Dr. Anan Haidar
Universität zu Köln/Ellen Bornkessel

Geflüchtete Wissenschaftler
"Alle anderen waren verschwunden"

Strafrechtlerin Dr. Anan Haidar floh aus Syrien nach Deutschland. Neben ihrer Ausbildung halfen ihr auf ihrem Weg auch die zufälligen Begegnungen.

Von Katrin Schmermund 18.01.2020

Auf die Frage nach ihrem Lieblingsort in Köln nennt Dr. Anan Haidar ihr Büro. Juristische Standardwerke reihen sich darin in dunkelbraunen Regalen. Nur eine schwarze Robe unterbricht die Bücherwand. In der Mitte des Raums eine dunkle Ledercouch, drei graue Schreibtische. Keine persönlichen Bilder, keine Deko. Für Haidar ist der Raum trotzdem mehr als nur ihr Arbeitsplatz: "Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein", sagt die Strafrechtlerin, und das war ihr Ziel, als sie 2014 mit ihrem Mann aus Syrien floh.

In ihrem Heimatland habe sie nicht mehr sicher leben können, sagt die zierliche Frau mit den kurzen schwarzen Haaren beim Treffen in Köln. "Mein Mann hatte sich in der Öffentlichkeit kritisch über das Regime geäußert. Eines Tages stand dann ein Polizist vor unserer Haustür. Er fragte nach meinem Mann, der nicht zu Hause war. Also sagte der Polizist, er werde wiederkommen und dann entweder meinen Mann oder eben mich mitnehmen."

Das Wissenschaftler-Paar floh unter dem Vorwand, für Haidars krebskranken Vater Medikamente im Libanon holen zu wollen, über Griechenland und Spanien bis nach Deutschland.  Von einer Erstaufnahmeeinrichtung in Dortmund ging es quer durch NRW über Camps in Unna, Hemer und Wermelskirchen bis nach Köln. Während der ganzen Zeit hielt Haidar eine dunkelblaue Mappe eng bei sich. Fein säuberlich sortiert hatte sie darin Geburtsurkunden und Personalausweise von sich und ihrem Mann, ihre Heiratsurkunde, Abschlusszeugnisse und Zertifikate. Papiere, die sie in Deutschland brauchen könnte: "Ich habe die Mappe an mich gedrückt, wie ein kleines Kind", erzählt die 42-jährige Wissenschaftlerin. "Sie war das Wichtigste, das ich dabeihatte."

Flucht: Kontakte helfen bei Neuanfang

Angekommen in Deutschland erhielt Haidars Mann von der Universität zu Köln die Zusage für eine Förderung zusammen mit dem internationalen "Scholar Rescue Fund". Haidar fuhr mit zum Vorstellungsgespräch. Der Leiter der Abteilung "Internationale Wissenschaft", Dr. Johannes Müller, habe sie nach Ausbildung und Beruf gefragt. Haidar erzählte von ihrer Dissertation im Internationalen Strafrecht an der University of Reading in Großbritannien und ihrer Tätigkeit als Dozentin an der Law School der Universität Damaskus. Müller stellte daraufhin den Kontakt zu Professor Claus Kreß her, der in Köln den Lehrstuhl für internationales Strafrecht leitet. Haidar schickte ihm ihre Dissertation und machte ein Treffen mit ihm aus. Die Universität bewarb sich im Anschluss für sie um ein Philipp Schwartz-Stipendium.

"Ich kannte niemanden aus der Community. Warum sollte sich jemand für mich interessieren, dachte ich?"

Das Treffen in Köln beschreibt Haidar als ihren Türöffner in die deutsche Wissenschaft. Zwar sei sie auch schon vorher auf die Philipp-Schwartz-Initiative gestoßen. "Aber ich kannte niemanden aus der Community. Warum sollte sich jemand für mich interessieren, dachte ich?" Heute würde sie jedem empfehlen, einfach auf mögliche Arbeitgeber zuzugehen. "Es gibt mehr Fördermöglichkeiten, als man vielleicht denkt."

Haidar fing 2016 an, am Institut von Kreß zu arbeiten. Ihre größten Herausforderungen hätten dabei nicht auf dem Campus, sondern neben der Arbeit gelegen. "Ich musste mich in der Universität und Stadt zurechtfinden. Wir mussten eine Wohnung und eine Kita für unseren Sohn finden." Haidar war schwanger geflohen, auf die Welt kam ihr Sohn in Deutschland. Das Team am Internationalen Büro der Universität habe ihr bei der Suche nach Wohnung und Kita geholfen.

Eine Wohnung für das erste Jahr hatte die Universität bereits im Vorfeld organisiert. Danach waren Haidar und ihr Mann mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich Vermieterinnen und Vermieter immer für andere entschieden – auch, weil die beiden nur eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis hatten. Ein Bekannter ihres Manns habe sich schließlich für die beiden bei einer Vermieterin starkgemacht, die im Anschluss sogar bei der Suche nach einem Kindergarten mitgeholfen habe. Auf einen Platz musste die Familie wie viele andere ein gutes Jahr warten.

Das Stipendium lief über zweieinhalb Jahre. Anfang 2019 bekam sie eine halbe Stelle am selben Institut bis vorerst Mitte 2020. Das wissenschaftliche Arbeiten sei ähnlich wie in Syrien, sagt Haidar. Nur könne sie sich offener äußern. "An der Universität in Damaskus haben wir auf gesellschaftliche Probleme zwar hingewiesen, aber niemals Verantwortliche  genannt", sagt sie. Für Studierende habe das fatale Folgen, weil sie nur lernten, welche Vorstellung das Regime vom internationalen Strafrecht habe und das entspreche in keiner Weise internationalen Menschenrechtsstandards.

Haidar gehörte zu den wenigen Juristinnen und Juristen an der Universität in Damaskus, die offen systemkritisch waren. Kurz vor ihrer Flucht sei sie die Letzte gewesen, die aus der Gruppe noch übrig gewesen sei, sagt sie. "Alle anderen waren verschwunden. Ich hatte Angst, dass sie mich unter Folter verraten würden."Was aus ihnen geworden sei, wisse sie nicht. Auch wenn es ihr schwergefallen sei, habe sie den Kontakt abgebrochen, um sich und ihre Familie zu schützen.

Wissenschaftlicher Alltag in neuer Umgebung

Haidars Forschungsschwerpunkt liegt auf der Regionalisierung des internationalen Strafrechts mit einem Fokus auf den Mittleren Osten. In Köln könne sie damit ein neues Forschungsfeld erschließen. "Ich bin die Expertin für den Syrienkrieg", erklärt sie und schiebt nach: "Ich habe einfach den Vorteil, die Situation nicht nur theoretisch untersucht, sondern selbst erlebt zu haben."In Vorträgen spreche sie etwa darüber, warum die Strafjustiz in Syrien zurzeit nicht greife und wie sie wieder hergestellt werden könne.

"Er wollte, dass ich mich zu Hause und sicher fühle. Ich könne mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren, wenn mein Geist nicht frei sei."

Ein Höhepunkt ihrer Woche auf dem Campus sei das Kolloquium. Da die Runde oft auf Deutsch sei, habe ihr eine Kollegin in den ersten Monaten die wichtigsten Zusammenhänge immer auf Englisch zugeflüstert, damit sie der Diskussion habe folgen können.

"Meine Kolleginnen und Kollegen würde ich am liebsten die ganze Zeit umarmen", sagt Haidar und lacht. Viele seien mittlerweile gute Freunde. Sie erinnert sich noch gut an den ersten Tag, an dem Kreß ihr Büros, Hörsäle, Jura-Bibliothek und Kantinen gezeigt habe. "Er wollte, dass ich mich zu Hause und sicher fühle. Ich könne mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren, wenn mein Geist nicht frei sei, sagte er." Auch viele Kolleginnen und Kollegen hätten sie willkommen geheißen. Sie hätte die Chance genutzt, um sie zu fragen nach ihrer Ausbildung, ihrem Forschungsschwerpunkt, einem  typischen Tagesablauf am Institut. "Es war überwältigend für mich", sagt Haidar. "Ich habe gar nicht gewusst, wohin mit den ganzen Eindrücken und Informationen."

Die Arbeit helfe ihr, negative Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. "Der Großteil meiner Familie ist noch in Syrien. Viele haben in der Zwischenzeit Kinder bekommen, die ich nicht kenne. Meine Familie wiederum hat meinen Sohn noch nie gesehen."Einreisen könnten ihr Mann und sie in Syrien nicht mehr. Ihre Namen stünden auf einer "schwarzen Liste"des Regimes.

Während des Stipendiums habe sie begonnen, ihre Dissertation von 2010 für eine Veröffentlichung als Buch zu aktualisieren. "Es war aufwendiger als ich dachte", sagt Haidar. Durch den kurz danach begonnenen Arabischen Frühling habe sich vieles verändert. Regionale Gerichte, die sie damals in der Theorie untersucht hatte, seien mancherorts mittlerweile Realität geworden.

Immer wieder erwische sie sich dabei, dass sie sich mit deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ihrem Alter vergleiche. Nicht jeder Geflüchtete bekomme eine Chance wie sie. "Ich möchte mein Bestes geben. Doch manchmal merke ich, wie die Zeit verfliegt und ich gefühlt keinen Fortschritt bei meiner Arbeit mache", sagt sie. "Das ist frustrierend."

"Lotta"gehöre zu den Personen, die sie in solchen Momenten anrufe. Die ältere Dame lernte sie während ihrer Zeit in Wermelskirchen kennen. Sie war eine Nachbarin in der Gegend. Am ersten Tag habe sie eine Notiz vor die Tür gelegt, erzählt Haidar: "Wenn du Hilfe brauchst, melde dich", stand auf dem Papier geschrieben. Als Haidar sich nicht meldete, klingelte Lotta. "Sie hat einfach angefangen zu reden – über Politik, Kochen, Frauenprobleme", erzählt Haidar. Über Lotta habe sie ihre ersten deutschen Wörter gelernt. "Inzwischen ist sie wie eine Mutter für mich und die deutsche Oma meines Sohns."

Bangen ums Bleiben

Mit ihrem Mann habe sie Asyl in Deutschland beantragt. "Wir wollten den Schutz", sagt Haidar. "Wenn du kein Flüchtling bist, wirst du behandelt wie eine ‚normale‘ Person, aber das bin ich nicht. Ich bin aus einem Land geflohen, in dem ich nicht mehr leben konnte". Ihre Aufenthaltserlaubnis lief zunächst über drei Jahre. 2018 wurde sie um weitere drei Jahre verlängert.

Dass sie in nächster Zukunft frei in Syrien forschen könne, glaubt Haidar  nicht. Sie würde am liebsten weiterhin an der Kölner Universität arbeiten. "Das kann ich und das liebe ich", sagt sie. Aber die Wissenschaft sei umkämpft. "Da muss ich realistisch sein. Wenn ich etwas beitragen kann, ist das gut, aber wenn nicht, muss ich bereit sein, mich umzuorientieren." Sie überlegt kurz: "Dann werde ich eben Köchin; ich liebe kochen." Sie lacht. "Hauptsache, ich bin beschäftigt und hänge nicht von jemandem ab."