Gemälde eines Spaziergängers im Wald
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Ideengeschichte
Der Wald und die Deutschen

Der "deutsche Wald" galt lange Zeit als Identifikationssymbol. Wie wurde er in Literatur und Kunst rezipiert, idealisiert, instrumentalisiert?

Von Johannes Zechner 29.07.2018

Ironischerweise beginnt die Ideengeschichte deutschen Walddenkens in südlichen Gefilden mit dem Quellenzeugnis des römischen Autors Tacitus. Seine bis ins 20. Jahrhundert vielrezipierte Germania schilderte die weiten Wälder des Nordens als Heimat und deren Eichenhaine als Heiligtum blauäugig-hellhaariger Stammeskrieger. Die Wildnis dieser "silvae horridae" verkörperte das Gegenbild zu den gemäßigten mediterranen Kulturlandschaften – ein Kontrast, der auch auf die jeweiligen Bewohner übertragen wurde.

Auf derartige antike Ausführungen konnten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts romantisch inspirierte Dichter und Denker beziehen, als sie die Nation in der Natur zu verwurzeln suchten. Diese städtische Elite einte im Zeitkontext der antinapoleonischen Kriege von 1813 bis 1815 eine Sehnsucht nach Identitätssymbolen gegen das nachrevolutionäre Frankreich. Indes stand das beschworene Naturidyll schon damals in Kontrast zur forstlichen Realität, in welcher bereits der nutzenorientierte Wirtschaftswald dominierte.

Im literarischen Werk Ludwig Tiecks  finden sich neben der einflussreichen Wortschöpfung der "Waldeinsamkeit" auch patriotische Sichtweisen der Baumwelt. Diese geriet für eines seiner Gedichte sogar zum metaphorischen Mitkämpfer, der den Sieg gegen Napoleon feierte: "Freiheit! Braust der Eichenwald". An anderer Stelle kontrastierte ein Protagonist Tiecks im Angesicht der Wartburg eine deutsche "Freude an der Herrlichkeit der Wälder" mit angeblich weniger erhabenen Naturwahrnehmungen romanischer Völker.

"Nach der klimatheoretischen Perspektive garantierte nur die nordische Waldnatur das Fortbestehen eines freien Volkes." Dr. Johannes Zechner

Weitergehend überhöhte der Dichter Joseph von Eichendorff den Wald als "Deutsch Panier, das rauschend wallt", also als symbolisches Wehr- und Nationalbanner. Ferner verklärte er einen unvergänglichen Freiheitswald zum stolzen Symbol vaterländischer Vergangenheit wie zum trutzigen Sinnbild des Widerstandes. Eine dermaßen idealisierte Einigkeit der Baumnatur sollte bei Eichendorff fortbestehende konfessionelle und politische Differenzen im "Land der Eichen" überwinden helfen.

Demgegenüber galten für die Philologen Jacob und Wilhelm Grimm "altdeutsche Wälder" als Rückzugsräume gemeinschaftsstiftender Volksüberlieferung. Ihre wissenschaftlichen Werke deuteten diese als naturnahe Glaubensorte, zudem verwandten sie eine Vielzahl organischer Sprachbilder wie den "Baum" der Sprache oder das "Holz" der Sage. Fast die Hälfte der bis heute beliebten Grimm‘schen Märchen boten Baumlandschaften, die durch kontinuierliche Überarbeitungen noch dichter und dunkler geworden waren.

Besonders das Waldbild des Historikers Ernst Moritz Arndt war von einer klimatheoretischen Perspektive geprägt, der zufolge nur die nordische Waldnatur das Fortbestehen eines freien Volkes garantierte. Seine Heimat verherrlichte er dementsprechend als "Vaterland grüner Eichen", wohingegen ihm Italien als "Land der Citronen und der Banditen" erschien. Ferner nannte Arndt als die beiden Elemente wurzelhafter Stabilität das Bauerntum und die Baumnatur, welche nur zusammen erfolgreich existieren könnten.

Ähnlich verknüpfte nach der Revolution von 1848 der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl Naturumgebung und Nationalcharakter. Der vielgelesene Arndt-Schüler verstand den deutschen Wald als Jungbrunnen, während für ihn die gezähmten Parks Englands und die gerodeten Felder Frankreichs Landschaften ausgelebter Zivilisationen waren. Westliche Werte deklassierte Riehl zugunsten einer germanischen "Waldfreiheit", die er zum Gegenbild der (Groß-)Stadt und zum "Schutzwall historischer Überlieferung" erklärte.

Nationalsozialisten machen sich Waldmetaphern zunutze

Während der Jahre des Kaiserreiches erfuhren solche Denkmuster zunehmende Beliebtheit und weitere Radikalisierung. Als besonders wirkmächtig erwies sich der Soziologe Werner Sombart, der die Wirtschaftsgeschichte als Kontrast zwischen "Silvanismus" und "Saharismus" beziehungsweise "Waldvolk" und "Wüstenvolk" beschrieb. Andere Autoren politisierten gegen ein vorgebliches "Steppenvolk" der Slawen, suchten spirituelle Erlösung in Germaniens "heiligen Hainen" oder priesen den "Wald als Erzieher" zum Darwinismus.

Nach der Kriegsniederlage 1918 sollte der Wald als Symbol wiederzugewinnender Stärke dienen sowie als scheinbar natürliche Alternative zur Weimarer Demokratie. Eine wichtige Rolle spielte der Deutscher Wald e.V. – Bund zur Wehr und Weihe des Waldes, wo etwa der Forstwissenschaftler Georg Escherich und der Lehrer August Meier-Böke "im nordischen Waldgeiste" wirkten. Publizistisch wurde dabei vor allem gegen vermeintlich deutsch- und naturfeindliche "Steppenrassen" und "Wüstenrassen" agitiert.

Im Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1945 entwickelte sich das mittlerweile eingeführte Denkbild des "deutschen Waldes" zur Rechtfertigung der offiziellen Weltanschauung. Politische Akteure des NS-Staates wie Heinrich Himmler, Hermann Göring und Alfred Rosenberg  verfolgten in ideeller Konkurrenz zueinander stehende Projekte: vom Forschungswerk "Wald und Baum" über das Vorhaben "Wiederbewaldung des Ostens" bis zum Kulturfilm "Ewiger Wald".

Zudem postulierten an ein breiteres Publikum gerichtete Bildbände, Sachbücher oder Unterrichtsmaterialien in nicht nur metaphorischer Gleichsetzung von Volk und Wald, dass hierarchische Harmonie und rassische Reinheit die Grundlage der neuen Ordnung darstellten. Während die propagierten Denkmuster in ideengeschichtlicher Hinsicht keineswegs originär oder originell waren, erhielten sie doch unter den Bedingungen der NS-Herrschaft durch ausgeweitete Ressourcen eine gesteigerte Öffentlichkeitswirkung.

Politische Symbolik des Waldes schwindet

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte angesichts von Niederlage und Teilung die Baumnatur als  scheinbar politikfernes Idyll helfen, Ruhe unter den Kronen deutscher Stämme zu finden. Eine gewisse Nachhaltigkeit solchen Walddenkens zeigte sich noch in den bundesrepublikanischen "Waldsterben"-Debatten der 1980er-Jahre, als mit dem prognostizierten Kollektivtod der Baumwelt das Ende auch der menschlichen Existenz befürchtet wurde.

Gemäß der 2010 on Carsten und Katja Wippermann publizierten Studie "Mensch und Wald" hält sich nur noch knapp die Hälfte der Befragten einmal monatlich oder öfter überhaupt im deutschen Wald auf. Zu den häufig genannten Vorzügen gehören für dieses Bevölkerungssegment das Naturerlebnis und die Erholung. Hingegen finden explizite Funktionen der Identitätsstiftung in klarem Gegensatz zum beschriebenen Zeitraum zwischen Romantik und Nationalsozialismus keine Erwähnung mehr.

Resümierend betrachtet verliefen die Konjunkturen deutschen Walddenkens – ungeachtet aller behaupteten Zeitlosigkeit – im Wesentlichen parallel zu den nationalpolitischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem zu vermeintlichen oder tatsächlichen Krisenzeiten erfolgten intensive weltanschauliche Bezugnahmen auf die Baumnatur als Symbol der Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung. Wahlweise sollte der vorgestellte Wald die kollektive Einheit schon vorwegnehmen, erst herstellen oder erneut bekräftigen.

Im übertragenen Sinne lässt sich der "deutsche Wald" verstehen als eine Projektionsfläche für gesellschaftliche und kulturelle, hier vor allem nationale Auffassungen. Gemäß der gewählten Kino-Metapher sind solche Projektionsflächen zwar inhaltlich offen für die verschiedensten Bilder – diese sollten allerdings für eine ideengeschichtliche Wirkung auf Interessen und Vorlieben eines breiteren Publikums rekurrieren können.


Dr. Johannes Zechner spricht über die Ideengeschichte des Deutschen Waldes