Das Foto zeigt Zuschauer, die eine sog. "Hammelsprung-Abstimmung" von Bundestagsabgeordneten beobachten.
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Politikwissenschaft
Demokratie im Umbruch

Die etablierten Parteien haben 2018 zum Teil dramatisch Wähler verloren. Wie mag es 2019 weitergehen? Ist die Demokratie gefährdet?

Von Frank Decker 27.12.2018

Mit der nachholenden Etablierung des Rechtspopulismus wird nun auch in Deutschland zur Gewissheit, dass die Ära der demokratischen Stabilität, die den Ländern der westlichen Welt jahrzehntelang Wohlstand und Frieden beschert hat, sich dem Ende zuneigt. Krisendiagnosen waren zwar auch schon früher – zumal mit Blick auf Parteien, Regierungen und Parlamente –  allgegenwärtig; sie verblassen jedoch vor den neuen und neuartigen Herausforderungen, denen sich die Regierenden und die demokratische Regierungsweise als solche heute grundsätzlich gegenübersehen.

Das erste und schwierigste Problem besteht darin, dass die beschleunigte Globalisierung der Realwirtschaft und der Finanzmärkte den Handlungsspielraum der nationalstaatlichen Politik zunehmend einschränkt. Dies betrifft vor allem die unter Legitimationsgesichtspunkten besonders wichtigen Bereiche der Daseinsvorsorge und Sozialpolitik.

Die Staaten können zwar durch internationale Kooperation Gestaltungsmacht zurückgewinnen, doch ändert das nichts daran, dass die Demokratie als Regierungs- und Herrschaftsform an die nationale Sphäre gebunden bleibt. Wie mühselig es ist, sie über diese Sphäre hinauszuheben, zeigen der Verlauf und die aktuellen Schwierigkeiten des europäischen Integrationsprozesses.

Globalisierung fördert Ungleichheit – Zusammenhalt schwindet

Eng verwoben damit ist das zweite Problem. Indem sie die nationalen Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsmärkte unter Druck setzt, verstärkt die Globalisierung die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit. Während das obere Drittel der Gesellschaft Wohlfahrtsgewinne einstreicht, steigt das unter Drittel ab oder fühlt sich von Abstieg bedroht. Verschärft wird die Ungleichheit durch den gleichzeitig rückläufigen gemeinschaftlichen Zusammenhalt, der eine Folge der Individualisierung darstellt und zu einer Vermarktlichung der Alltagskultur führt.

Als konfliktträchtig erweist sich besonders die Inklusion der nicht eingesessenen Bevölkerungsminderheiten und Zuwanderer. In anderen Bereichen – etwa bei der Geschlechtergleichheit oder den Rechten sexueller Minderheiten – sind dagegen bedeutende Gleichheitsfortschritte zu verzeichnen, weshalb man sich hüten sollte, die 1950er oder 1960er Jahre als "goldenes Zeitalter" der Demokratien nostalgisch zu überhöhen.

Das dritte große Problem entsteht durch die Digitalisierung. Es ist in seinen Ausprägungen und Konsequenzen noch nicht wirklich absehbar. Der von manchen geäußerten Hoffnung, das Netz führe zu mehr direkter Demokratie und einer größeren Entscheidungstransparenz, stellen andere die Schattenseiten einer immer stärker fragmentierten Öffentlichkeit und der Unterminierung elementarer Prinzipien wie Respekt und Dialogbereitschaft entgegen, auf denen das Funktionieren der Demokratie beruhe.

Noch gravierendere Folgen drohen durch die Aushöhlung individueller Freiheitsrechte (Datenschutz) oder manipulative Eingriffe in die Freiheit des demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses mittels sogenannter social bots und anonymisierter Netzwerke, die als Mittel der stillen Kriegführung auch von Terroristen oder auswärtigen Mächten eingesetzt werden können.  

Ausdruck findet die Krise in der wachsenden Legitimationsschwäche der durch Wahlen bestellten repräsentativen Institutionen. Das Vertrauensverhältnis der Bürger zu den Regierenden scheint nachhaltig gestört zu sein, was sich an der nachlassenden Organisationskraft der Parteien, rückläufiger Wahlbeteiligung insbesondere der sozial benachteiligten Schichten und wachsender Unterstützung für rechts- und linkspopulistische Protestparteien ablesen lässt. Letztere sind in einigen Ländern bereits so stark geworden, dass sie unmittelbaren Einfluss auf die Regierungspolitik ausüben. Und wo sie die Regierungen selbst stellen – wie in Ungarn oder Polen – zögern sie nicht, den Umbau der Verfassungen und politischen Systeme nach ihren eigenen autoritären Vorstellungen zu betreiben.

Politikwissenschaft: Dominanz quantitativ-statistischer Methoden

Der Politikwissenschaft, auch der deutschen, wird man nicht vorwerfen können, sie habe diese Fragen zu wenig adressiert. Im Gegenteil: Der Ausstoß an Publikationen zur Krise der Demokratie im Allgemeinen und zum Aufstieg des Populismus im Besonderen ist immens – allein zur AfD dürften im Moment wahrscheinlich ein Dutzend Dissertationen in Arbeit sein.

Untersucht werden dabei die Ursachen und Entstehungshintergründe (zum Beispiel durch Analysen der Wählerzusammensetzung), die Erscheinungsformen (Analysen der Ideologie und Programme), die Organisation und rhetorische Ansprache (Medienanalysen) sowie die Wirkungen der neuen Herausforderer auf die parteipolitische Konkurrenz, das Regierungshandeln und die Demokratie im Allgemeinen.

Weil letzteres auch die Frage nach Lösungsansätzen und "Bekämpfungsstrategien" einschließt, hat die Beschäftigung mit der Demokratiekrise zu einer stärkeren Rückbesinnung des Faches auf die normativen Grundlagen ihres Gegenstandes geführt, die der Politikwissenschaft gut zu Gesicht steht. Ihr Grundverständnis als empirisch-analytische Sozialwissenschaft bleibt davon unberührt.

"Wer heute nach einem profunden Frankreich-, Spanien- oder Polenkenner sucht, wird eher bei Historikern oder politischen think tanks fündig als in der Politologie." Frank Decker

Kritisch zu betrachten ist dagegen die zunehmende Dominanz der quantitativ-statistischen Methoden innerhalb des empirisch-analytischen Paradigmas, die sich vor allem in den für die universitären Karriereverläufe ausschlaggebenden Publikationen in referierten, überwiegend englischsprachigen Fachzeitschriften niederschlägt.

Durch diese Dominanz bleiben nicht nur innovative, gegen den Mainstream rudernde Ansätze auf der Strecke, sondern auch historisch fundierte Fall- und Länderstudien, denen die Politikwissenschaft in der Vergangenheit einen Gutteil ihres Renommees verdankt hat. Wer heute nach einem profunden Frankreich-, Spanien- oder Polenkenner sucht, wird eher bei Historikern oder politischen think tanks fündig als in der Politologie.

Allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Während sich die Forschung unter den Zwängen der Drittmitteleinwerbung und peer reviews weiter spezialisiert und bis zu einem gewissen Grade selber genügt, legen die Universitäten gleichzeitig immer stärkeren Wert auf die öffentlichkeitswirksame Außendarstellung. Dies kommt einem anderen Typus von Fachvertretern entgegen, der medienaffin ist und keine Berührungsängste mit der politischen Praxis aufweist.

Die Gefahr, dass sich beide Kulturen verselbständigen und voneinander entfernen, lässt sich zwar nicht von der Hand weisen. Gerade die Demokratie- und Parteienforschung beweist jedoch, dass durch das Gegenüber auch Möglichkeiten einer produktiven Ergänzung und Arbeitsteilung entstehen, die sich auf die Entwicklung und den Stellenwert des Fachs letztlich positiv auswirken.