Gemälde von Lyonel Feininger, "The High Shore"
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Lyonel Feininger-Biografie
"Als Lehrer zwiespältig, als Künstler berühmt"

Der Maler Lyonel Feininger hätte am 17. Juli seinen 150. Geburtstag gefeiert. Ein Gespräch mit dem Autor seiner neuen Biografie, Andreas Platthaus.

Von Charlotte Pardey 17.07.2021

Forschung & Lehre: Herr Platthaus, Sie haben vor Kurzem eine Biografie über den Maler und Karikaturisten Lyonel Feininger veröffentlicht, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte. Woher kam der Entschluss über ihn zu schreiben?

Andreas Platthaus: Über Lyonel Feininger zu schreiben ist ein Plan, den ich schon seit vielen Jahren im Hinterkopf hatte, weil mich der Comiczeichner Feininger als junger Mensch sehr faszinierte. Es war wie immer, wenn man anfängt, sich für etwas zu interessieren, dann kommen von überall Hinweise, was es noch Spannendes gibt. Mein Glück war, dass Feiningers Comicserien "The Kin-der Kids" und "Wee Willie Winkie’s World" damals gerade in Amerika nachgedruckt wurden in einer sehr schönen Buchausgabe. Ich war fassungslos über die Originalität, mit der Feininger erzählte, wunderbar frei und wild. Mit ihm waren Comics 1906 an einem Punkt, den sie eigentlich nie wieder erreichten und das, obwohl die Kunstform gerade erst aufkam. Das wollte ich einem größeren Publikum vorstellen und zeigen, inwieweit die Elemente dieser Comics später in Feiningers Kunst eingezogen sind. Dass ich nun nach mehr als 20 Jahren dieses Buch schreiben konnte, wurde durch ein Fellowship des Thomas Mann House in Pacific Palisades ermöglicht, das ein Schreibprojekt mit deutsch-amerikanischem Kulturbezug fördern sollte. Da Feininger zeit seines Lebens amerikanischer Staatsbürger blieb, aber den größten Teil seines Lebens in Deutschland verbrachte, passte mein Projekt genau.

Foto von Andreas Platthaus
Andreas Platthaus hat Philosophie, Rhetorik und Geschichte studiert. Er leitet das Ressort "Literatur und literarisches Leben" der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Wonge Bergmann

F&L: Was interessiert Sie an Lyonel Feininger besonders?

Andreas Platthaus: Feininger ist als alter Mann nach Jahrzehnten in Deutschland in die Vereinigten Staaten zurückgegangen. Das war 1937, und sobald man diese Jahreszahl hört, kann man sich vorstellen, was der Anlass dafür war: Er wollte nicht länger in Nazi-Deutschland leben. Andererseits hat er vier Jahre unter der NS-Diktatur gelebt und gearbeitet. Das war für ihn, einen Exponenten der künstlerischen Moderne, Meister am Bauhaus, also einer den Nazis wirklich verhassten Institution, eine unglaublich lange Wartezeit. Feininger konnte als amerikanischer Staatsbürger jederzeit zurückgehen. Die Frage, warum er es so lange in Nazi-Deutschland ausgehalten hat, interessierte mich sehr, und ich stellte fest, dass sie in bisherigen Studien so gut wie keine Rolle spielte. Hier konnte ich etwas Neues über Lyonel Feininger erzählen, deshalb habe ich auf diese Frage den Fokus meiner Forschungen in den amerikanischen Archiven gelegt.

F&L: Wie war es, 2019 in den Vereinigten Staaten zu forschen?

Andreas Platthaus: Die Archivarbeit in den Vereinigten Staaten war toll. Natürlich war das noch vor der Corona-Pandemie, so dass ich Bibliotheken und Archive auch betreten konnte. Ich habe sehr interessante Archivbestände gefunden, die teilweise noch nicht ausgewertet worden waren, und hatte dann Material für ein Buch, das wesentlich dicker wurde, als ich es ursprünglich dachte. Ein Jahr nach dem Fellowship, als ich für weitere Recherchen zurückfahren wollte, war das nicht mehr möglich. Es war ein unglaublicher Glücksfall, dass ich 2019 diese vier Monate in den Vereinigten Staaten verbringen konnte.

F&L: Ihr Material besteht hauptsächlich aus Feiningers Korrespondenz und seinen sogenannten "Naturskizzen". Hat Feininger auch Tagebuch geschrieben?

Andreas Platthaus: Feininger selbst hat kein Tagebuch geführt, aber seine zweite Frau, Julia Feininger. Das Unglück wollte, dass mir der Besuch an dem Ort, wo der ganze Nachlass der Familie liegt, nicht noch einmal möglich war. Ich war in einem anderen Archiv auf Auszüge aus einem Reisetagebuch von Julia nach ihrer Übersiedlung in die Vereinigten Staaten gestoßen. Vorher wusste ich nichts von diesen Aufzeichnungen. Es ist mir auch unklar, ob sie vielleicht nur über diese eine Reise Aufzeichnungen anfertige. Man erhält spannende Einblicke, wie sie und Feininger die amerikanische Welt sahen, in der sie beide noch nicht wieder richtig heimisch geworden waren. Feiningers Naturskizzen, diese Zeichnungen, die er von allem angefertigte, von dem er glaubte, dass er später mehr daraus machen könnte, waren für ihn Arbeitsmaterial: Momente, die ihn faszinierten, Ansichten, von bestimmten Konstellationen, Menschen und Plätzen; von winzigen Details oder auch großangelegten Landschaften. Diese Naturskizzen sind eine faszinierende Chronik seines Lebens, nur nicht immer datiert. Er hat mit ihnen über Jahrzehnte hinweg gearbeitet, dementsprechend sind sie eine fantastische Grundlage für sein künstlerisches Werk, aber sehr schwierig für Feststellungen, wann er wo in seinem Leben war.

F&L: Sie erwähnten gerade Feiningers Frau Julia, zu der ein sehr inniges Verhältnis gehabt haben soll. Können Sie uns mehr über sie erzählen?

Andreas Platthaus: Ohne Julia hätte Lyonel Feininger wohl nie den Mut gehabt, sich als freier Künstler zu versuchen. Sie ermutigte ihn dazu, kümmerte sich aber auch um die Organisation seines künstlerischen und privaten Lebens. Sie hat für seine Karriere die eigene künstlerische Tätigkeit geopfert, obwohl sie eine talentierte Malerin war. So etwas war Anfang des 20. Jahrhunderts noch viel üblicher, auch weil es für Frauen schwierig war, im patriarchalischen Kunstsystem zu reüssieren. Die Feiningers haben sich fast jeden Tag, den sie getrennt voneinander verbrachten, Briefe geschrieben. So hat man tausende Briefe. Bisher wurden fast nur diejenigen von Lyonel Feininger an Julia ausgewertet. Das liegt auch daran, dass sie seine Briefe abgetippt hat, um sie besser lesbar zu machen, obwohl die Handschrift von Feininger eigentlich hervorragend zu lesen ist. Sowohl die Originalbriefe als auch die Abschriften liegen im gleichen Archiv und wenn man dort Einsicht in die Korrespondenz erfragt, erhält man zunächst nur die Abschriften. Natürlich steckt in den Originalen mehr, denn einige unangenehme Dinge und intime Mitteilungen über die Familie unterdrückte Julia Feininger. Auch wollte sie gerade in Amerika nicht lesen müssen, dass Lyonel Feininger ein paar Mal Sympathie für Hitlers Politik geäußert hat. Diese Art des Kuratierens sollte man ihr nicht übelnehmen: Niemand von uns ist interessiert, dass alles Private nach außen getragen wird. Ich habe mir natürlich Mühe gegeben, ein paar Lücken zu füllen, die Julia Feininger offengelassen hat.

F&L: Gibt es Archivfunde, die Sie besonders gefreut haben?

Andreas Platthaus: Ja, ich kannte ein Zitat aus einem Katalog von 2011, entnommen einem Brief von 1933, in dem sich Feininger begeistert zeigte über eine Reichstagsrede von Hitler kurz nach dem Machtantritt der Nazis. Da konnte man noch nicht wissen, wie schlimm alles werden sollte. Es war allerdings schon zu Judenboykotten und Verhaftungen gekommen, und die ersten Konzentrationslager waren eingerichtet. Diesen Brief konnte ich finden, und auch wenn ich ihn nicht als Erster entdeckt habe, bin ich nun doch derjenige, der wahrscheinlich am längsten aus ihm zitiert. Ich habe dabei versucht, Feiningers Begeisterung im Kontext zu erklären. Ein zweiter Fund, der mich erfreut hat, auch weil er ein weniger unangenehmes Thema betrifft, sind Aufzeichnungen von Studentinnen, die Feininger 1945 am Black Mountain College im Südosten der Vereinigten Staaten unterrichtete. Studenten und Studentinnen waren damals aufgefordert, ihre Eindrücke vom Unterricht aufzuzeichnen. Es war bereits bekannt, dass Feininger eine unglaubliche Faszination auf seine Studierenden ausübte, wie meist noch Jahrzehnte später rückblickend erzählt wurde. In den Aufzeichnungen, die ich in Asheville, North Carolina, fand und die unmittelbar nach den Kursen gemacht worden waren, findet man das, womit Feininger begeisterte, nämlich mit seiner Zugewandtheit, seiner Menschenfreundlichkeit und seinem ganz praktischen Unterricht. Er bestärkte seine Zuhörerinnen und Zuhörer darin, ständig zu zeichnen. Die Aufzeichnungen liefern Einblicke in die großartigen pädagogischen Fähigkeiten eines Mannes, der eigentlich gar keinen Spaß daran hatte, zu unterrichten, weil er nicht gerne vor vielen Leuten sprach. In Einzelgesprächen konnte er allerdings wunderbar motivieren. Die Aufzeichnungen decken sich, obwohl sie von vier oder fünf unterschiedlichen Menschen stammen. Ich wusste nicht, dass es sie überhaupt gibt, und meines Erachtens hat sie auch niemand vor mir je näher angesehen. Dieser Fund hat mir immense Freude bereitet.

F&L: Können Sie noch mehr von Lyonel Feininger als Hochschullehrer beziehungsweise als Meister am Bauhaus berichten, zu deren Gründungsmeistern er 1919 gehörte?

Andreas Platthaus: Als Lehrer war er zwiespältig. Er weigerte sich seit 1925, Vorlesungen im klassischen Sinne zu halten. Als das Bauhaus damals von Weimar nach Dessau umzog, sollte er dazu bewegt werden, mitzukommen, weil er eine wichtige und integrative Figur war. Gleichzeitig war er zur damaligen Zeit als Künstler in Deutschland bereits sehr berühmt. Es bedeutete also etwas, Lyonel Feininger an der Schule zu haben. Feininger stimmte zu, pro forma Bauhaus-Meister zu bleiben, wollte aber nur an seiner eigenen Kunst arbeiten. Darauf ließ sich der damalige Direktor Walter Gropius ein. Wenn Feininger dann doch vereinzelt unterrichtete, begeisterte er seine Zuhörenden: Er zeigte Beispiele aus seinem eigenen Werk, um Inspirationspunkte zu bieten. Gleichzeitig forderte er von seinen Studierenden, ihren eigenen Weg zu finden. Er leitete sie darin an, stets Stifte parat zu haben und zu zeichnen, ohne dass die Umwelt sich dabei beobachtet fühlte, damit sie weiterhin authentisch blieb. Anders als seine Bauhaus-Kollegen Paul Klee und Wassily Kandinsky verkündete er keinen Stil als die alleingültige Kunstrichtung. Feininger war sehr liberal, er glaubte, alle müssten zu ihrer jeweils eigenen Kunst finden. Er sah auch keinen Unterschied in der künstlerischen Qualität von Frauen und Männern, während die allermeisten Bauhaus-Lehrer lieber Männer unterrichten und sie für kreativer hielten. Auch die Rassenfrage in den Vereinigten Staaten beurteilte Feininger skeptisch. Da war er seiner Zeit auf das Angenehmste voraus.

F&L: Feininger scheint sehr modern in einigen Punkten. Durch seine innere Zerrissenheit zwischen Deutschland und Amerika wirkt er sehr mobil. Dann wiederum beschreiben Sie ihn als sehr risikoscheu. Ist das der Effekt seines späten Wechsels zu Kunst und seines anstrengenden Wegs zum Erfolg? War er vielleicht modern wider Willen?

Andreas Platthaus: Der späte Einstieg in die Kunst war sicherlich prägend für ihn. Er war 35, als er anfing, sich als Künstler zu sehen und wirklich zu malen, vorher war er Karikaturist und Comiczeichner und hatte Kunst als Brotberuf betrieben. Er wusste, dass er mit seiner Begeisterung für freie Kunst 10 bis 15 Jahre später dran war als alle anderen, die um ihn herum Kunst machten. Demensprechend betrieb er das Ganze dann etwas fanatischer. Gleichzeitig rief der Erfolg auch eine gewisse Scheu bei ihm hervor, etwas davon wieder aufs Spiel zu setzen. Feininger war sehr erfolgreich in den 1920er-Jahren; es wird wenige Künstler gegeben haben, die damals größere Ausstellungen hatten oder erfolgreicher am Kunstmarkt waren. Aus diesem Grund sieht man bei Feininger von einem bestimmten Punkt an auch keine großen Stilwechsel mehr. Als er nach Amerika kam, hatte er Schwierigkeiten, mit dem dort einsetzenden Abstrakten Expressionismus zurechtzukommen. Feininger hat lange an seiner eigenen Auffassung von Kunst festgehalten – zu dem Preis, dass er in Amerika in den ersten Jahren keinen Erfolg hatte. Auch wenn er später anerkannt wurde, hat er nie eine ähnliche Bedeutung erlangt wie Jackson Pollock, Mark Rothko oder andere Pioniere des Abstrakten Expressionismus.

F&L: Wenn wir uns anlässlich Feiningers 150. Geburtstages mit seinem Leben beschäftigen, was kann man daraus lernen?

Andreas Platthaus: Man kann von ihm lernen, wie es ist, unter schwierigen Bedingungen als Künstler zu arbeiten. Selbst wenn man sich nicht mit Politik beschäftigen möchte, wird man von den äußeren Umständen nicht losgelassen. Feininger konnte sich der Politik nicht entziehen. Er ist nie politisch aktiv geworden, aber er lebte unter Bedingungen, die wir uns heute überhaupt nicht mehr vorstellen können: Diktatur, aber auch schon im Ersten Weltkrieg ein strenges Zensursystem und die Verpflichtung, sich als Angehöriger eines Feindstaates jeden Tag bei der deutschen Polizei zu melden. Diese Dinge sind zwar bekannt, aber wenn man sie an einem konkreten Leben so nah vorgeführt bekommt, merkt man, was es bedeutet, seit über 70 Jahren Frieden zu haben. Das lehrt Wertschätzung für die eigene Freiheit des Denkens und die entsprechende Lebensweise.

F&L: Feininger hat Deutschland erst sehr spät verlassen. Eine seiner Begründungen war, dass er sich sorgte, seine Bilder nicht mitnehmen zu können oder diese bei der Überfahrt zu verlieren. Wie sehen Sie das?

Andreas Platthaus: Feininger wollte nicht gehen, während seine Frau ganz dringend aus der NS-Diktatur wegwollte. Julia Feininger hat als Angehörige einer jüdischen Familie früher verstanden, was passierte. Anti-semitische Parolen in Deutschland konnte Feininger zwar angewidert zur Kenntnis nehmen, seine Frau aber war damit unmittelbar angesprochen. Lyonel Feininger hat sich in diesem Punkt traurigerweise nie so in seine Frau hineingedacht, wie man das angesichts ihrer symbiotischen Beziehung erwartet hätte. In meinen Augen waren die Sorgen um sein Werk Ausreden. 1936 war er für eine kurze Stippvisite in den Vereinigten Staaten und kam dann tatsächlich wieder zurück nach Deutschland. Seine Frau konnte nicht begreifen, warum sie nicht einfach in Amerika geblieben waren. Da hat er dann endlich verstanden. Zudem waren die Jahre 1936/37 besonders üble Zeiten hinsichtlich der antijüdischen Gesetzgebung. Als die Feiningers 1937 in die Vereinigten Staaten emigrierten, wusste Lyonel, dass es vielleicht ihre letzte Chance war zu gehen. Er ließ sehr viele Bilder in den Händen von Freunden zurück in der Hoffnung, dass er sie später zurückbekommen würde. Nach Kriegsende kümmerte er sich jedoch nicht mehr um sie. Da merkt man, dass die Sorge um die Bilder vorher eher eine Art Ausrede gewesen war. Er liebte seine Kunst zweifellos, aber am Ende liebte er seine Familie mehr.

F&L: Es gibt immer Dinge, die man nicht herausfindet. Gibt es eine Frage, die Sie Feininger gerne stellen würden?

Andreas Platthaus: Unbedingt. Auch beim Ersten Weltkrieg bildet die Frage, warum Feininger in Deutschland blieb, einen blinden Fleck in der Forschung. Als er sich vom Kriegseintritt der Vereinigten Staaten an täglich bei der Polizei melden musste, empfand er dies als Demütigung: Es gibt einige Briefe, in denen er Besuche bei den jeweiligen Kontrollstellen schildert. Die sind voller Zorn, wenn es Misstrauen ihm gegenüber gegeben hatte. Er blieb auch damals in Deutschland, obwohl er ohne Probleme in die Schweiz hätte gehen können, wo auch die Versorgungslage viel besser gewesen wäre. Doch er fühlte sich dem Deutschen Reich verbunden. Er wohnte mittlerweile seit 30 Jahren dort, auch seine Freunde lebten da, und er hat das Land als seine Heimat angesehen. Er konnte sich in Deutschland während des Kriegs auch erstaunlich frei bewegen, bekam Urlaub ohne Meldepflicht genehmigt und konnte seine Kunst ausstellen. Bis zuletzt habe ich gehofft, in einem Brief eine Bemerkung dazu zu finden, wer ihn protegierte, aber ich habe nichts gefunden. Das bedauere ich, und hätte ich die Chance, dann würde ich ihn gerne zum Ersten Weltkrieg befragen.

Zum Nachlesen:

Platthaus, Andreas. Lyonel Feininger. Porträt eines Lebens. Rowohlt: Berlin, 2021.