Portraitfoto von Prof. Dr. Angelika Nußberger
Josef Fischnaller

Richterin am Gerichtshof für Menschenrechte
Bröckelnder Konsens?

Recht und Rechtsprechung sollen zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte bei­tragen. Ob sie dafür gerüstet sind, reflektiert Professorin Nußberger.

Von Ina Lohaus Ausgabe 4/17

Forschung & Lehre: Hat der Zusammenhalt der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten Schaden genommen?

Angelika Nußberger: Wenn wir in letzter Zeit verstärkt und mit Bedauern davon sprechen, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland abgenommen habe, bin ich mir nicht sicher, ob wir nicht etwas, was wir befürchten, "herbeireden". Aus meiner Sicht ist die Entwicklung relativ zu sehen, relativ zu vergangenen Zeitstufen und relativ zu anderen europäischen Gesellschaften. Ich frage mich, ob die Nachkriegsgesellschaft mit der Aufnahme der Vertriebenen, die Gesellschaft der 60er Jahre mit der Studentenrevolution oder die Gesellschaft der 90er Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich einen stärkeren Zusammenhalt hatte. Wohl immer gab es einerseits einen gewissen Schmelztiegeleffekt, andererseits auch spürbar Spannungen zwischen verschiedenen Interessen und verschiedenen Gruppen. Und ich frage mich auch, ob andere Gesellschaften, denkt man an die Ghettoisierung von Minderheiten oder die Abschottung von Eliten, nicht noch zerrissener sind als die deutsche Gesellschaft. Wenn Sie sich allerdings ausschließlich auf ökonomische Indikatoren beziehen, scheint es in der Tat so zu sein, dass die Schere zwischen "arm" und "reich" und damit zwischen denen, die sich aufgrund der mit der Globalisierung eingeleiteten rasanten Entwicklungen als Verlierer und denen, die sich als Gewinner fühlen, weiter auseinanderklafft.

F&L: Was kann die Ressource "Recht" zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen?

Angelika Nußberger: Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist es aus meiner Sicht sehr wichtig, bestimmte Werte als grundlegend zu akzeptieren und nicht in Frage zu stellen. "Menschenrechte", "Rechtsstaat", "Demokratie", "Sozialstaat", das waren über viele Jahrzehnte Fundamente, an denen niemand zu rütteln gewagt hätte. Das galt für den nationalen und auch für den europäischen Kontext. Die Verunsicherung rührt im Augenblick unter anderem daher, dass es plötzlich hoffähig geworden zu sein scheint, eben jene Grundwerte, auf denen nicht nur unser Rechtssystem, sondern im Rousseau’schen Sinne auch der Gesellschaftsvertrag beruht, in Frage zu stellen. Nimmt man etwa die Menschenrechte, so werden sie allgemein als Orientierungspunkt bei der Lösung gesellschaftlicher Konflikte zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen akzeptiert. Wenn es aber gilt, auch die Menschenrechte derer, die terroristischer Anschläge verdächtig sind, zu schützen, so kann der Konsens schnell bröckeln. Nimmt man den Rechtsstaat, so werden die Fundamente, wenn auch nicht in Deutschland, so doch in anderen europäischen Ländern, in Frage gestellt, etwa wenn Verfassungsgerichte bürokratisiert und ihrer Kompetenzen beraubt werden. Auch die Demokratie als Modell gerät aufgrund von mit postfaktischen Nachrichten bestrittenen Wahlkämpfen sowie aufgrund des Erfolgs populistischer Bewegungen, die mit den einfachsten Lösungen die meisten Stimmen gewinnen, unter Druck. Die in der Tradition verankerten und verfassungsrechtlich abgesicherten Grundpfeiler, deren Bedeutung bisher auch in der öffentlichen Meinung unbestritten war, scheinen nicht mehr so gut Halt zu bieten wie ehedem. Das verunsichert.

F&L: Wenn die These richtig ist, dass der fehlende Zusammenhalt ökonomische Gründe hat – entzieht sich die Zügelung des Finanzkapitalismus nicht weitgehend der rechtlichen Regulierung?

Angelika Nußberger: Gesetzgeber können nur Regelungen für den jeweiligen staatlichen Machtbereich treffen. Daher ist das Recht, so wie wir es kennen, grundsätzlich territorial. Es gibt französisches Recht, deutsches Recht, amerikanisches Recht. Als Klammer dient das internationale Privatrecht, das bei grenzüberschreitenden Sachverhalten regelt, welche der möglicherweise einschlägigen Rechtsordnungen zur Anwendung kommt. Aber dieses System scheint eher für eine Welt mit Postkutschen geschaffen zu sein, eine Welt, in der nachvollziehbar ist, was wann wo geschieht. Dies gilt heute nicht mehr wirklich. Nicht nur das Überschreiten von Grenzen, sondern der Verlust jedes territorialen Bezugs ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Dies gilt insbesondere auch für Kapital. Zudem ist der Erfindungsreichtum in einer digitalen Welt scheinbar unbegrenzt. So hinkt das Recht in vielfacher Weise hinterher. Fehlt ein eindeutig bestimmbarer territorialer Anknüpfungspunkt, ist unklar, wer was wie regeln kann. Bei grenzüberschreitenden Vorgängen lässt sich nicht einfach durchgreifen. Vielmehr ist man auf Kooperationen angewiesen, die aufgrund sehr unterschiedlich gelagerter Interessen oftmals schwierig sind, man denke nur an Regelungen zu Steueroasen. Schlupflöcher und Umgehungsmöglichkeiten werden allenfalls ex post rechtlichen Regelungen unterworfen, wenn es schon längst neue Schlupflöcher und Umgehungsmöglichkeiten gibt. Zudem sind die Verbraucher aufgrund der Komplexität der Systeme überfordert. Damit kann in der Tat der Eindruck entstehen, das, was man Finanzkapitalismus nennt, sei nicht mehr zu zügeln.

F&L: Welche Möglichkeiten gibt es, angesichts der globalen Migrationsbewegungen mit Mitteln des Rechts auf Integration und ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft hinzuwirken?
Angelika Nußberger: Das Recht bildet einerseits einen Rahmen für das Zusammenleben und gibt andererseits aufgrund der im Recht abgebildeten Werte Orientierung bei der Bewältigung von Konflikten vor. Migration bedeutet, dass Menschen ins Land kommen, die einen sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrund, unterschiedliche Gewohnheiten, unterschiedliche Vorstellungen von "okay" und "nicht okay" haben. Besonders deutlich sieht man das etwa beim "clash" zwischen Meinungs- und Religionsfreiheit: Darf man das Allerheiligste karikieren, sich darüber lustig machen? Für westliche Gesellschaften ist dies eine Selbstverständlichkeit, Überschreitungen werden mit einem Achselzucken quittiert. Für tief religiöse Menschen aus anderen Kulturkreisen dagegen kann es als existenzielle Bedrohung, als Angriff auf eine nicht verhandelbare Ehre verstanden werden. Hier gilt es, nicht nur einzelne Konflikte vor Gericht zu entscheiden, sondern auch für die grundsätzlichen gesellschaftlichen Spannungen einen Ausgleich im Recht zu finden.

F&L: 2014 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Burka-Verbot in Frankreich bestätigt. Wieviel Spielraum muss europäische Rechtsprechung den jeweiligen Staaten lassen?

Angelika Nußberger: Europäische Recht­sprechung ist subsidiär. Sie hat im Grunde nur über die Einhaltung der Mindeststandards zu wachen und ist überhaupt nur dann zuständig, wenn auf der nationalen Ebene keine befriedigende Lösung gefunden wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte muss, wenn er die an ihn herangetragenen Fälle entscheidet, die europäischen Mindeststandards durchsetzen, aber dort, wo es eine gewisse Spannbreite von Gestaltungsmöglichkeiten gibt, Spielraum für unterschiedliche Lösungen belassen. Dies gilt vor allem beim Verhältnis Kirche – Staat, da sich die Vielfalt Europas gerade an diesem Punkt besonders deutlich zeigt. In Frankreich ist der Laizismus ein Fundamentalprinzip der Verfassung, im Vereinigten Königreich ist das Staatsoberhaupt das Kirchenoberhaupt, in Deutschland gibt es ein komplexes Staatskirchenrecht, die mittel- und osteuropäischen Staaten trennen zwischen Staat und Kirche, auch wenn die jeweilige Religion – etwa der Katholizismus in Polen oder die Orthodoxie in Russland – einen großen gesellschaftlichen Einfluss hat. Der Gerichtshof hat daher bei Fragen, die das Verhältnis Staat – Kirche betreffen, sei es das Kreuz im Klassenzimmer, sei es die Kirchensteuer, sei es die Burka, bisher große Zurückhaltung geübt und in keinem dieser Fälle eine Konventionsverletzung festgestellt. Aber auch wenn der Gerichtshof bei entsprechenden Regelungen den einzelnen Mitgliedsstaaten viel Spielraum belässt, so prüft er doch jeden Einzelfall sehr genau. Wie schwierig diese Fragen zu entscheiden sind und wie viele unterschiedliche Ansätze vertreten werden, ist nicht zuletzt daran abzulesen, dass die meisten der Entscheidungen der 17 Richter der Großen Kammer nur mit einer Mehrheit von ein oder zwei Stimmen ergangen sind.