Eine Person schiebt einen schwarzen Balken weg, der den Blick auf die Wolken versperrt
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Freiheit in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft
Anspruchsvolle Zumutung

Was sind die Voraussetzungen von Freiheit, wo liegen ihre Grenzen, wo ist sie bedroht? Ein Beitrag über ein Kernthema unserer Zeit.

Von Bernhard Kempen Ausgabe 5/17

Vor wenigen Tagen erhielt ich die Mail einer mir seit langem bekannten türkischen Kollegin, von der ich weiß, dass sie dem Verfassungsreferendum kritisch gegenübersteht. Ich kenne sie so gut, dass ich mich darüber wunderte, dass sie mit keinem Wort die politische Situation in der Türkei erwähnte. Und ich erschrak, als sie in einem Telefonat, das wir wenige Tage später führten, auf meine harmlose Bemerkung, in der Türkei ginge es derzeit turbulent zu, hastig erklärte, dies sollten wir bei unserer nächsten persönlichen Begegnung besprechen.

Ob Freiheit verloren geht, erkennt man an der Angst. Wenn Menschen im vertraulichen Gespräch nicht mehr offen miteinander reden, weil sie befürchten müssen, dass ihre Gespräche abgehört werden, dann ist genau der Zustand erreicht, den der freiheitliche Verfassungsstaat überwinden wollte. Deutschland hat zweimal die Erfahrung machen müssen, was es bedeutet, wenn die Kommunikationsfreiheiten und die Meinungsfreiheit keine Beachtung mehr finden. Heute leben wir in dem Bewusstsein, jederzeit denken und sagen zu können, was wir wollen.

Der freiheitliche Verfassungsstaat

Unsere Freiheit ist, wie es der Staatsrechtler und frühere Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde ausgedrückt hat, "doppelt genäht": Durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte und durch die demokratische Mitwirkung an allen Entscheidungen der Staatsgewalt. Besser kann Freiheit nicht garantiert werden.

Das Konzept der grundrechtlichen Freiheit hat mich dabei schon im ersten Semester meines Jurastudiums fasziniert. Die Formulierung "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat nur deswegen gewählt, weil ihnen der Vorschlag "Jeder kann tun und lassen, was er will" sprachlich nicht angemessen schien. Inhaltlich will das Grundgesetz aber genau dies: sicher stellen, dass jeder tun und lassen kann, was er will, wobei das Grundgesetz einräumt, dass diese Freiheit beschränkt werden darf, aber nur auf der Grundlage eines demokratisch beschlossenen Gesetzes und nur, soweit die Freiheit nicht unverhältnismäßig stark beschränkt wird.

Sind wir uns bewusst, dass diese Verfassungsmechanik unser Glück ausmacht? Wissen wir die "doppelt genähte" Freiheit zu schätzen? In der Mehrheit der 195 Staaten ist die Freiheit keineswegs doppelt genäht. Der Stoff der Freiheit ist dort schlichtweg nicht vorhanden.

Von dem schon erwähnten Böckenförde stammt übrigens auch das Diktum, der freiheitliche Verfassungsstaat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Wie wahr! Schon in einer formal-institutionellen Perspektive trifft das zu. Ohne die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, zur Wahl zu gehen, sich politisch zu engagieren und öffentliche Ämter anzustreben und anzunehmen, wäre kein Staat zu machen.

Die freiheitliche Gesellschaft

Aber der freiheitliche Verfassungsstaat ist voraussetzungsvoll auch in ganz anderer, materieller Hinsicht. Er lebt davon, dass die Menschen von ihrer Freiheit auf unterschiedliche Weise Gebrauch machen. Die freiheitliche staatliche Ordnung ist ohne eine freiheitliche Gesellschaft nicht denkbar.

In vielen Pluralismuskonzepten findet sich dabei der Gedanke, dass die Gesellschaft eine mehr oder weniger ausgeprägte Werteorientierung aufweisen müsse. Die Werteangebote reichen von dem grundlegenden Bekenntnis zur Menschenwürde über Leitkultur, Toleranz und Solidarität bis hin zur "offenen" multikulturellen Gesellschaft, deren Grenzen nicht nur verschwimmen, sondern ausdrücklich aufgehoben sind.

Mich hat die Werte-Rhetorik offen gesagt nie überzeugt. Mal erweisen sich die "Werte" als schlichte Abstraktionen von Verfassungssätzen, mal als ideologische Projektionen, mal als verzweifelte Illusionen, mal als fruchtlose Utopien.

In der freiheitlichen Gesellschaft gibt es nur einen "Wert", nämlich die Anforderung, die Freiheitsausübung der Anderen als Zumutung zu ertragen. Diese Freiheitszumutung bedeutet, dass der Arbeitgeber die Koalitionen der Arbeitnehmer ertragen muss und umgekehrt der Arbeitnehmer diejenigen der Arbeitgeber, dass der Rechte die wirren Thesen der Linken und der Linke die wirren Thesen der Rechten ertragen muss, dass Politiker die fake news der Zeitungen hinnehmen und Zeitungen entrückte Politiker erdulden, dass Menschen sich an moderner Kunst erfreuen oder an ihr verzweifeln, dass Forschungsergebnisse als bahnbrechende Erkenntnis oder als fundamentaler Irrtum angesehen werden, dass religiöse Überzeugung als Letztverbindlichkeit oder als Irrationalismus begriffen wird.

Die innere Erosion der Freiheit

Die Freiheitszumutung ist anspruchsvoll. Eine Gesellschaft, die sich diesem Anspruch nicht mehr gewachsen zeigt, verliert ihre Freiheit nicht durch staatliche Repression, sondern durch innere Erosion. Solche Erosionsprozesse kommen unmerklich in Gang, zersetzen die gesellschaftlichen Strukturen und am Ende die gesamte staatliche Ordnung. Weimar ist auch eine Chiffre für die innere Erosion der Freiheit.

Und vielleicht ist political correctness ebenfalls eine solche Chiffre. Ich sage "vielleicht", weil der Begriff umstritten ist. Ursprünglich, in den späten 80er Jahren stand er an amerikanischen Hochschulen für den Versuch, die Rassendiskriminierung auch dadurch zu überwinden, dass herabwürdigende Begriffe und Wendungen vermieden werden. Gegen diesen Grundimpuls ist aus meiner Sicht nichts einzuwenden. Ich muss kein Sprachwissenschaftler sein, um die politische Bedeutung von Sprache zu erkennen, und ich muss kein Ethiker sein, um zu verstehen, dass diskriminierte Minderheiten schutzbedürftig sind.

Doch bei dieser ursprünglichen Bedeutung ist political correctness nicht stehen geblieben. Political correctness wurde in den 90er Jahren zu einem Kampfbegriff der Konservativen in den USA, die den Begriff in ironischer Wendung gegen die unzähligen, maßlosen und überbordenden Sprach- und Verhaltensreglementierungen der Linken in Stellung brachten. Und in dieser ironischen, abwertenden Bedeutung ist er nun auch in Deutschland rezipiert. Der Begriff wird hierzulande fast durchgängig pejorativ verwendet, seine legitime ursprüngliche Bedeutung ist in der transatlantischen Rezeption untergegangen, weil die Forderungen nach einem politisch korrekten Sprechen und Handeln jedes Maß verloren haben.

So wie die legitimen Anfänge der political correctness liegen ihre illegitimen Auswüchse in den amerikanischen Hochschulen. Ging es dort am Anfang um den Schutz vor Rassendiskriminierung, so geht es heute um den Schutz vor vermeintlicher Ungerechtigkeit an und für sich. Zu den diversity-Konzepten amerikanischer Hochschulen gehört heute, dass jede sich diskriminiert fühlende Gruppe einen grundsätzlich unbestrittenen Anspruch darauf hat, in der Universität als einem geschützten Raum vor jeder subjektiv empfundenen Misshelligkeit bewahrt zu werden.

Ein amerikanischer Dozent, der an Halloween einen Sombrero aufsetzt, muss sich vor den universitären Aufsichtsgremien für diesen "Akt kultureller Aneignung" verantworten, ein Professor, der in der Vorlesung die Metamorphosen des Ovid behandelt, ohne auf die sexuelle Deutlichkeit des Textes vorher hinzuweisen, verliert fast seinen Job, und ein Rektor, der in einer Festrede Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten preist, begeht einen furchtbaren fauxpas, weil er damit den "Mythos der Meritokratie" befördert und so tut, als spielten Rasse und Gender keine Rolle.

Wir befinden uns nicht mehr in der Rolle des Zuschauers, der freundlich interessiert und innerlich distanziert nach Amerika schaut. Längst ist nicht nur der Begriff der political correctness hier angekommen, sondern mit ihm auch die haarsträubende Phänomenologie angeblich inkorrekten Verhaltens.

Es wird unsere Aufgabe sein, die Universität als einen Ort der offenen Kommunikation zu erhalten, als einen Ort, an dem in einer Atmosphäre des wechselseitigen Respekts miteinander gesprochen und gestritten wird, als einen Ort, an dem die wechselseitige Freiheitszumutung von Lehrenden und Lernenden zum Alltag gehört. Wir werden nicht zulassen, dass selbsternannte Tugendwächter Sprachregeln diktieren, dass wissenschaftlich fundierte Auffassungen als politisch inakzeptabel diskreditiert werden, dass das Ausmaß von Protesten darüber bestimmt, wer in der Universität vortragen darf und wer nicht.

Wenn wir nicht beherzt für unsere Freiheit eintreten, dann werden wir sie verlieren. Dann ergeht es uns, wenn auch aus ganz anderen Gründen, aber im Ergebnis ganz ähnlich wie meiner türkischen Kollegin: Wir verlieren die Fähigkeit zum offenen Wort, weil wir Angst haben, dass es gegen uns gewendet wird.