Nord-Brandenburg bildet einen nahezu hochschulfreien West-Ost-Streifen (was mit einer geringen Bevölkerungsdichte korrespondiert).
Bezogen auf alle Flächenländer leben in den fünf ostdeutschen Ländern 17 Prozent der Bevölkerung, werden dort 13,5 Prozent der Hochschulgrundmittel aufgewendet, verfügen sie über 16 Prozent aller Universitätsprofessuren und sind dort zwölf Prozent der Studierenden eingeschrieben. Werden auch die Stadtstaaten eingerechnet, verändert das diese Prozentwerte nicht bedeutsam. Doch soll hier zunächst auf die Flächenländer rekurriert werden, um Berlin-begründete Verzerrungen zu vermeiden.
Auch die Ausstattung mit außeruniversitären Forschungsinstituten entspricht inzwischen derjenigen im Westen Deutschlands, und ebenso ist mittlerweile die Ressortforschung des Bundes in dem Umfang präsent, wie es der Bevölkerungsanteil der östlichen Regionen nahelegt. Weitere Neuansiedlungen, finanziert aus den Kohleausstiegsmitteln, beginnen gerade, darunter auch eine Medizinische Universität in Cottbus. Eine gravierende Unterausstattung besteht indes bei der wirtschaftsgebundenen beziehungsweise Industrieforschung.
Die 1990er-Jahre und ihre Nachwirkungen
Hinter dieser Beschreibung verbergen sich 35 Jahre mit zum Teil dramatischen Entwicklungen. Einer davon muss man Langzeitwirkungen bis in die heutige Gegenwart zuschreiben: dem Verlust akademischer Beschäftigung für sechzig Prozent der ostdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (die angesichts dieser Größenordnung selbstredend weit überwiegend keine Stasi-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter oder willfährige Büttel des Regimes waren). Sehr viele von ihnen hatten beruflich anschließend nicht mehr adäquat Fuß fassen können. Das war ein Vorgang, der – neben anderen – in seiner Konfliktintensität und seinen Nachwirkungen herangezogen werden muss, wenn man die heutigen Verwerfungen innerhalb der ostdeutschen Teilgesellschaft verstehen möchte.
Man hat sich angewöhnt, dies als "Entwertung der Lebensleistungen der Ostdeutschen" zu formulieren, aber das ist fast zu rational. Es fängt die stetig nagende Wirkung des Gefühls, für überflüssig erklärt oder unerwünscht zu sein, nicht ein. Dieses Gefühl wurde erst kollektiviert und dann intergenerationell weitergegeben. Da dies nicht nur wissenschaftliches Personal betraf, sondern auch andere Berufsgruppen, erklärt es zwar nicht allein die heute sichtbar werdende Abwendung vom importierten politischen System der Bundesrepublik. Aber es erklärt einen Großteil der diesbezüglichen Differenz zwischen West und Ost.
"Die ostdeutsche Wissenschaft stellte sich nach ihrer radikalen Umgestaltung und einem knappen Jahrzehnt in halbwegs konsolidierten Strukturen als mehrheitlich leistungsgedämpft dar."
Zentral war in den 1990er-Jahren die Aussage, man habe keine Zeit. Es müssten möglichst schnell leistungsfähige Hochschulen und Forschungsinstitute entstehen. Nur so könnten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sich eine konkurrenzfähige Wissenschaft auch in Ostdeutschland entfalten könne. Dieses Zeit-Argument wischte alle anderen beiseite. Es wurde dann aber empirisch erst einmal deutlich dementiert.
Eine von uns durchgeführte Auswertung gesamtdeutscher und internationaler Leistungsvergleiche, in die insgesamt 66 verschiedene Indikatoren einbezogen waren, ergab: 2005 war die Leistung der ostdeutschen Forschung (auch hier ohne Berlin) in den mit hoher Reputation versehenen Sektoren – Universitäten und außeruniversitäre Forschung – weit überwiegend durchschnittlich bzw. unterdurchschnittlich. Die ostdeutsche Wissenschaft stellte sich nach ihrer radikalen Umgestaltung und einem knappen Jahrzehnt in halbwegs konsolidierten Strukturen als mehrheitlich leistungsgedämpft dar.
So lag zum Beispiel die Anzahl der ostdeutschen Patente im Jahr 2004 bei 2.536. Das war ein Fünftel der jährlichen DDR-Patente, und es waren nur fünf Prozent aller 2004 in Deutschland angemeldeten Patente. Auch bezogen auf je 100.000 Einwohner waren die Werte so niedrig, dass sich in der diesbezüglichen Statistik alle östlichen Ländern außer Thüringen die Plätze 13 bis 16 teilten. Oder: 2005 befanden sich von den damals 54 ostdeutschen gemeinschaftsfinanzierten Forschungsinstituten sechs Institute im bundesweiten Vergleich auf Spitzenpositionen. Das waren lediglich elf Prozent. Und betrachtet man die drei Runden der Exzellenzinitiative von 2006 bis 2012, so betrug der ostdeutsche Anteil an den erfolgreichen Anträgen nur fünf Prozent.
Die 2010er-Jahre: Beginnender Aufbruch
In den 2010er-Jahren arbeitete sich der Großteil der Hochschulen ins (zum Teil obere) Mittelfeld vor, und zugleich wurden nun auch Differenzierungen unübersehbar. Neben dem Sonderfall (Ost-)Berlin erwiesen sich die Hochschulen in drei Städten als sehr gut aufgestellt: in Dresden, Leipzig und Jena. Das hing und hängt zum einen mit der Standortattraktivität zusammen. Die Lebensqualität in diesen Städten ist so, dass nicht jedes Konkurrenzangebot die Leistungsträger wegzieht, und für Studierende handelt es sich um Orte, die es locker mit Hamburg, Frankfurt oder Köln aufnehmen können.
Zum anderen sind in diesen Städten starke Verdichtungen von Wissenschaftspotenzialen aufgebaut worden: Es gibt jeweils mehrere Hochschulen, die von zahlreichen außeruniversitären Instituten flankiert werden. Daneben hatten einige kleine Hochschulen bemerkenswerte Profile entwickelt und spielen seither in der Liga der Kleineren vorne mit: Weimar, Ilmenau, Potsdam und Freiberg.
Das war und ist vor allem aus einem Grund bemerkenswert: Die wirtschaftliche Leistungskraft der östlichen Bundesländer ist stetig geringer als die der westlichen Länder. Näherungsweise lässt sich das am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ablesen. Die ostdeutschen Flächenländer erzielen zusammen zwölf Prozent des BIP sämtlicher Flächenländer – bei, wie erwähnt, 17 Prozent Bevölkerungsanteil. Das schränkt die Möglichkeiten der Hochschulfinanzierung ein. Vor diesem Hintergrund ist aber eines durchaus erstaunlich: Der Anteil am BIP, den die ostdeutschen Flächenländer als Grundmittel für ihre Universitäten aufwenden, fällt mit 0,44 Prozent höher aus als in den westdeutschen Flächenländern mit 0,37 Prozent. Abgesehen von Brandenburg räumen die ostdeutschen Länder – unabhängig von den wechselnden politischen Zusammensetzungen ihrer Regierungen – der Wissenschaft in ihrer Ausgabenpolitik einen hohen Stellenwert ein. Aufgrund des insgesamt geringeren BIP jedoch fällt die strukturelle Unterfinanzierung im Osten dennoch stärker aus in den westdeutschen Flächenländern.
Letzteres hatte Auswirkungen. In der Exzellenzstrategie 2018 waren bundesweit 57 Cluster bewilligt worden. Zwischen der zweiten Antragsstufe und den letztlichen Bewilligungen scheiterten von den zur Antragsausarbeitung aufgeforderten ostdeutschen Clustern 55 Prozent, von den westdeutschen 29 Prozent. In den östlichen Flächenländern hatten die TU Dresden 2,5 Cluster und die Universität Jena ein Cluster eingeworben. Diese 3,5 Cluster waren acht Prozent aller an Flächenländer-Universitäten bewilligten Cluster.
Ost-interne Differenzen
Mit der TU Dresden und der Universität Jena sind zugleich Sachsen und Thüringen angesprochen – und damit auch ost-interne Differenzen. Die Höhe und Struktur von Drittmitteleinwerbungen bilden zwar nicht umstandslos wissenschaftliche Qualität ab. Sie sind aber Surrogate, mit denen man sich der wissenschaftlichen Qualität hilfsweise nähern kann, da solchen Mitteleinwerbungen Peer-Review-Prozesse zugrunde liegen. Hier lässt sich – auch über die Exzellenzstrategie hinaus – festhalten: In Sachsen wird auf jeweils 1,40 Euro, die das Land an Grundmitteln für seine Universitäten aufwendet, ein Euro an Drittmitteln eingeworben, in Thüringen für je 2,20 Euro an laufenden Grundmitteln. Beide Länder liegen damit deutlich über den westdeutschen Durchschnittswerten.
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hingegen sind die bundesweiten Schlusslichter in der Hochschulfinanzierung und werben auch deutlich unterdurchschnittlich Drittmittel ein. Dabei sind die heutigen Hochschulfinanzierungssituationen stark pfadabhängig bestimmt: Sie folgen einerseits der agrarisch geprägten Struktur Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns mit traditionell geringer Hochschulausstattung, andererseits der industriell geprägten Struktur Sachsens mit seit langem überdurchschnittlicher Wissenschaftsausstattung sowie den Rechnung tragenden Grundentscheidungen zur Hochschulausstattung und -finanzierung aus den 1990er-Jahren.
Jüngste Entwicklungen
Im Februar 2024 sind die ersten Vorentscheidungen über die neue Runde der Exzellenzstrategie gefallen. Zwar werden die Endergebnisse der Auswahl erst im Mai 2025 vorliegen. Doch die Vorentscheidungsrunde signalisierte, wer es schaffen könnte, also über wissenschaftliche Überdurchschnittlichkeit (zumindest nach den Kriterien der Exzellenzstrategie) verfügt. Die mediale Berichterstattung dazu war einseitig. "Der Süden ist stark" würde nur gelten, wenn man allein Baden-Württemberg und München für "den Süden" hielte. "Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wieder nicht dabei" heißt nicht, dass "der Osten" abgeschlagen in den Seilen hinge. Denn die östlichen Länder hatten mit Berlin unter den positiv bewerteten Cluster-Anträgen einen Anteil von 21,5 Prozent und ohne Berlin einen Anteil von 16,5 Prozent (Verbundanträge sind anteilig eingerechnet). Das übertrifft jeweils die Größe der Regionen, gemessen an den Einwohnerzahlen: Im Osten leben inklusive Berlin 19,5 Prozent und ohne Berlin 15 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung inklusive Stadtstaaten.
Annähernd so groß wie die ostdeutschen Flächenländer ist Bayern, das daher für einen Vergleich geeignet ist. Ohne München kommt es auf einen Wert von 91 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung ohne Berlin. Der bayerische Erfolg im jüngsten Exzellenzcluster-Vorausscheid indes ist ganz überwiegend durch die Münchner Universitäten errungen worden. Diese brachten 3,6 Anträge durch, die bayerische Provinz 1,7. Aus den ostdeutschen Regionen ohne Berlin hingegen sind 6,8 Anträge vorläufig bestätigt worden. Berücksichtigt man kalkulatorisch die neun Prozent Einwohnerdifferenz zwischen Bayern ohne München und Ostdeutschland ohne Berlin, dann waren die Universitäten der ostdeutschen Provinz viermal erfolgreicher als die der bayerischen Provinz.
"Es gibt gute Gründe, die Betrachtungen künftig vom Ost-West-Schema zu lösen."
Dieser exemplarische Vergleich zeigt: Es gibt gute Gründe, die Betrachtungen künftig vom Ost-West-Schema zu lösen. Eine "ostdeutsche Hochschullandschaft" gibt es nicht mehr, sondern 16 Landeshochschulsysteme, von denen fünf (und Berlin) im Osten der Republik liegen. In einer solchen Perspektive geht es neben allem Exzellenzhype vorrangig um eines: Möglichst überall sollte Solidität der Leistungsfähigkeiten gegeben sein. Da "exzellent" nur das grandios Überdurchschnittliche ist, versteht es sich von selbst, dass die meisten Hochschulen nicht exzellent sind. Deswegen sind sie noch nicht schlecht.
Angereizt werden könnte künftig das Bemühen um Klassenverbesserungen, also: aus der vierten Liga in die dritte, aus der dritten in die zweite aufzusteigen. So etwas zu fördern, wäre zwar nicht so schlagzeilenträchtig. Es stärkte aber das Fundament, das nötig ist, um auch Exzellenz zu entwickeln und zu verstetigen.