Zwei Jahre Nahost-Konflikt
Antisemitismus als politischer Mobilisierungsfaktor
Zwei Jahre nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 und der sich anschließenden israelischen Militäroffensive im Gazastreifen sind antisemitische Vorfälle weiter auf hohem Niveau – mit schwerwiegenden Folgen für Jüdinnen und Juden in Deutschland. Das zeigt die Publikation "Politischer Antisemitismus seit dem 7. Oktober" des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS). Im Zentrum des Berichts steht die erstmalige Auswertung von 2.225 Versammlungen vom 7. Oktober 2023 bis Ende 2024, bei denen antisemitische Inhalte dokumentiert wurden.
"Aufrufe zur Vernichtung Israels, Befürwortung von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, offene Unterstützung des Terrors der Hamas und die Relativierung der Schoa – all das ist zwei Jahre nach dem 7. Oktober zur bedrückenden Normalität geworden", fasst RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz die Auswertung zusammen. Dabei wirkt dem Bericht zufolge Israelfeindschaft als vereinigende Strategie bei Versammlungen von politischen Mischszenen aus antiisraelischen Aktivistinnen und Aktivisten, islamistischen Gruppen und links-antiimperialistischen Personen.
Bundeskanzler Friedrich Merz warnt angesichts des zweiten Jahrestags des Hamas-Überfalls auf Israel vor Antisemitismus in Deutschland. "Seit dem 7. Oktober 2023 erleben wir in Deutschland eine neue Welle des Antisemitismus. Er zeigt sich in altem und neuem Gewand – in den sozialen Medien, an den Universitäten, auf unseren Straßen; immer lauter, immer unverschämter und immer öfter auch in Form von Gewalt", sagte der CDU-Politiker in einer Videobotschaft.
Antisemitismus an Hochschulen verdreifacht
Die von RIAS dokumentierte Anzahl antisemitischer Vorfälle an Hochschulen hat sich von 151 im Jahr 2023 auf 450 Vorfälle im Jahr 2024 nahezu verdreifacht. Noch 2022 hatte RIAS lediglich 23 Vorkommnisse registriert. Die Zunahme von antisemitischen Vorfällen hat demzufolge zu einem steigenden Bedarf an Beratung und Unterstützung von Betroffenen geführt – besonders an Schulen.
In Deutschland entstanden ab Mai 2024 auf Dauer angelegte Protestcamps an und um Hochschulen, heißt es im Bericht. RIAS erfasste in 18 Städten in acht Bundesländern Protestcamps bei denen israelbezogener Antisemitismus dokumentiert wurden. Die Dauer der Camps habe von wenigen Tagen bis zu einigen Monaten gereicht. Im Bericht wird als Beispiel für israelbezogenen Antisemitismus auf Versammlungen an Hochschulen die Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin am 22. Mai 2024 genannt.
An Hochschulen zeigen sich die Auswirkungen von mobilisiertem Antisemitismus in der zuletzt gestiegenen Anzahl an Vorfällen und im wachsenden Druck auf Studierende und Lehrende, so RIAS in einer Pressemitteilung. Das Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender sieht die Freiheit von Forschung und Lehre gefährdet. Im Bericht spricht der Vorstand des Netzwerks in einem Interviewbeitrag von "einer tiefen Verunsicherung" bei vielen jüdischen Hochschullehrenden. Der Rückzug sei dabei nicht nur ein häufiger Schutzreflex, sondern manchmal auch eine bewusste Entscheidung. Es sei ein Versuch, sich dem ständigen Erklären, Aushalten und Kämpfen zumindest temporär zu entziehen. Alle Statusgruppen an Hochschulen seien relevant, wenn es um die Wahrnehmung und Bearbeitung von Antisemitismus gehe. Das betreffe nicht nur Studierende, sondern ebenso Lehrende, Hochschulleitungen und das Verwaltungspersonal.
Sebastian Mohr, Teamleiter der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA), erwähnt in einem Interview im RIAS-Bericht, dass seine Servicestelle ab 2024 viele Anfragen von Hochschulen erreichten. "Gefragt waren vor allem Fortbildungen für Mitarbeitende im Umgang mit Antisemitismus und dem Konfliktfeld Israel-Palästina", führt er weiter aus. Anwältin Kristin Pietrzyk betont in ihrem Berichtsbeitrag, dass Universitäten Antisemitismus nicht untätig begegnen dürfen: "Lehreinrichtungen brauchen klare Schutz- und Deeskalationskonzepte, konsequentes Hausrecht und unabhängige Anlaufstellen."
cva