Bild der Dante Alighieri-Statue auf der Piazza dei Signori in Verona
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Literatur- und Sprachgeschichte
Dante der Übervater

Dante Alighieri ist weltbekannt für seine Göttliche Komödie. Vor 700 Jahren starb der italienische Dichter, Philosoph und Sprachwissenschaftler.

Von Franziska Meier 14.09.2021

Dante Alighieri – bis heute nennt man ihn vertraulich bei seinem Vornamen, in dem Giovanni Boccaccio zufolge das Entscheidende über den großen Dichter am Ausgang des italienischen Mittelalters ausgesagt ist. Denn "Dante" leite sich von dem Verb "dare" ab: der Gebende. Schon Mitte des 14. Jahrhunderts gewann Boccaccio, Dantes erster Biograph und einer seiner einflussreichsten Leser, somit den Eindruck, dass Dante seinen Zeitgenossen unendlich viel gegeben habe. Und wenn man auf die lange Rezeptionsgeschichte schaut, die nur in den zwei Jahrhunderten der Klassik pausierte, setzt sich dieses Geben bis heute fort. Inzwischen machen selbst Comic-Zeichner und Computerspiel-Produzenten bei seiner Göttlichen Komödie in mehr oder minder eigenwilliger Form Anleihen.

Wenn sich Gelehrte, Philosophen und Theologen im Mittelalter als Zwerge auf den Schultern (antiker) Riesen betrachteten, dann war auch Dante ein solcher, aber eben einer, der sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer alle überragenden, der Antike gleichrangig die Hand reichenden Gestalt auswuchs, auf die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts Dichter und bildende Künstler, aber auch Politiker, Philosophen und Theologen in ganz Europa berufen werden. Dante – eine Art Übervater, der sich in häufig unerwarteten Zusammenhängen Menschen, seit Anfang des 20. Jahrhunderts übrigens weltweit, nahelegt und sie in ihren Vorhaben und Selbstbestimmungen beflügelt. Aus der Geistesgeschichte Europas und des Westens ist Dante nicht wegzudenken.

Wer Italienisch kann, kann auch Dantes Komödie lesen

Am 14. September jährt sich dieses Jahr zum 700. Mal sein Todestag. In den letzten Jahren seines Lebens hatte Dante in Ravenna bei dem Herrscher Guido da Polenta ein Zuhause gefunden. Ein kleiner Kreis von Freunden hatte sich um ihn geschart; seine drei schon erwachsenen Kinder lebten in der Nähe. Im Sommer 1321 schickte Guido da Polenta den schon gebeugten Dante noch einmal auf eine intrikate diplomatische Mission nach Venedig, von der er mit hohem Fieber heimkehrte.

Zahlreiche Grabinschriften sind auf uns gekommen, die ihn als großen Theologen und Philosophen sowie als herausragenden Dichter rühmen. Ein Wermutstropfen ist allerdings in all diesen lateinisch verfassten Ehrerweisungen enthalten. Wie hatte ein so begnadeter Mann die Komödie im volgare, in der italienischen Volkssprache, schreiben können? In einer epischen Dichtung also, die von so heiligen Dingen wie dem ewigen Fortleben der Seelen nach dem Tod handelte. Dante selbst hat sich gegen diese Vorwürfe immer verwehrt. Dem volgare, in dem sich seine Eltern kennengelernt, ja im biblischen Sinne erkannt hatten, meinte er, seine Existenz zu verdanken. Im volgare hatte er die ersten Worte hervorgebracht. Im volgare, dessen Veredelung und Festigung er sich verschrieb, verfaßte er seine größten Werke. Anfangs könnte das auch der Not geschuldet gewesen sein, weil sein Latein nicht ausreichte (der Sohn eines nicht sonderlich erfolgreichen Geldverleihers besuchte vermutlich nur die Volks-, nicht die Grammatik-Schule). Nachdem er sich bei seinem größtenteils autodidaktischen Studium der Philosophie und Theologie, und nicht zuletzt über der Lektüre der großen römischen Dichter, namentlich Vergils, das Lateinische brillant angeeignet hatte, hielt er gleichwohl aus voller Überzeugung an der Volkssprache fest. Dante ist nicht der Erfinder des Italienischen, wie man gelegentlich lesen kann, aber er hat das Italienische in einer Weise geprägt und geformt, dass 80 Prozent der heute gesprochenen Sprache in seinem Werk attestiert ist. Kurz: Wer gut Italienisch lernt, ist in der Lage, die Göttliche Komödie zu lesen.

Die Komödie als ungeheure Kompensationsleistung

Es ist richtig, dass schon die Anfänge Dantes als Florentiner Lyriker vielversprechend waren. Sein erstes Buch Vita Nova ist konzeptionell von einer aufregenden Radikalität. Aber allein hätte es nicht ausgereicht, um Dante einen festen Platz im Kanon der Weltliteratur zu bescheren. Erst im Laufe der zwanzig Jahre Exil, in das ihn der politische Umsturz in seiner Heimatstadt im Winter 1301/02 zwang, wurde er zu dem herausragenden Dichter, der sich in seinem Werk eine imponierende Autorität in poetischer, aber auch theologischer, politischer und philosophischer Hinsicht zulegte. Erst als er nicht mehr in die geliebte Stadt am Arno zurückkehren konnte, deren Machthaber ihn in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatten, wurde das Schreiben für ihn zur einzigen Möglichkeit, ja Chance, sich in seiner erniedrigenden Lage zu behaupten und darüber hinaus das Unrecht zu kompensieren, das ihm – wie er immer betont unverdient – angetan wurde.

"Die Komödie wurde bis ins 20. Jahrhundert gleich einer Chronik für eine zuverlässige Quelle erachtet."

Im Schreiben vermochte er sich über die ihn mittelbar und unmittelbar betreffenden, starken sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen klarzuwerden. Etlichen Geschehnissen stülpte er dabei seine Version der Vorgänge über, übrigens so überzeugend, dass die Komödie bis ins 20. Jahrhundert gleich einer Chronik für eine zuverlässige Quelle erachtet wurde. Vor allem aber bot ihm das Schreiben die Gelegenheit, seine eigene Lebensgeschichte, teilweise durchaus selbstkritisch, zu einem kohärenten Ganzen zu formen und darüber ein ebenso grandioses wie wirkmächtiges Selbstporträt entstehen zu lassen. Erst in den letzten zwanzig Jahren sollten Historiker und Philologen eine Reihe von Ungereimtheiten, wenn nicht Diskrepanzen zwischen Dantes Selbstauskünften und dem, was in den Quellen steht, freilegen und an dem Bild des zu Unrecht verfolgten Dichters kratzen, der sich über die Parteien seiner Zeit erhob.

In den prekären Umständen des Exils setzte Dante zu vier großangelegten Werken an, von denen zwei Fragment geblieben sind. Das politische Traktat der Monarchia einmal ausgenommen ist jedes dieser Vorhaben auf seine Weise revolutionär. In dem Prosawerk Il Convivio nutzt Dante die ausladenden Kommentare zum buchstäblichen und übertragenen Sinn seiner moralischen Canzoni dazu, seine edlen Hörer, darunter auch Hörerinnen, die des Lateinischen nicht mächtig waren, in die Urgründe der Philosophie einzuführen. Dante – der erste Laienphilosoph, wie ihn Ruedi Imbach nannte. In dem gleichzeitig entstandenen lateinischen Traktat De vulgari eloquentia wiederum unternahm er als erster eine Bestandsaufnahme über die vielen in Italien gesprochenen Dialekte und Sprachvarietäten. Leider brach er dieses erste linguistische Traktat Europas mitten im Satz ab.

Von 1306 an nahm ihn die Arbeit an den 100 Gesängen der Komödie in Beschlag, die er erst kurz vor seinem Tod vollenden sollte. Von diesen über 14.000 kunstvoll in Terzinen gereimten Versen, die von der Reise eines Protagonisten namens Dante durch Hölle, Läuterungsberg und schließlich den Himmel erzählen, erhoffte sich der Dichter offenkundig viel: seine dauerhafte Rechtfertigung, seine Anerkennung als großer Dichter und als moralisch-religiöser Wegweiser und womöglich seine Rückkehr an den Arno. Am Ende der Komödie im 25. Gesang des Paradieses, als er den Gedanken an eine Rückkehr nach Florenz längst aufgegeben hatte, lässt der Dichter jedenfalls nochmals seine Hoffnung verlauten, nach der Vollendung des poema sacro, an dem Himmel und Erde mitwirkten, in allen Ehren im Florentiner Baptisterium gekrönt zu werden. Damit reagierte er wohl zugleich auf die Wiederaufnahme der antiken Lorbeerkrönung von Dichtern in Padua, bei der er leer ausgegangen war.

Die Komödie als Summa

Erster Auslöser bei der Niederschrift der Komödie mag der Wunsch nach Rache gewesen sein. Aber der trat bald zurück. Dante entwickelte andere, ehrgeizigere Ziele. Er wollte ein Werk schaffen, das den ganzen Kosmos ausschritt, die Ursachen der blutig verfahrenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit auslotete und zugleich den Weg aus der individuellen wie allgemeinen Krise wies. Obendrein wollte er ein poetisches Glanzstück vorlegen, in dem die bewunderten Errungenschaften der antiken Dichtung mit den Finessen der volkssprachlichen französischen und italienischen Dichtung vereint und auf einen unerhörten Gegenstand: die christliche Vorstellung vom Jenseits angewandt und folglich überboten wurden.

"Was Dante in seinem Werk wiedergab, schien in ewigen Stein gemeißelt und somit sakrosankt zu sein."

Mit gutem Grund wird die Komödie, der Boccaccio erstmals das Epitheton göttlich beifügte, das Ende des 16. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des Titels wurde, eine Summa genannt. In sie flossen Dantes weitläufige Lektüren und Studien, seine recht zwiespältigen politischen wie menschlichen Erfahrungen und vor allem seine vielen, manchmal auch der Häresie verdächtig nahen Fragen ein. Die lange europäische Geschichte, soweit er sie um 1300 überblicken konnte, fand darin Eingang, ebenso die großen politischen, theologischen und kosmologischen Fragen seiner Zeit. Es war ein enzyklopädisches Werk, das überdies den Anspruch erhob, alles in eine von Gottes Gerechtigkeit vorgegebene hierarchische Ordnung zu bringen. Was Dante in seinem Werk wiedergab, schien in ewigen Stein gemeißelt und somit sakrosankt zu sein.

Ist Gottes Gerechtigkeit immer gerecht?

Die stilistisch und inhaltlich erzeugte Aura des Heiligen hat die Komödie schon für zeitgenössische Leser in die Ferne abgerückt; im Laufe der Jahrhunderte bot sie dadurch auch Anlass zu Spott und Parodie. Wenn diese Dichtung bis heute so stark auf uns wirkt, dann hängt das vor allem mit der einfühlsamen Darstellung der Figuren zusammen. Wenngleich alle diejenigen, die Dante auf der Jenseitsreise entgegentreten, jeweils beispielhaft einer Sünde oder Tugend zugeordnet sind, treten sie immer wieder aus der Funktion des Exemplifizierens heraus und individualisieren sich. Sie werden zu Menschen aus Fleisch und Blut, an denen zugleich große anthropologische Fragen zum Recht auf Liebe, auf wissenschaftliche Neugier nicht nur theoretisch diskutiert, sondern eben plastisch gelebt werden. Für viele Leser ist die Rede manches Sünders denn auch glaubhafter und wichtiger als das über sie verhängte göttliche Urteil.

Ebenso ist der Jenseitswanderer Dante nicht einfach eine Figur, die an der Hand von Vergil, im Paradies an der seiner Geliebten Beatrice das Jenseits durchquert und sich alles anschaut und erklären lässt, vielmehr hat er eine eigene, nicht unproblematische Geschichte, stellt Fragen, hegt Zweifel, sogar daran, ob Gottes Gerechtigkeit tatsächlich immer gerecht ist. Nicht die Ordnung des Jenseits, sondern der Entwicklungsprozess, den Dante als Mensch und Dichter auf der Jenseitsreise durchlebt, ist es, der die Einheit der Komödie stiftet. In dem sorgfältig durchkomponierten Bauwerk, das seit dem 19. Jahrhundert mit der nach oben strebenden Architektur einer gotischen Kathedrale verglichen wird, stecken denn auch Momente der Unsicherheit, wenn es nicht sogar Risse hat, in denen sich Dante als sensibler Zeitgenosse eines nicht mehr zurückzudrehenden historischen Wandels erweist. Das rückt uns die Komödie bis heute so nah. Vielleicht ist das auch der Grund gewesen, weshalb Dante unter den großen Heiden der Antike im Limbus Demokrit einen Vers widmet, also dem griechischen Philosophen, der, wie es heißt, die Welt auf den Zufall baute. Die Komödie ist eine Kontingenzbewältigung, der die Kontingenz sichtlich eingeschrieben bleibt.

Zum Weiterlesen

Dantes Göttliche Komödie. Eine Einführung, C.H. Beck Verlag, Reihe Wissen, München 2018, 129 Seiten.

Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines unwahrscheinlichen Erfolges, C.H. Beck Verlag, München 2021. 214 Seiten.