Ausschnitt aus einem Foto von den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York 2001.
picture alliance / Captital Pictures | GP/MPI

Terroranschlag 9/11
"Bilder des Terrors sind gleich geblieben"

Brennende Türme, schockierte Menschen. Wie prägen Bilder unsere Wahrnehmung von Terror und Gewalt? Ein Gespräch mit Professorin Charlotte Klonk.

Von Friederike Invernizzi 11.09.2021

Forschung & Lehre: Am 11. September 2021 jähren sich die Anschläge der Al-Qaida-Terrororganisation zum zwanzigsten Mal. 2001 schaute die Welt wie gelähmt auf die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Centers in New York… Begann da eine andere "Dimension" des internationalen Terrors?

Charlotte Klonk: Wenn man dies behaupten würde, vergäße man die lange Geschichte des Terrors seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Um nur Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zu nennen: die dramatischen Flugzeugentführungen, die in den 70er-Jahren die Welt in Atem gehalten haben, oder in den 80er-Jahren der Bombenanschlag auf ein Verkehrsflugzeug der amerikanischen Fluglinie Pan Am über Schottland ("Lockerbie-Anschlag"). Für mich als Forscherin ist immer wieder überraschend, dass der 11. September als Zäsur verstanden wird, denn die entscheidenden Merkmale dieser Anschläge finden sich schon bei früheren Terrortaten: Flugzeugentführungen gab es bereits zuvor, ebenso Selbstmordattentate und Live-Mitschnitte. Seit Beginn des modernen Terrors wurden hochsymbolische Gebäude im Herzen von Metropolen angegriffen. Finanzzentren waren zuvor schon im Visier von Attentätern – der IRA zum Beispiel, die in London in den 80er-Jahren Bomben legte – und nicht zuletzt gab es bereits 1993 einen Bombenanschlag auf das World Trade Center in New York. Sicherlich war die Anzahl der Toten bei den Terroranschlägen am 11. September um ein Vielfaches höher als das zuvor der Fall war, aber meiner Meinung nach ist die Zahl der Toten nicht das Maß, mit dem hier gemessen werden kann. Selbst wenn nur eine Person unter solchen Umständen ums Leben kommt, entsteht unerträgliches und unfassbares Leid.

Portraitfoto von Prof. Charlotte Klonk
Professorin Dr. Charlotte Klonk hat den Lehrstuhl für Kunst und Neue Medien an der Humboldt Universität zu Berlin inne. Ihr Unterrichts- und Forschungsschwerpunkt ist die Bild- und Raumgeschichte. Henrik Jordan

F&L: Wie schätzen Sie den 11. September stattdessen ein?

Charlotte Klonk: Der 11. September 2001 war eigentlich der letzte Anschlag einer Entwicklung, die am Ende des 19. Jahrhunderts begann. Von fast jedem Attentat in der westlichen industrialisierten Welt wurden zahlreiche Bilder in den illustrierten Zeitungen und später auch im Fernsehen verbreitet. Manche von ihnen erlangten den Status von Medienikonen, vielfach veröffentlichte und reproduzierte Bilder, die die Erinnerung an diese Ereignisse ins Gedächtnis einbrannten. Das war auch am 11. September der Fall: Der Himmel war blau, die Luft war glasklar und als das erste Flugzeug um Viertel vor neun an diesem herrlichen Morgen in den Nordturm stürzte, befand sich ein Kamerateam vor Ort, das zu diesem Zeitpunkt den Einschlag noch eher zufällig aufzeichnete. Die zwanzig Minuten, die zwischen dem ersten und zweiten Angriff lagen, haben ausgereicht, dass schließlich zahlreiche Fotografen anwesend waren und jene unheimlichen Bilder entstanden, wie wir sie heute noch kennen. Eine wirklich neue Dimension des Terrors kam eher unmerklich kurze Zeit später – nach der Einführung und Verbreitung der sozialen Medien.

F&L: Dennoch entstand der Eindruck des 11. Septembers als epochalem Ereignis. Könnte dieser Eindruck an einer ungewöhnlich großen Masse an verfügbaren Bildern liegen?

Charlotte Klonk: Da bin ich vorsichtig, denn jeder Terroranschlag seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat eine Flut an Bildern produziert. Schon das tödliche Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. im Jahre 1881 löste in der damals noch jungen illustrierten Presse ein enormes Echo aus. Über Europa hinaus bis nach Amerika publizierten alle Zeitungen wochenlang zahlreiche Bilder dazu. Auch hier ist Quantität kein Maßstab, mit dem die Erschütterung gemessen werden kann. Manchmal reicht ein einziges Bild, wenn es weitreichende Verbreitung findet. Auch vom 11. September sind es heute nur noch wenige Aufnahmen, die seitdem immer wieder publiziert werden und entsprechend in Erinnerung bleiben.

F&L: Nutzen Terroristinnen und Terroristen die Bilder auch für ihre Zwecke?

Charlotte Klonk: Für Terrortäter sind die Bilder von Anschlägen natürlich von zentraler Bedeutung. Damit gelingt es den Angreifern, den Schrecken und die Erschütterungen über den jeweiligen Ort der Zerstörung hinaus in die Welt zu tragen, und genau darum geht es. Am effektivsten, im Sinn der Akteure, ist die Verbreitung der Bilder, wenn möglichst viele Menschen das Gefühl haben, dass es auch sie hätte treffen können, und somit die Verunsicherung und Angst groß ist beziehungsweise potentielle Sympathisanten dadurch beeindruckt werden können.

F&L: Haben sich die Bilder des Terrors im Laufe der Zeit verändert?

Charlotte Klonk: Nein, im Wesentlichen nicht. Als ich an meinem Buch zu Terrorbildern saß, habe ich sehr lange mit dieser Erkenntnis gerungen, weil ich es als Kunsthistorikerin gewohnt bin, dass Darstellungen des gleichen Sujets zu unterschiedlichen Zeiten entscheidende Veränderungen aufweisen. Bilder des Terrors aber sind von ihrer Struktur und ihrem Inhalt her im Grunde immer gleich geblieben. Zunächst kommen Ansichten in Umlauf, welche die Tat möglichst „hautnah“ veranschaulichen, und dann folgen schnell Bilder der Abwehr, Bilder, die zeigen, dass die Zivilgesellschaft noch funktioniert, dass die Täter und ihre Hintergründe bekannt sind, dass gegen sie vorgegangen wird. Neu ist allerdings eine Entwicklung, die erst nach dem 11. September 2001 einsetzte: das Zirkulieren von Amateuraufnahmen, die das Geschehen vor Ort zeigen. Dieses Phänomen hat sich 2005 mit den Londoner U-Bahn-Anschlägen angekündigt. Fotografen konnten aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen nicht in den Tunneln fotografieren, daher hat die BBC Betroffene aufgefordert, ihre Handybilder und -filme auf einer speziell dafür eingerichteten Internetseite hochzuladen. Auf diese Weise ist ein Amateurfoto der Evakuierung auf die Titelseiten internationaler Zeitungen gelangt. Das gab es vorher nicht. Das Entscheidende aber ist, dass man auf diesem und Bildern dieser Art, die seitdem nach jedem Anschlag in Umlauf kamen, fast nichts sieht, weil alles unscharf und unterbelichtet ist. Was hier zählt, ist die Qualität des Authentischen, der erschütternde Aussagewert des Dabeigewesenseins. Die Aufnahmen sind in der Regel keine Bestandsaufnahme, zeigen aber, was geschehen ist, aus der Erlebensperspektive. Diese Bilder und Filme funktionieren vor allem in den sozialen Medien, anders als traditionelle Medienikonen. Im Unterschied zum Beispiel zu den brennenden oder einstürzenden Hochhaustürmen geht es hier nicht mehr um die Aussagekraft der einzelnen Bilder, sondern es dominiert mittlerweile eine andere Form der Narration: Die Aufnahmen sind in einen Fluss von Bild und Text eingebunden, der als solcher seriellen Charakter hat und in dem der Text mehr als eine herkömmliche Bildunterschrift und das Bild mehr als eine Illustration, aber weniger als eine Medienikone sind.

F&L: Sie sprachen bereits über die Veränderungen durch die Verbreitung der Terrorbilder über das Internet und über Social-Media-Kanäle…

Charlotte Klonk: Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Auswahl der Bilder, die von einer Terrortat in Umlauf kamen, ausschließlich in den Händen der professionellen Medien, deren Bildredakteure dann auch häufig die gleichen Aufnahmen aus den Datenbanken der Agenturen gefischt haben. Aus den Hunderten von Bildern, die von professionellen Fotografen am 11. September aufgenommen wurden, haben zum Beispiel über 90 Prozent der Zeitungen an den Tagen danach das gleiche Foto von den brennenden Zwillingstürmen veröffentlicht. Social-Media-Kanäle ermöglichen nun nicht nur, dass Betroffene Aufnahmen selbst zirkulieren lassen, sondern auch, dass Terrorgruppen oder einzelne Täter eine eigenständige Bildregie führen können. Ins öffentliche Bewusstsein ist diese Entwicklung vielleicht vor zwei Jahren durch den Mordfeldzug des Attentäters von Christ Church gelangt, der sich während seiner Taten mit einer am Helm befestigten Kamera selbst filmte und die Aufnahmen live über Facebook streamte. Er war allerdings nicht der erste, der diese Form der Eigenpropaganda wählte.

F&L: Stumpfen wir als Betrachter dieser Bilder zusehends ab?

Charlotte Klonk: Jede Wiederholung von schrecklichen Ereignissen und den dazugehörigen Darstellungen führt zu einer Abstumpfung. Allerdings gilt: Je wahrscheinlicher es ist, dass ein Anschlag auch uns hätte treffen können, desto stärker reagieren wir auf die Bilder. In diesen Fällen gibt es keinen Abstumpfungseffekt.

F&L: Wie können Nutzerinnen und Nutzer von Informationskanälen zu einer angemessenen und ethisch vertretbaren Haltung finden? Sollten Bilder von Terroranschlägen gar nur eingeschränkt freigegeben oder sogar verboten werden?

Charlotte Klonk: Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Eins aber steht fest: Zensur ist die denkbar schlechteste Möglichkeit des Umgangs mit Bildern des Terrors. Zensur ist eine Maßnahme des Staates, die ein demokratisches Grundrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit einschränkt, in diesem Fall also ein kontraproduktives Mittel, denn das Ziel der Attentäter ist ja gerade die Destabilisierung der angegriffenen Demokratien. Jede Maßnahme dieser Art war, wenn sie in der Vergangenheit ergriffen wurde, entweder ineffektiv oder sogar lächerlich, wie etwa in Großbritannien in den 80er-Jahren, als Mitglieder von Sinn Fein, dem parlamentarischen Arm der IRA, im Fernsehen nicht mehr selbst zu Wort kommen durften. Der Präsident von Sinn Fein war zwar auf dem Bildschirm zu sehen, die Stimme jedoch kam von einem Schauspieler. Schon damals wirkte die Maßnahme nicht nur hilflos, sondern vor allem komisch. Eine andere, häufig artikulierte Forderung setzt auf die Selbstregulierung der Medien. Doch hier ist der Wettbewerbsdruck mittlerweile so groß, dass letztlich der Dammbruch vorhersehbar ist. Insofern ist die mediale Selbstregulierungskraft ein eher zahnloser Tiger. Als letzte Hoffnung bleibt die Aufklärung. Sie ist meiner Meinung nach auch deshalb besonders wichtig, weil mittlerweile viele Mediennutzende auch Medienschaffende auf den verschiedenen Plattformen sind. Wer im Moment eines Anschlags zufällig vor Ort mit einem aufnahme- und internetfähigen Gerät steht, muss sich fragen, ob die angefertigte Aufnahme nicht eher der Polizei zu übergeben sei, statt dass sie gleich und ohne Nachdenken, wie in den letzten Jahren häufig geschehen, auf den einschlägigen Plattformen hochgeladen und von dort aus verbreitet wird. Niemand will im Moment seines Leidens von anonymen Personen gefilmt werden, die diese Bilder dann veröffentlichen, ohne sich über die Konsequenzen für die Menschen und ihre Angehörigen und Freunde Gedanken zu machen oder sich zu fragen, ob man damit nicht den Tätern sogar in die Hand spielt. Im Affekt die Bilder in Umlauf zu bringen, heißt im Zweifel eher das Leid der betroffenen Menschen zu vergrößern und zur Eskalation beizutragen.