Halle einer lichtdurchfluteten, großen und modernen Bibliothek mit wellenartiker Innenarchitektur.
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Digitalisierung
Bibliotheken in der Transformation

Ist den Bibliotheken der Sprung ins Digitalzeitalter gelungen? Ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe von F&L anlässlich des Tags der Bibliotheken.

Wir blicken in die Zukunft der Bibliotheken und fragen, was sich ändert. Zwei Funktionen kann man unterscheiden, und entsprechend orientiert sich unser Ausblick. Zum einen sind Bibliotheken Sammlungen, waren es seit frühesten Zeiten und sind es noch heute. Wenn das Sammlungsgut sich ändert und aus Büchern Dateien werden, transformiert sich auch die Sammlung selbst, ihre Verwaltung und Sicherung, ihre Verzeichnung und Erforschung. Digitale Texte tauchen in zahlreichen technischen Varianten auf und stellen für die Bibliotheken schon allein deshalb vielfältige Herausforderungen dar. Die mit Strom gefütterte Bibliothek ist ähnlich komplex wie die alte mit ihren Regalen voller Bücher. 

Zum anderen aber hatten und haben Bibliotheken die Funktion, veröffentlichte Werke zugänglich zu machen, sie – ganz unabhängig von medialen Formaten – an Nutzerinnen und Nutzer zu vermitteln. Diese Aufgabe bleibt im digitalen Zeitalter bestehen. Bei aller technischen Kunst, Texte und andere Kulturgüter auf digitalen Endgeräten abrufbar zu machen: Der Textzugang wird in digitalen Zeiten modifiziert, nicht grundlegend geändert. Bibliotheken bleiben im konkreten wie im übertragenen Sinn solche Einrichtungen, in die man sich selber einladen, wo man das Recht auf Information jederzeit durch den Schritt über die Schwelle – oder durch ein Passwort – einfordern kann. Anders gesagt: Die digitale Bibliothek setzt eigentlich nur die Arbeit fort, welche die Moderne für Bibliotheken bestimmt hat und bei der es auf den ungehinderten Zugang ankommt, also auf die freie Nutzung. 

Zu fragen wäre allenfalls, ob ältere Formen der Zensur beziehungsweise der Bevormundung – durch selektive Erwerbung oder nachträgliche Aussonderung – in digitalen Zeiten zusätzliche und trickreiche Hebel erhalten und etwa Bezahlschranken dort setzen, wo vordem keine waren. Bibliotheken sind erkennbar oft dem Gewinnstreben der internationalen Verlage dienstbar.

Bibliotheken als gesellschaftliche Einrichtungen 

Dass Bibliotheken zwei wesentliche Funktionen besitzen, die einander in die Quere kommen können, wurde bereits im 19. Jahrhundert vielfach formuliert. Bedauernd stellte man fest, dass die Sorge für den Bestand und dessen möglichst beste Bewahrung für die Zukunft dort eine Grenze findet, wo der Bevölkerung Zugriff gewährt werden muss. Der französische Intellektuelle Léon de Laborde formulierte das 1843 in seinen "Briefen über die Organisation von Bibliotheken" unmissverständlich: Bibliotheken sind von einem Zielkonflikt durchzogen: bewahren und verfügbar machen. Diese Einsicht findet sich dann auch in so gut wie allen Handbüchern der Bibliothekslehre. Adolf von Harnack, Leiter der Berliner Königlichen Bibliothek, unterstreicht den Imperativ der Benutzung, wenn er 1912 in einer Parlamentsrede ausruft: "Ein Buch, das niemals gelesen wird, hat seinen Beruf verfehlt, und ein Buch, auch ein Bibliotheksbuch, das zerlesen wird, hat ein würdigeres Los gefunden als ein Buch, das 'in Schönheit' lebt, aber niemals gelesen wird." Benutzung ist in der Moderne nicht mehr etwas, das die Arbeit der Bibliotheken beeinträchtigt, es ist deren Priorität.

Die prioritäre Ausrichtung auf das Publikum ist im 19. Jahrhundert durchaus neu; damit wird die Definition der Bibliothek als exklusives Refugium der Bücher aufgekündigt. Bibliotheken sind bis in unsere Tage nur ausnahmsweise noch reine Literaturarchive, hauptsächlich in der Form privater Sammlungen und mancher Spezialbibliotheken. In der Regel richten sich Bibliotheken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts am Publikum aus: Was dieses verlangt, wird angeschafft. Das betrifft auch die Gebäude, die nun Lesesäle enthalten, Toiletten, Garderoben und Lüftungsanlagen – Dinge, die für Bücher nicht nötig waren. Vor allem aber der Bestand wird für die Nachfrage durch die Leserschaft angelegt. Für wissenschaftliche Bibliotheken ist das selbstverständlich, für die – seit dem 19. Jahrhundert neu auftauchenden – öffentlichen Bibliotheken auch. Es geht beim Bibliotheksbesuch nicht um irgendwelche Literatur, sondern um die neuesten Publikationen, die aktuellsten Zeitschriftenaufsätze, die jüngsten Romane. 

Was sich in der Bibliothekswelt seit dem 19. Jahrhundert geändert hat, ist keine vorübergehende Neuausrichtung, ganz im Gegenteil: Die Nutzungspriorität bleibt und wird zum zentralen Anliegen der Bibliotheken – Sammlungsaufgaben etwa von Nationalbibliotheken ausgenommen. Man erkennt die Nutzungspriorität an den aus Steuergeld getragenen Kosten: Bibliotheksetats bleiben weitgehend stabil und sichern Medien und Personal, und das auf lokaler, regionaler sowie nationaler Ebene. Bibliotheken sind spätestens seit 1900 – weltweit – anerkannte und überall geförderte gesellschaftliche Institutionen, sie werden als extrem relevant für die Bildung und die Ausbildung angesehen – und das gilt bis heute. 

In der Gründungsepoche moderner Bibliotheken hat der amerikanische Industrielle und Mäzen Andrew Carnegie sein in Stiftungen transformiertes Geld auch für Bibliotheken arbeiten lassen. Zwischen 1896 und 1917 war er es, der in den USA und im damals sehr ausgedehnten britischen Weltreich über 2.800 Bibliotheksgebäude errichten ließ, meist vom Typ Öffentliche Bibliothek. Carnegie förderte in New York City auch den Bau von 65 Stadtteilbibliotheken und bekannte, dass ihm sehr daran gelegen sei, Bibliotheken in die größtmögliche Nähe zu denjenigen Menschen zu bringen, die sie nutzen. 

Nicht überall gab es Gönner wie Carnegie, wohl aber teilten viele Politiker seine Interessen. Manchmal hat man es sogar eine "Bibliotheksbewegung" genannt, die nach 1900 viele Gesellschaften erfasste, so in den USA, aber auch im republikanischen China ab 1912. Dort hat man erneut nach der Kulturrevolution ab 1978 den Ausbau des Bibliothekssystems gefördert; heute stehen die größten und beeindruckendsten Bibliotheksbauten der Welt in Shanghai, Tianjin und Tongzhou. Modern sind diese Bauten, weil sie Lesesäle in große Dimensionen steigern und die Nutzung mit dem Platzangebot Schritt hält. 

Bibliotheksarbeit im Wandel 

Die Qualifikationen derer, die in Bibliotheken arbeiten, verändern sich mit den gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen. Schon die Magazinbauten der Zeit um 1900 waren Innovationen, die damals einsetzende Nutzung von Elektrizität für Beleuchtung, Belüftung und Transport ebenfalls. Seit den 1970er-Jahren übernahmen Datenverarbeitungsmaschinen in den Bibliotheken Teile der Katalogisierung und die Statistik der Entleihungen. 

Neuerdings nun füllt die digitale Textwirtschaft – eine wiederum innovative Art der schriftstellerischen Produktion, aber auch der buchhändlerischen Distribution und Rezeption durchs Publikum – nicht mehr Regale, sondern elektronische Speicher. In der Folge machen Bibliothekarinnen und Bibliothekare die Kataloge zu Suchmaschinen und ermöglichen, dass man mit einem Klick von der bibliografischen Information zum Volltext gelangt. Sobald Verlage ihr Geld eher mit Open-Access-Publikationen verdienen, unterstützen die Bibliotheksmanager mit ihrem Erwerbungsetat auch Publikationsfonds, welche die auf Autorenseite anfallenden Kosten tragen oder mindern. 

Nutzungstechnisch ist der Übergang in immer mehr digitale Angebote im Gange und ändert die Arbeit in den Bibliotheken nachhaltig, was mit einem immer weiter diversifizierten Personal gelingt. Neue Kolleginnen und Kollegen haben Qualifikationen etwa im direkten Umgang mit den aktuellen Textbewirtschaftungen und im Vorfeld dazu, wenn Menschen damit vertraut gemacht werden sollen. Digitale Netzwerke verbinden die Belegschaften und die Fachgemeinschaften auch in der Welt der Bibliothekarinnen und Bibliothekare; soziale Medien verknüpfen sie mit den Nutzenden und solchen, die es werden wollen. Bibliotheken werden heute als Agenturen des digitalen Wandels sichtbar und erweisen sich als unverzichtbar: öffentliche Bibliotheken als Mediatoren des technologischen Überschusses, wissenschaftliche Einrichtungen, was die Aushandlungen zwischen Studierenden (als Lesenden), Forschenden (als Publizierenden) und den verschiedenen Märkten der Textvermarktung angeht. 

Nochmals zur Erinnerung: Die heute erlebbaren Veränderungen stehen in direkter Verbindung zur Priorisierung der Nutzung, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert weltweit die Bibliothekslandschaften prägt. Die Professionalisierung der bibliothekarischen Arbeitsformen, für die es noch Mitte des 19. Jahrhundert keine Ausbildungsgänge gab, ist ebenso ein Zeichen dieser Modernität wie die aktuelle Transformation dieser Ausbildungsgänge (und deren Subversion durch Quereinsteiger), um eine noch größere Öffnung zum Publikum, noch passendere Dienstleistungen rund um Informationen, Kenntnisse und Wissensformationen zu erreichen. Bibliotheken sind in dieser Sichtweise die geborenen Befürworter von Meinungsvielfalt und selbstständiger Meinungsbildung. 

Diese Zwischenstellung der Bibliotheken zwischen dem, was veröffentlicht wird, und den Zugangswegen dazu ist das, was eine "moderne" Bibliothek ausmacht. Sie tut alles für die Nutzung, das heißt den leichten Zugriff auf Texte, Bilder und Videos – auch und vor allem jenseits kommerzieller Angebote. Hier entdecken immer mehr Stadtbibliotheken demokratiefördernde Aufgabenbereiche und initiieren auch Gesprächsveranstaltungen aus den Bibliotheken heraus. Wissenschaftliche Bibliotheken sind Teil der freien Wissensreproduktion und beschleunigen damit die rational basierte Forschung auch in gesellschaftlich relevanten Bereichen. Man hat die Universitätsbibliothek früher oft als das Herz des Universitätscampus bezeichnet. Das ist sie, recht besehen, noch heute, denn ohne das im Interesse aller Nutzerinnen und Nutzer gesteuerte Management der Literaturzugriffe samt den dahinterstehenden Lizenzen und Verträgen ist der Austausch relevanter Informationen über aktuelle Forschung unmöglich. 

Digitale Welt 

Auffällig ist allerdings, dass moderne Bibliotheken mit ihren Aufgaben in den globalen Netzwerken digitaler Informationsbewirtschaftung bei vielen – auch bei denjenigen, die in Bibliotheken arbeiten – in der Gefahr der Entfremdung zu stehen scheinen. Es kommt manchmal wenig Freude auf, wenn das Digitale um sich greift und Maschinen jetzt auch Teile der Textproduktion übernehmen und das Bibliografieren und Katalogisieren zu übernehmen drohen. Manche Angestellte in den akademischen Bibliotheken wie in den Wissenschaftsverlagen sind mit den Entwicklungen nicht immer glücklich. 

Etwas überspitzt formuliert: Wo eben noch in Büchern gelesen wurde, laufen heute Mauszeiger über Bildschirme und arbeiten Analyseprogramme automatisch im Hintergrund. Die Welt des Wissens verflacht ganz physiologisch, und weil man nicht mehr vom Schreibtisch aufstehen muss, um ein Buch aus dem Regal zu nehmen, werden Gymnastikkurse populär, die – ähnlich wie bei langen Busreisen oder im Flugzeug – das lange Stillsitzen durch gezielte körperliche Aktionen unterbrechen. 

Nostalgie unter Buchliebhabern reift gelegentlich bis zur Protestform, wie in der Deutschen Nationalbibliothek am Standort Frankfurt, wo vor wenigen Jahren sich die Leserschaft das Recht auf gedruckte Exemplare im Lesesaal erstritt. Wir blättern gerne durch Bücher mit Fotografien schöner Bibliothekssäle, bewundern etwa die hölzernen Regale in der Wiener Hofburg oder süddeutscher Klöster. Wir träumen das bürgerliche Lesen mit der feudalen Schönheit von Büchersammlungen in einheitlicher Bindung zusammen und seufzen erinnerungstrunken – auch wenn das private Lesen in Büchern nirgends verboten oder verhindert wird. Wir sind optische Menschen und haben einen Sinn für Räume voller künstlerischer oder literarischer Zutaten. 

Es mag manchen gruseln beim Gedanken an das, was derzeit in der Universitätsbibliothek Wien geschieht, wo alle Bücher aus dem Gebäude entfernt und in Außenlagern auf Abruf warten. Wo vordem Regale standen, sollen heute Räume des individuellen und des gemeinschaftlichen Textarbeitens entstehen, vergleichbar dem, was andernorts gerne „Co-Working-Spaces“ genannt wird. Wie wird das aussehen, wenn es 2026 neu eröffnet wird? Man darf gespannt sein. Wird es funktionieren? Ganz gewiss. 

Wichtiger denn je 

Bibliothekarinnen und Bibliothekare übernahmen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weltweit eine neue Aufgabe zusätzlich zur Bewahrung des schriftlichen Kulturguts: Sie sollten dessen Nutzung ermöglichen. Das ist noch immer ihr Beruf. Lesesäle sind überall voll. Ausleihen finden ihr Publikum weiterhin. Die Neugier für das Neueste der Textproduktion lässt nicht nach. Mit menschlicher Sorgfalt erstellte Kataloge erhalten in Zeiten der textverklebenden Künstlichen Intelligenz sogar gesteigerte Bedeutung als genauere Suchmaschinen. 

Bibliotheken sind Kompetenzzentren für Wissen und Wissenschaft und bleiben notwendig für Gesellschaften, die darauf Wert legen. Sie sind auch Kultureinrichtungen für immer neu ansetzendes kritisches Denken. Eine verstärkte Interaktion mit ihren Nutzerinnen und Nutzern sowie eine selbstkritische Reflexion wäre jedoch nötig, um Bibliotheken in der digitalen Welt aktiv zu halten.