Außenansicht des Palais Lobkowicz, dem Sitz der Deutschen Botschaft in der Tschechischen Republik in Prag.
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Deutsche Einheit
Als die Botschaft in Prag Geschichte schrieb

Vor 30 Jahren stand die bundesdeutsche Botschaft in Prag im Fokus des Weltinteresses. Tausende DDR-Bürger hörten dort Genschers historische Worte.

Von Stefan Heinemeyer, Michael Heitmann und Gregor Mayer 29.09.2019

Der Rasen ist gepflegt, die Strauchrabatten im Garten sind akkurat geschnitten. Vor dem barocken Palais Lobkowicz in Prag kommen an diesem Tag Anfang September nur sporadisch Passanten vorbei. Die deutsche Botschaft in Tschechien residiert in einem ruhigen Viertel mit engen Gassen unterhalb der Prager Burg. Nur eine Schulklasse aus Nordrhein-Westfalen, die von der Rückseite interessiert durch den Botschaftszaun schaut, lässt es erahnen: Dies ist ein Ort mit einer außergewöhnlichen Geschichte.

30 Jahre zuvor herrscht hier Ausnahmezustand. DDR-Bürger klettern von hinten über den Zaun in den Garten der Botschaft der Bundesrepublik. Zu Tausenden strömen sie aus ihrem Land. Ihre verlassenen Trabants und Wartburgs parken überall in der Prag. Die Massenflucht ist eine von mehreren Entwicklungen, die 1989 zum Fall der Berliner Mauer und zur Öffnung der jahrzehntelang streng gesicherten innerdeutschen Grenze führen wird.

Im Inneren des ehemaligen Adelssitzes, der seit 1974 die Vertretung der Bundesrepublik beherbergt, schlafen Menschen in Doppelstockbetten. Draußen hat das Deutsche Rote Kreuz Zelte aufgebaut, dazwischen wird wild gecampt. Das Wetter ist eher schlecht in den ersten Septembertagen 1989, der Rasen wird zur Schlammwüste.

Drei Monate Botschaftslager

Einer, der das hautnah erlebt hat, ist Peter-Christian Bürger. Der heute 63-Jährige verbrachte mehr als drei Monate in der Prager Botschaft. Zwei Ausreiseanträge des gelernten Kochs aus Karl-Marx-Stadt, das seit 1990 wieder Chemnitz heißt, waren abgelehnt worden. Eine geplante Flucht Anfang 1986 scheiterte am Verrat eines Freundes. Bürger kam zeitweise ins Gefängnis.

Als er Ende Mai 1989 Fernsehberichte über Landsleute in Prag sieht, versucht er es erneut. "Ich sagte mir, du musst schauen, wie du in diese Botschaft kommst", erzählt Bürger. Bei Oberwiesenthal im Erzgebirge gelangt der 33-Jährige in der Nacht zum 21. Juni allein und ohne Papiere über die grüne Grenze in die damalige Tschechoslowakei. Das Land war wie die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg Teil des sogenannten sozialistischen Ostblocks.

An der Pforte der Botschaft bittet Peter-Christian Bürger um Einlass. Er ist drin! Auf Asyl kann er nicht hoffen. Aber: "Unser Glück war, dass die Bundesrepublik die DDR nicht anerkannte und wir für sie als Deutsche galten."

"Unser Glück war, dass die Bundesrepublik die DDR nicht anerkannte und wir für sie als Deutsche galten." Peter-Christian Bürger

Bürger trifft dort auf etwa 40 DDR-Flüchtlinge. Es ist die Zeit vor dem großen Ansturm. Die ersten Ankömmlinge werden im Dachgeschoss einquartiert. Ab Mitte August wird es immer voller. Der damalige Botschafter Hermann Huber bricht seinen Urlaub in der Schweiz ab. Nun sind es Dutzende Neuankömmlinge pro Tag. Zelte und Sanitäranlagen machen den weitläufigen Garten zum Wohnraum.

Weil der Alltag Ordnung braucht, wird eine "Lagerleitung" bestimmt, Bürger wird ihr Chef und Bindeglied zum Botschaftspersonal. Ein Bus der Botschaft holt bald täglich Essen, Sport- und Spielsachen aus dem bayerischen Furth im Wald. Auch der Schulbeginn am 1. September wird organisiert. Lehrer unter den Flüchtlingen und Ehefrauen von Botschaftsmitarbeitern geben Unterricht.

Die Stimmung bei den Geflüchteten schwankt. "Wir hatten auch Angst, dass alles schief geht", erinnert sich Bürger. "Die Mitarbeiter der Botschaft haben uns auch von unüberlegten Dingen abgehalten."

So drohen einige mit Hungerstreik, sie wollen sofort in den Westen. "Das Gute war, dass alle das gleiche Ziel verband. Wir wussten, dass wir zusammenhalten müssen. Das war das Wichtigste", sagt Bürger.

"Das ist ein Mann von uns"

In der zweiten Septemberhälfte steigt die Zahl der Flüchtlinge drastisch. Am 26. meldet Botschafter Huber an sein Außenministerium, dass sich rund 1.600 DDR-Bürger auf dem Gelände befinden. Überall im Palais Lobkowicz stehen Betten, selbst auf den breiten Treppen schlafen bald Menschen, zum Teil in Schichten. Rund 4.000 Flüchtlinge oder mehr drängen sich Ende des Monats dort.

Am Morgen des 30. September ahnt Peter-Christian Bürger nicht, dass ein historischer Abend bevorsteht. Zwar sagt man ihm, dass Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher kommen werde, doch Besuche von Regierungsvertretern waren nicht selten. Als der FDP-Politiker um 18.58 Uhr seine berühmten Worte zur Ausreise spricht, jubeln die Menschen. Sie fallen sich in die Arme, Tränen fließen.

Die Stimmung kippt kurz, als sie erfahren, dass die Züge Richtung Freiheit über DDR-Gebiet fahren sollen. "Nein, niemals" rufen viele. Es gibt auch Buh-Rufe, wie Bürger sagt. Zusicherungen, dass Botschaftspersonal die Züge begleiten wird, vor allem aber Genschers Persönlichkeit beruhigen die Menge. "Das ist ein Mann von uns, er ist diesen Weg auch gegangen", sagt Bürger heute. Der 1927 bei Halle an der Saale geborene Minister ging 1952 in den Westen. Heute erinnert eine Tafel auf dem Balkon an dessen historische Worte.

Sechs Züge verlassen Prag am Abend und in der Nacht Richtung Westen, Bürger sitzt im letzten. Die Fahrt geht auch durch seine Heimatstadt. Die Bahnhöfe sind menschenleer. Bürger lebt zunächst in Bayern, Südtirol und Spanien, 2009 kehrt er in seine Heimatstadt zurück.

Besondere Geburtstagsfeier

Katharina Bergmann hat die Zuspitzung der Lage in der Botschaft nicht mehr erlebt. Sie gehört zu den Flüchtlingen in der früheren Phase des Umbruchjahres. Zwei Versuche, über Ungarn in den Westen zu gelangen, scheitern. Ungarische Grenzer erwischen sie und einen Bekannten aus Halle und setzen sie in einen Zug zurück in die DDR. Sie folgen dem versteckten Hinweis eines ungarischen Beamten, in Prag auszusteigen.

Mit der Ausrede, sie kämen aus Düsseldorf und hätten ihre Ausweise verloren, schaffen sie es auf das Gelände der Botschaft. Da Bergmann noch nicht volljährig ist, sagen ihr die Botschaftsleute, dass sie ohne eine Vollmacht der Eltern nichts für sie tun könnten. Doch die junge Frau macht klar, dass sie freiwillig nicht gehen werde.

Ein paar Tage später feiert die Berlinerin ihren 18. Geburtstag mit anderen Flüchtlingen und Mitarbeitern des Sicherheitspersonals. Die Beamten besorgen auch das Nötige für die Party in der Nacht zum 19. Juli.

Doch die Feierlaune währt nicht lange. Es gibt ansonsten kaum Zerstreuung, die Tage vergehen mit Spielen und vor allem "reden, reden, reden", wie Bergmann erzählt. Als das mündlich übermittelte Angebot kommt, straffrei in die DDR zurückzukehren und bald eine Ausreisegenehmigung zu erhalten, ist Bergmann skeptisch. Sie will aber raus aus den beengten Wohnverhältnissen. Auch machen Gerüchte von Stasi-Spitzeln unter den Flüchtlingen die Runde. Entscheidend, sagt sie, sei dann das damals "grandiose Vertrauen in die Bundesrepublik" gewesen.

Nach rund zwei Wochen in der Botschaft verlässt Bergmann Prag. Als bei Bad Schandau in Sachsen der DDR-Grenzer im Zug eine "gute Weiterfahrt" wünscht, weiß sie, dass die erste Zusage nicht gelogen war. In den folgenden Wochen werden die Verhältnisse in der DDR unübersichtlicher und Bergmann ahnt: "Hier tut sich was." Noch vor dem Fall der Mauer im November zieht sie ihren Ausreiseantrag zurück. 1991 geht sie dann doch in den Westen des wiedervereinigten Landes. Bergmann wird Journalistin, heute arbeitet die 48-Jährige im Bundesfamilienministerium.

Büroarbeit in der Großküche

Außergewöhnlich ist die Lage im Sommer 1989 auch für die rund 70 Mitarbeiter der Botschaft. Viele müssen ihre Büros räumen. "Wir haben dann in der Großküche hinter den Repräsentationsräumen gesessen, an improvisierten Schreibtischen", berichtet Joachim Bruss. Der Dolmetscher kommt im September 1989 als Urlaubsvertretung an die Botschaft. Heute lebt der 73-jährige Pensionär in Prag. Es sei ihm unangenehm gewesen, mit seinem Aktenordner über die Treppe gehen zu müssen, auf der die Menschen lagen.

Einmal gerät Bruss in eine brenzlige Situation. Während seine Kollegen am 30. September die Flüchtlingszüge gen Westen begleiten, hält er in der Botschaft die Stellung. Da habe ein Mann angerufen und mit einer Bombe gedroht, angeblich aus dem Umfeld der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion, kurz RAF. Die Drohung habe sich als gegenstandslos herausgestellt.

Es bleibt nicht lange leer in der Botschaft, schon gegen Mittag des 30. September bitten rund 200 DDR-Bürger um Einlass. Bis zum 3. Oktober kommen wieder bis zu 5.000 Flüchtlinge zusammen, die einen Tag später ausreisen dürfen. Das Ganze wiederholt sich Anfang November, nachdem die DDR einen zwischenzeitlichen Visumzwang für Reisen in die Tschechoslowakei wieder aufhob.

Über den damaligen Botschafter Hermann Huber, der 2018 starb, sagen ehemalige Flüchtlinge und Mitarbeiter wie Bruss viel Gutes. "Da haben wir Glück gehabt", urteilt Bruss. Manchem Streit unter den Flüchtlingen habe er die Spitze genommen. Dabei sei das Engagement des Bayern keine Selbstverständlichkeit gewesen. Denn es habe auch Beamte gegeben, denen die Belastung durch die vielen Menschen lästig gewesen sei.

Hüter des Genscher-Balkons

Von der Dramatik vor 30 Jahren hat Christoph Israng als Abiturient nur aus dem Fernsehen erfahren. Seit August 2017 ist der 48-Jährige als Botschafter jetzt der Hüter des Genscher-Balkons. "Das ist eine ganz herausgehobene Stelle. Es ist wirklich ein Traum, hier arbeiten und leben zu dürfen", sagt Israng. Die Beziehungen zum wichtigen Nachbarland liefen nicht im "Autopilot". Sie seien gut, hätten ihr Potenzial aber noch nicht ausgeschöpft.

Wenn Israng heute auf den Balkon tritt und in den Garten blickt, kann er sich schwer vorstellen, dass da unten Zelte und Menschen im Schlamm standen. Auch in der Botschaft erinnert wenig an die Zeit von damals, abgesehen von einigen Bildern an den Wänden. Immerhin, in einem Besprechungsraum mit Fresken an den Wänden haben Doppelstockbetten Kratzspuren hinterlassen, sie wurden zum Zeichen der Erinnerung nicht ausgebessert.

Ungarn macht den Weg in den Westen frei

Ungarns Regierung hat damals schon früher, nämlich am 10. September, verkündet, dass alle im Land befindlichen DDR-Bürger frei ausreisen dürfen. Auch in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau sind es im Verlauf von drei Monaten rund 6.000 DDR-Flüchtlinge, die in den Westen gehen.

Die Geschehnisse in Prag jedoch haben historisch tiefere Spuren hinterlassen. An die großen Momente in der Moldau-Metropole will die Botschaft am 28. September mit einem "Fest der Freiheit" erinnern. Rund 300 ehemalige Flüchtlinge und Angehörige haben zugesagt. Eine Trabi-Parade soll in Prag enden. Die Botschaft erwartet auch Jeanette Biedermann, 39 und Sängerin. Als Neunjährige suchte sie mit ihren Eltern dort Zuflucht.

Botschafter Israng hofft auf spannende Geschichten von Zeitzeugen wie jenem Mann, der im Glitzerkostüm wohl von einem Disco-Besuch direkt in die Vertretung ging. Der Diplomat will aber auch den tschechischen Helfern von damals danken, wie den Zollbeamten, die unbürokratisch Hilfslieferungen durchließen, und Menschen, die Körbe mit Äpfeln über den Zaun reichten.

Besonders freut sich Israng auf Rudolf Seiters, heute 81 Jahre alt, der als Kanzleramtsminister 1989 wesentlichen Anteil an der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge hatte. Seiters stand damals im Schatten Genschers, der 2016 starb.

Auch Peter-Christian Bürger will Ende September wieder in Prag sein. Der 63-jährige Frührentner ist als Zeitzeuge gefragt. Er engagiert sich unter anderem für das Menschenrechtszentrum Cottbus, fährt regelmäßig in den Irak und bringt Hilfslieferungen in ein Flüchtlingscamp nahe Mossul. Bei den Flüchtlingsdebatten seit 2015 denkt Bürger auch an sein eigenes Schicksal. "Da kamen Menschen aus Kriegsregionen, die zum Teil viel schlimmere Dinge erlebt haben als wir damals. Sie suchen ein Leben in Frieden und mit Perspektiven."

Bürger erinnert an eine Geldspende, die ein Syrer 1989 bei der bundesdeutschen Botschaft in Damaskus abgab mit der Bitte, sie an eine Hilfsorganisation für geflüchtete DDR-Bürger weiterzuleiten. Er habe sogar eine Kopie des Fernschreibens: "Was soll dieser Syrer denken, wenn sein Sohn heute in Deutschland womöglich um Asyl nachsucht und der all diese Demonstrationen gegen Flüchtlinge sieht?"

dpa