Träumende Frau
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Sigmund Freud
Deuter unserer Träume

Sigmund Freud ist Begründer der Psychoanalyse und gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Eine Erinnerung zum 80. Todestag.

Von Jens Heise 23.09.2019

Als Arzt für Nervenkrankheiten ging es Freud um ein neues therapeutisches Verfahren. Aber noch bevor er die Psychoanalyse medizinisch etabliert hatte, wechselte er das ursprüngliche Terrain. Deshalb liegt der Anfang der Psychoanalyse auch nicht in der Klinik der Nervenkrankheiten, sondern in der Deutung der Träume.

"Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine Traumdeutung, trägt die Jahreszahl 1900", heißt es in Sigmund Freuds "Selbstdarstellung" aus dem Jahr 1981. Die Traumdeutung handelt nicht von Nervenkrankheiten, wohl aber von psychischen Prozessen, die dem wachen Bewusstsein ebenso unsinnig erscheinen wie eine Psychose.

Der Traum ist wie eine Psychose, aus der wir morgens gesund aufwachen; die Psychose ist wie ein Traum, aus dem es kein Erwachen gibt. Aus dieser Konstellation ergibt sich für den Arzt dieselbe methodische Forderung wie für den Traumdeuter: aus dem Unsinn des Bewussten einen Sinn des Unbewussten zu machen. Als Psychologie des Unbewussten zielt Psychoanalyse auf die Verknüpfung von Klinik und Traum und demonstriert, dass die Unterscheidung von pathologisch und normal von bloß konventionellem Wert ist.

Suche nach naturwissenschaftlicher Begründung

Klinik und Traum sind die beiden Pole, an denen die Psychoanalyse orientiert ist. Sie stehen für die außerordentliche Spannweite, die das Werk Freuds auszeichnet, und sie verweisen auf die Ambivalenzen in seinem Projekt. Freud hat immer versucht, die Psychoanalyse als naturwissenschaftlich begründet auszuzeichnen. Es ist offensichtlich, dass dies nur sehr bedingt gelten kann. Sie hat es nicht mit Kausalgesetzen zu tun, sondern mit der Analyse von Erlebnisstrukturen.

Die therapeutische Praxis lässt sich nicht wie ein Experiment anordnen, kontrollieren und in einer formalisierten Sprache protokollieren. Die analytische Grundregel, alles zu sagen, auf die Freud seine Patienten verpflichtet hat, erlaubt es nicht, ein Ende der Behandlung zu definieren. Als Medium der Therapie bietet sich keine Präzisionssprache an, im Gegenteil ist alles andere als eindeutig, was die Patienten mitteilen. Das hat Freud durchaus gesehen, und dennoch ging es ihm immer um die naturwissenschaftliche Bedeutung der Psychoanalyse.

Der Rückgriff auf die Naturwissenschaften ist auch als Versuch zu verstehen, die Physiologie der Triebe in eine anthropologische Perspektive umzusetzen. In einer solchen Perspektive ist der Mensch an die Bedingungen seiner Triebnatur gebunden und zugleich offen, weil das, was seine Triebstruktur ausmacht, sich nur über die Kultur bestimmen lässt.

Ambivalent ist auch Freuds Verhältnis zu seiner Rolle als Arzt. "Nach 41jähriger ärztlicher Tätigkeit sagt mir meine Selbsterkenntnis, ich sei kein richtiger Arzt gewesen", bekennt Freud in einer Selbstdarstellung. Motiviert ist diese Distanz zur Medizin durch den Anspruch der Psychoanalyse, für das Unbewusste überhaupt zuständig zu sein und nicht nur für die neurotischen Störungen – eine allgemeine Wissenschaft vom seelisch Unbewussten.

"Für Freud liegt in der Dezentrierung des Ichs die Bedingung seiner Psychologie des Unbewussten."

Freud hat die Psychoanalyse nicht philosophisch begründet. Philosophisch wirksam ist sie durch ihre Kritik an der Autonomie des Ichs oder des Subjekts, wie es sich im Selbstportrait des animal rationale kristallisiert hatte. Dieser Anspruch, ein anderes Bild vom Menschen zu vertreten, macht den philosophischen Kern der Psychoanalyse aus und verbindet sie mit nachidealistischen Positionen unter der Parole, das Ich zu dezentrieren. Für Freud liegt in der Dezentrierung des Ichs die Bedingung seiner Psychologie des Unbewussten. Was aus der Zentralperspektive des Ichs als Unsinn erscheint wie der Traum oder die Neurose, wird sinnvoll auf dem Schauplatz des Unbewussten.

Die analytische Kritik an der Autonomie des Ichs, für die sich gerade bei Nietzsche entsprechende Botschaften finden, meint immer auch das individuelle psychische Leben und ist von der therapeutischen Praxis nicht zu trennen. Die Psychoanalyse behält das Ich im Blick, aber sie fragt nicht grundsätzlich nach den Bedingungen von Subjektivität, sondern nach der Rolle des Ichs im Verhältnis zu anderen Kräften des psychischen Lebens. Freud muss nicht nur die Funktion des Ichs klären, sondern auch verständlich machen, warum das Ich krank werden kann. Am Ich hängen die Monopole des Menschen: Kultur und Neurose.

Der Mensch: von seinen Trieben beherrscht

In der Psychoanalyse erscheint die Kondition des Menschen prekär: Das Ich ist abhängig von der Außenwelt, über die Innenwelt seelischer Vorgänge ist es nur unzureichend informiert, es ist den Trieben ausgesetzt und unterliegt der Zensur durch das Über-Ich; die Vernunft erscheint als Werkzeug der Triebe und ist ohne eigenständige Kraft. Zusammengefasst: "Der Mensch ist ein Wesen von schwacher Intelligenz, das von seinen Trieben beherrscht wird", schreibt Freud laut "Studienausgabe".

Auf der anderen Seite aber geht es darum, das Ich zu stärken: "Wo Es war, soll Ich werden", heißt die Botschaft hier, und auch die Vernunft erscheint in einem anderen Licht: "[…] die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft." Es ist offenkundig, dass wir es hier – die Zitate stammen aus "Die Zukunft einer Illusion" – mit Aussagen von unterschiedlicher Geltung zu tun haben. Soweit es um die Beschreibung anthropologischer Grundlagen geht, ist der Ton pessimistisch.

Anders klingen jedoch die Aussagen, die sich auf Potentiale und Handlungsmöglichkeiten des Menschen beziehen. Diese Doppelperspektive folgt dem klinischen Schema von Diagnose und Therapie. Allen kulturtheoretischen Schriften Freuds liegt dieses Schema zugrunde, und auch hierin zeigt sich, wie grundsätzlich die therapeutische Dimension in Freuds Werk verankert ist.

Es ist offensichtlich, dass die Wende vom Bewussten zum Unbewussten in der Geschichte der Naturwissenschaften nicht aufgeht. Die psychologische Dezentrierung betrifft das Ich selbst und konfrontiert uns mit der Einsicht, dass wir zu einem Teil unserer Innenwelt keinen Zugang haben. In der Entdeckung des Unbewussten liegt die eigentlich philosophische Frage der Psychoanalyse: wer wir sind, wenn wir uns unter der Perspektive des Unbewussten verstehen. In seiner Rede zum 80. Geburtstag Freuds stellt Thomas Mann 1936 fest, dass die Wirkung der Psychoanalyse die Grenzen der Medizin weit überschritten und das Selbstverständnis des Menschen entscheidend geprägt hat: "die analytische Einsicht ist weltverändernd", schreibt er in "Freud und die Zukunft".