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Corona-Pandemie
Das Ende der flüchtigen Bekanntschaften

In der Corona-Pandemie reduzieren sich die zufälligen Treffen und Gespräche mit anderen auf ein Minimum. Wozu führt das?

14.04.2021

Die Sehnsucht nach fernen Orten und Reisen ist in Corona-Zeiten schon oft beschrieben worden. Doch in ruhigen Minuten schießt einigen auch ganz Anderes durch den Kopf: nach der Vorlesung mit dem Gastwissenschaftler ins Restaurant gehen und angesprochene Gedanken weiterspinnen oder mit der Bibliothekarin über Neuzugänge fachsimpeln. Ein kleines Flurgespräch führen mit jemandem, der kein direkter Kollege oder Kommilitone ist. Beim Hochschulsport die Mitarbeiterin einer anderen Fachrichtung kennenlernen und zwischen den Yoga-Übungen von ihrem Dissertationsprojekt hören.

Für all diese Gespräche macht niemand einen Zoom-Call aus oder ruft an. Teilweise weiß man ja nicht mal den Namen, zumindest nicht den vollen. Die Pandemie hat – bis auf Online-Freundschaften und zufällige Treffen im Supermarkt oder auf dem Wochenmarkt – flüchtige Bekanntschaften fast vollständig gekappt. Und viele merken gerade: Sie können einem ganz schön fehlen, auch im Kontext der Universität.

Lose Kontakte bringen neue Ideen

"Schwache Beziehungen bringen neue Ideen und Sachverhalte in unseren Alltag", sagt der Soziologe Dr. Markus Gamper von der Universität Köln. "Starke Beziehungen haben wir zu Menschen, die uns ähnlich sind, die einen ähnlichen Alltag haben, zu Leuten, die das Gleiche lesen, dieselben Serien und Filme schauen." Doch damit laufe man Gefahr, die ganze Zeit im eigenen Saft zu schmoren. Durch "Brücken", also losere Netzwerke, komme "Neues, Spannendes, einfach der Nicht-Alltag" ins Leben. "Wir brauchen Abwechslung und neue Informationen."

Bei losen Bekanntschaften seien die gegenseitigen Erwartungen natürlich niedriger als bei engen Beziehungen, sagt Gamper, was auch wohltuend sei. Der Experte für Netzwerkanalyse hat bei dem soziologischen Fachbuch "Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten" mitgewirkt. Enge Freundschaften seien wichtig für den emotionalen Support, doch losere seien nicht unwichtig, sagt Gamper. "Starke und schwache Beziehungen haben jeweils ihren eigenen Nutzen."

Die soziologischen Theorien zu Netzwerken stammen aus Amerika. Der Soziologieprofessor Ronald S. Burt wies zum Beispiel nach, dass Mitarbeiter dann besonders kreativ sind, wenn sie im Job informelle Kontakte über sogenannte strukturelle Löcher hinweg pflegen. Diese "Structural Holes" sind vor allem Abteilungs- und Funktionsgrenzen. Es komme nicht auf die Anzahl der Kontakte an, sondern darauf, Brücken zu schlagen, sich mit Leuten außerhalb des eigenen Teams zu vernetzen.

Ein anderer wichtiger Netzwerktheoretiker ist der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Professor Mark Granovetter, der schon vor fast 50 Jahren – 1973 – den Aufsatz "The Strength of Weak Ties" veröffentlichte. Darin definierte er unter anderem die Stärke von Beziehungen nach vier Komponenten: die Menge an Zeit, die Personen miteinander verbringen, der Grad der emotionalen Intensität, das gegenseitige Vertrauen (Intimität) und die Art der wechselseitigen (reziproken) Hilfeleistungen. Schwache Beziehungen ("weak ties") seien bei alledem nicht zu unterschätzen.

Smalltalk steigert Wohlbefinden

Psychologen haben jahrzehntelang vor allem die wichtige Funktion enger Beziehungen im Blick gehabt, also von Familie, romantischer Partnerschaft und tiefer Freundschaft. Doch dann kam die Erkenntnis, dass auch Nachbarn im Hausflur oder am Gartenzaun und Baristas im Café wichtig fürs Wohlbefinden sein können.

Die Sozialpsychologinnen Dr. Gillian Sandstrom und Professorin Elizabeth Dunn fanden anhand mehrerer Studien heraus, dass Leute mit einer größeren Zahl an losen Bekanntschaften dazu tendierten, insgesamt zufriedener zu sein in ihrem Leben. Je mehr Interaktion sie mit solchen vermeintlich Fremden hatten desto glücklicher waren sie.

Unter dem Motto #Talking2Strangers (also: Reden mit Fremden) propagiert Sandstrom, die an der University of Essex im englischen Colchester arbeitet, stark dafür, das eigene Verhalten anzupassen. Es könne der psychischen Gesundheit helfen, absichtlich jeden Tag mit flüchtigen Bekannten zu reden.

Sandstroms Sicht wirft einen neuen Blick auf die zunehmend bedrückten Studierenden und Mitarbeiter deutscher Hochschulen angesichts geschlossener Bibliotheken, digitaler Lehre und Mensen, die maximal ein To-Go-Angebot haben. Vorübergehend bleibt also wohl nur der Smalltalk im Lebensmittelladen, Drogeriemarkt oder Bus – natürlich vorsichtig mit Maske und mit Abstand. Doch immerhin! Die renommierte Psychologin sagt: "Das bringt so viel Freude."

dpa/cpy