Symbolbild Bürokratie: Gezeichnete Figur mit Hut und Stock neben bunten Paragraphenzeichen.
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Moderne Gesellschaft
Ballade von der verwalteten Welt

Die Bürokratie ist ein vielschichtiges Phänomen. Zur Geburt der Gesellschaftstheorie aus dem Geist der Bürokratiekritik.

Von Philipp Felsch 03.08.2022

Mit der ihm eigenen Süffisanz hat Niklas Luhmann einmal bemerkt, die wachsende Bedeutung von Organisationen in der modernen Gesellschaft habe für eine "Negativwertung des literarischen Topos der Bürokratie" gesorgt. Das ist insofern untertrieben, als sich der Topos kaum von dieser negativen Wertung trennen lässt. Der Terminus bureaucratie – erstmals in den 1760er Jahren von den französischen Physiokraten gegen die merkantilistischen Freihandelsgegner eingesetzt – stellte nach dem Vorbild der aristotelischen Klassifikation von Regierungsformen nicht nur das Walten, sondern die Herrschaft der bureaux, also der Schreibstuben der absolutistischen Verwaltung fest – mit anderen Worten: Er prangerte eine Kompetenzüberschreitung an. Den pejorativen Beigeschmack ist der Begriff, der im Lauf des 19. Jahrhunderts auch in die übrigen europäischen Sprachen einwanderte, nie wieder losgeworden. Bürokratie – das war immer schon ein Übermaß oder Versagen oder Missbrauch von Verwaltung, der sich in den Augen seiner Kritiker durch übertriebene Zentralisierung, verschleppte Amtswege, Unpersönlichkeit, Wirklichkeitsferne, "Vielschreiberei" und dergleichen mehr auszeichnete.

Im deutschen Sprachraum – und besonders in Preußen – tauchte diese Diagnose zum ersten Mal im Vormärz auf. Die Kritik an der Hypertrophie der Staatstätigkeit und an der Ineffizienz der königlichen Verwaltung fand damals sowohl im liberalen wie im konservativen Lager Resonanz. Neuerdings sei "aller Orten und bei den verschieden­sten Gelegenheiten von 'Bureaukratie' die Rede", stellte der liberale Staatswissenschaftler Robert von Mohl 1846 fest – und zwar "in der Regel nicht in wohlwollendem und billigendem Sinne". Dass es sich bei dem Begriff um eine Fremd- und keine Selbstbezeichnung handelte, geht aus einer weiteren Bemerkung von Mohls hervor: "Niemand hat sich noch dazu selbst bekannt, ein Bureaukrat zu seyn." Als Maßnahmen, um das Wachstum der "Actengletscher" einzudämmen, empfahl Mohl, abgesehen von einer stärkeren Dezentralisierung der Verwaltung, den Ausbau zivilgesellschaftlicher Strukturen: die Belebung des "Gemeindelebens", des "staatsbürgerlichen Sinnes" und des "Geists der Association".

Nach der Jahrhundertwende

Die Expansion des modernen Interventionsstaats löste nach der Jahrhundertwende die zweite Welle der Bürokratiekritik aus. Schon Robert von Mohl hatte den Bedeutungswandel des Begriffs von einem Fachterminus der Behörden-Organisation zur Diagnose einer "gesellschaftlichen Gewalt" beobachtet.  Doch erst jetzt, im intellektuellen Klima der Zwischenkriegszeit, wurde das Phänomen der Bürokratisierung zum Paradigma gesamtgesellschaftlicher Analyse. Dabei ist an erster Stelle an Max Webers Theorie der "bürokratischen Herrschaft" zu denken, deren idealtypischer Kriterienkatalog von der Sachlich- und Regelmäßigkeit der Amtsführung über die Professionalisierung der Beamten bis zur Aktenmäßigkeit der Verfahren reicht. Als "rationalste" stellte die bürokratische für Weber zugleich die effizienteste und stabilste Form staatlicher Herrschaft dar. "Wo die Bürokratisierung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist", heißt es in einer Passage, aus der ebenso die Melancholie des Liberalen wie der kalte Blick des Realisten spricht, "da ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Form der Herrschaftsbeziehung geschaffen." Zugleich Sozialpsychologie des disziplinierten Menschen und Philosophie des "stahlharten Gehäuses" der Rationalisierung machte Webers Theorie nebenbei auch deutlich, warum die fortgeschrittene bürgerliche Gesellschaft durch keine Revolution mehr zu erschüttern sei.

Mit dieser ernüchternden Diagnose erwies sie sich für die Kritik der modernen Verhältnisse als mindestens so suggestiv wie die Marxsche Theorie. In seiner Kritik der politischen Ökonomie hatte Marx die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft aufs Korn genommen, für deren Zusammenhalt der magische Glaube an den Fetisch der Ware ausschlaggebend sei. Dagegen betonte Weber die unerbittliche Rationalität des Status quo und die daraus resultierende Fugenlosigkeit des bürokratischen Herrschaftsapparats. Den messianischen Gedanken, dieser Apparat müsse an seinen internen Widersprüchen zerbrechen, sucht man in seinen Schriften vergeblich. Während die Neomarxisten der frühen Frankfurter Schule in der fortschreitenden Bürokratisierung schon das letzte Gefecht des Kapitalismus sahen, besiegelte sie aus Webers Perspektive das Ende jedes revolutionären Erwartungshorizonts.

"Nach 1945 avancierte die Diagnose der 'Bürokratisierung' zum Schlüssel der Matrix der spätkapitalistischen Welt."

Die gesellschaftstheoretischen Debatten der zweiten Jahrhunderthälfte haben sich aus beiden Quellen gespeist, doch gewann die pessimistische Webersche Variante über weite Strecken die Oberhand. So wie wir heute gerne von "Neoliberalismus" sprechen, um das schlechte Ganze zu benennen, so avancierte nach 1945 die Diagnose der "Bürokratisierung" zum Schlüssel der Matrix der spätkapitalistischen Welt. Quer durch die verschiedensten politischen Lager und Theoriefamilien wurde fortan die Ballade von der "verwalteten Welt" angestimmt.

Adornos "Verblendungszusammenhang"

Adorno, von dem die Formel stammt, verwendete sie als Synonym für den universellen Verblendungszusammenhang. Schon vor dem Krieg hatte Friedrich Pollock, das ökonomische Mastermind der Frankfurter Schule, das Absterben der freien Zirkulationssphäre in der heraufziehenden Ära des "bürokratischen Staatskapitalismus" konstatiert. Seither lebe die liberale Demokratie, so die These, nur noch als Schimäre fort. Aus diesem Gedanken schlug Adorno den Funkenregen seiner Kulturkritik, was die Tatsache erklärt, dass seine Bücher von "scheinhaftem", also überlebtem Leben wimmeln. "Das Unheil geschieht nicht als radikale Auslöschung des Gewesenen", heißt es in den Minima Moralia, "sondern indem das geschichtlich Verurteilte tot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wird".

Es waren Adornos Schüler, die Achtundsechziger, die aus diesem Befund die radikalsten Konsequenzen zogen. In ihrem berüchtigten "Organisationsreferat" von 1967 entlarvten Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl den anbrechenden Faschismus in der Bundesrepublik. Von schrumpfenden Profitraten in die Defensive getrieben sehe sich das Kapital gezwungen, die Mechanismen der liberalen Demokratie auszuhebeln, um seine Macht durch unmittelbare, "bürokratische" Herrschaft zu sichern. Daher schließe sich die Gesellschaft zur "staatlichen Gesamtkaserne" zusammen. Um den unabwendbaren "Kampf gegen die Institutionen" aufzunehmen, riefen sie zur "Propaganda der Tat" in den Metropolen auf.

Nichts hätte dem konservativen Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen ferner liegen können. Doch auch Gehlen diagnostizierte die Übermacht der "Produktions- und Verwaltungsmaschine" in der industriellen Gesellschaft und sagte das Schrumpfen individueller Handlungsspielräume, das Absterben weltanschaulicher "Schlüsselattitüden" und die "Kristallisation" kultureller Formen in der Ära des Posthistoire voraus. Die Gleichschaltung der Individuen in den Apparaten hielt er allerdings nicht nur für unvermeidlich, sondern durchaus für begrüßenswert, denn nur durch starke Institutionen sei es möglich, das Mängelwesen Mensch vor seinen natürlichen Instinkten und vor dem Rückfall ins Chaos zu bewahren.

Foucaults "Disziplinargesellschaft"

Direkt an Max Weber knüpfte wenig später Michel Foucault mit seiner Theorie der "Disziplinargesellschaft" an. Was Weber lediglich angedeutet hatte, nämlich die "Eingestelltheit der Menschen auf die Innehaltung der gewohnten Normen und Reglements", machte Foucault zum Gegenstand seiner historischen Analysen, in denen er die Mechanismen rekonstruierte, mittels derer die Insassen moderner Disziplinarinstitutionen vom Internat bis zum Gefängnis die Zwänge bürokratischer Rationalität internalisierten (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft).

"In den Nachkriegsjahren hatte die Bürokratisierungsthese Hochkonjunktur."

Man könnte viele weitere Begriffe anführen, um die Hochkonjunktur der Bürokratisierungsthese in den Nachkriegsjahrzehnten zu illustrieren: Herbert Marcuses "eindimensionalen Menschen" etwa oder Erich Fromms "Megamaschine" oder Rüdiger Altmanns Diagnose der "formierten Gesellschaft". Und natürlich gehört auch Hannah Arendts "Banalität des Bösen", verkörpert im Schreibtischtäter Adolf Eichmann, in diesen Zusammenhang. Den menschlichen "Rädchen" der Verwaltungsmaschinerie, von denen schon Weber gesprochen hatte, verlieh der Organisator der "Endlösung" ein gerade in seiner Gewöhnlichkeit erschreckendes Gesicht.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts

Es sind verschiedene Faktoren, die der Diagnose der "Bürokratisierung" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre große Überzeugungskraft verliehen. An erster Stelle ist die historische Erfahrung der totalitären Herrschaft und des Holocaust zu nennen. Der Eindruck, in der durchrationalisierten Gesellschaft sei die Geschichte zum Stillstand gekommen, wurde durch den Defaitismus der Intellektuellen nach dem Ende ihrer heroischen Epoche im ideologischen "Weltbürgerkrieg" ver­stärkt.  Man muss aber ebenso bedenken, dass in den Stäben des Wiederaufbaus und während der Prosperitätsphase der trente glorieuses in der Tat eine präzedenzlose Planungseuphorie um sich griff.

Der Niedergang des keynesianischen Optimismus in den 1970er Jahren fällt mit dem Aufstieg von Niklas Luhmanns Systemtheorie zusammen. Genau wie die Erben Webers ging auch Luhmann von den Funktionsgesetzen bürokratischer Institutionen aus, um die moderne Gesellschaft zu verstehen. Allerdings orientierte er sich an der neueren amerikanischen Organisationssoziologie, die auf die Bedeutung informeller Freiheitsräume innerhalb solcher Institutionen hingewiesen hatte. Gestützt auf diese Erkenntnisse, die das Webersche Gehäuse weitaus weniger stählern erscheinen ließen, kehrte er die Vorzeichen um: In seiner Theorie, von einem ihrer Kritiker als "manipulative Verwaltungswissenschaft" bezeichnet, tritt Bürokratie nicht länger als Bedrohung, sondern als Blaupause der modernen Gesellschaft auf. Soziale Systeme, die daraus hervorgehen, dass über einen längeren Zeitraum ein Innen von einem Außen unterschieden wird, erfüllen Luhmann zufolge dieselbe Funktion wie "formale Organisationen", nämlich – ganz undramatisch – die Verhaltenserwartungen ihrer Mitglieder zu stabilisieren. Damit markiert seine Theorie zugleich den Höhe- und Endpunkt der Ballade von der verwalteten Welt, die für die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft lange so charakteristisch war.

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