Cancel Culture
"Der, dessen Name nicht genannt werden darf"
Die letzten Jahre und Monate haben mit Cancel Culture, Framing, Fakenews und alternativen Fakten den politischen und gesellschaftlichen Diskurs gleich um mehrere Begriffe und Techniken bereichert, die jeweils die bewusste und absichtliche Veränderung des Wissens um und der Erinnerung an historische Ereignisse thematisieren. Doch sind diese Techniken kein Privileg der Postmoderne: In Form der damnatio memoriae als dem gezielten Löschen von Erinnerung an Personen bzw. Ereignisse hat die intentionale Umgestaltung von historischer Erinnerung eine vielhundertjährige Geschichte. Der Begriff evoziert Bilder von ausgemeißelten Inschriften und zerstörten Statuen in der Antike aber auch von den retuschierten Abbildungen in Ungnade gefallener Persönlichkeiten in stalinistischer Zeit oder den Kulturzerstörungen etwa in Palmyra durch IS-Terroristen. Die Beispiele verweisen dabei sogleich auf das hermeneutische Paradoxon, das dem bewussten Vergessenmachen von jeher innewohnt: Wenn die Nachwelt auch nach vielen Jahrhunderten noch immer um die Vernichtung weiß, wie kann diese dann Zerstörung von Erinnerung sein?
"Wenn die Nachwelt auch nach vielen Jahrhunderten noch immer um die Vernichtung weiß, wie kann diese dann Zerstörung von Erinnerung sein?"
damnatio memoriae als Sonderform des Vergessens
Das häufige Vorkommen der damnatio memoriae in der Geschichte ist vielmehr als eine allgegenwärtige historische Praxis nachzuweisen, bei der es darum geht, ein bestimmtes Geschichtsbild zu produzieren. Durch Akte der Zerstörung soll ungewollte Vergangenheit beseitigt werden, indem durch Löschungen positive Erinnerungen an Personen oder Ereignisse verunmöglicht werden. Eine Parteiung oder Gruppe nutzt Momente der Überlegenheit, um Schriften, Bildnisse, Inschriften und andere Erinnerungsmale zu zerstören, damit diese den unterlegenen wie den nachfolgenden Diskursteilnehmern nicht mehr zur Verfügung stehen, um eine unerwünschte Gegenerinnerung erhalten oder bilden zu können. Dies kann klandestin bei Nacht und Nebel, aber gerade eben auch publikumswirksam vor den Augen hunderter Zuschauer stattfinden und beweist damit auch, dass damnatio memoriae ganz grundsätzlich mit der Bildung sozialer und historischer Identität verknüpft ist.
Das Phänomen der damnatio memoriae beinhaltet indes noch mehr. Denn um das Ziel der Nicht- beziehungsweise Schlechterinnerung zu erreichen, werden Erinnerungsmale nicht nur gelöscht, sondern bewusst und bisweilen kreativ überschrieben. Das Phänomen der damnatio memoriae ist daher als Sonderform des Vergessens zu sehen, durch das Wissensbestände bewusst zerstört, verschwiegen oder manipuliert werden, um sie in ein jeweils neu zu bestimmendes, herrschendes Narrativ einzuschreiben.
Zu den ältesten gut belegten Fällen der damnatio memoriae zählen etwa die Tilgungen der Namen von Hatschepsut oder Echnaton im alten Ägypten. Aus dem antiken Rom sind Hunderte Fälle überliefert. Dabei konnte die damnatio memoriae vom Herrscher ausgehen, aber auch den Herrscher selbst treffen. So ließ Kaiser Nero Gegner mit Gedächtnisstrafen verfolgen, wurde aber seinerseits nach seinem Tod damit belegt. Anlässlich der damnatio memoriae des Kaisers Domitian berichtet Sueton über das übliche Verfahren: "Schließlich beschloss [der Senat], alle seinen Namen tragenden Aufschriften auszulöschen und jede Erinnerung an ihn zu tilgen." Auch für die Zeit des Mittelalters sind zahlreiche Fälle von damnatio memoriae belegt. Bei allen Statusgruppen gibt es Hinweise auf gezieltes Vergessenmachen, angefangen von Päpsten, Kaisern, Königen, Bürgermeistern, Amtleuten und vielen mehr. Zu den prominentesten Beispielen zählt das Zerstören der Gräber und Vernichten der sterblichen Überreste der (Gegen-)Päpste Clemens III. und Victor IV. Es führt vor Augen, welcher Aufwand getrieben wurde, um Ansätze für eine positive (Gegen-)Erinnerung auszulöschen. In einer anderen Situation berichtet der Chronist Otto von Freising anekdotenhaft von einem ungewöhnlich souveränen Widerstand gegen eine um sich greifende Tilgungskultur. Als Kaiser Heinrich IV. in Merseburg am Grab seines Widersachers, des (Gegen-)Königs Rudolf von Rheinfelden gestanden sei, habe man ihm dazu geraten, das Grab und die Erinnerung auszutilgen. Er aber habe entgegnet, er wünschte, alle seine Feinde lägen so ehrenhaft begraben. Das kolportierte Diktum Heinrichs ist damit eine klare Positionierung gegen die Kultur des Vergessenmachens.
Spuren der Tilgungsaktionen
Mit Zunahme der Schriftlichkeit ab dem Spätmittelalter stehen auch mehr Hinweise auf Tilgungsaktionen zur Verfügung. Zu den besonders tilgungsintensiven Zeitabschnitten politischer und kultureller Umbrüche sind die Reformation und die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zu rechnen. Das Ansinnen, für eine bereinigte Zukunft die Erinnerungsmale zu tilgen, konnte das öffentliche Erscheinungsbild ganzer Städte verändern. Insbesondere bei den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zeigt sich eine unbekannte Radikalität und technische Perfektion, durch Tilgung von alternativen Deutungsansätzen, Schriften und Denkmälern aus der Vergangenheit die Geschichte als solche ändern zu wollen. Auf die Eskalation von Sprechverboten und Bücherverbrennungen sowie die Tatsache, dass man "am Ende auch Menschen verbrennt" wies bereits Heinrich Heine hin. Ein literarisches Denkmal setzte dem organisierten Vergessen George Orwell in seinem Roman 1984. Er verarbeitete die sowjetische Geschichtstilgungskultur in der Form des "Wahrheitsministeriums" und beschrieb damit das universelle Phänomen der Cancel Culture: Was nicht vollständig auf der aktuell gewünschten politischen Linie liege, werde getilgt und ersetzt, als ob es nie gewesen sei, um Andersdenkenden die Kristallisationskerne einer alternativen Erinnerung zu nehmen. Dieses aktuell fröhliche Urstände feiernde, dabei grundsätzlich ahistorische Denken erweist sich als fatal, wo Verstorbene nach tagesaktuellen Wertevorstellungen gerichtet werden.
"Was nicht vollständig auf der aktuell gewünschten politischen Linie liege, werde getilgt und ersetzt, als ob es nie gewesen sei."
Man könnte indes einwenden, die bewusste und absichtsvolle Reduzierung verfügbarer Vergangenheit sei aus Gründen des Fortschritts gerechtfertigt, weil es eine Form des geordneten Vergessens, des Zurücklassens geben müsse, schon allein um die Gesellschaft vor dem Informations- und Erinnerungskollaps zu schützen. Doch gibt es hierfür die kulturell bewährten Techniken des Sortierens, Kassierens, Recyclierens und Einbettens von Wissen in neue Paradigmen, die bislang als gesellschaftliche Aushandlung und bisweilen auch als in rechtsstaatlichen Verfahren getragene Prozesse abliefen. Das Aussortieren ungewollter Vergangenheiten aus der luftigen Höhe der eigenen, vorgeblich alternativlosen moralischen Überlegenheit, noch dazu mit den aktuellen technischen Möglichkeiten, das geradezu gewaltsame Vorgehen gegen Objekte und Texte der Gegenwart wie der Vergangenheit weist stattdessen immer in die Sphäre der Unredlichkeit. Dieser, aktuelle Cancel Culture und spätantike damnatio memoriae miteinander kurzschließende, die Akteure in ihren Absichten entlarvende Aspekt kann als überzeitliche Konstante der politisch oder gesellschaftlich intentionalen und zweckgerichteten Erinnerungsgestaltung gesehen werden. Der Blick in die Geschichte zeigt allerdings auch: Es funktioniert sehr oft nicht. Und das ist auch gut so.