Würfel mit Symbolen von sozialen Netzwerken
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Netz-Debatte
"Die Algorithmen sind wir"

Wie verändern soziale Netzwerke die öffentliche Debattenkultur und welchen Einfluss haben wir darauf? Fragen an Sozialpsychologin Nicole Krämer.

Von Katrin Schmermund 15.02.2021

Forschung & Lehre: Immer mehr Menschen informieren sich ausschließlich über soziale Medien. Die zeigen uns, was uns vermeintlich interessiert und wir können schnell in eine persönliche "Filterblase" rutschen. Wie stark verändert das den öffentlichen Diskurs?

Nicole Krämer: Die Effekte von "Filterblasen" oder auch "Echokammern" im Netz sind gesamtgesellschaftlich begrenzt. Die Diskussion über die Personalisierung von Inhalten ist groß. Internationale Forscherteams kamen jedoch zu dem Schluss, dass sich die Ergebnisse identischer Google-Sucheingaben bei unterschiedlicher vorheriger Suchhistorie gar nicht so stark unterscheiden. Auch bei der Diskussion über eine mögliche Beeinflussung der US-Wahl 2016 durch das Datenanalyse-Unternehmen "Cambridge Analytica" ist nach wie vor ungeklärt, wie stark die Beeinflussung durch personalisierte politische Botschaften tatsächlich war.

Angeblich wurde mit der automatischen Erkennung von Persönlichkeitseigenschaften aufgrund von Like-Verhalten gearbeitet, um maßgeschneiderte pro-Trump Botschaften zu versenden. Wenn man aber weiß, dass die Erkennungsrate von Persönlichkeitseigenschaften laut Studien nur bei etwa 70 Prozent liegt und es darüber hinaus keine gesicherten Erkenntnisse gibt, welche Botschaften bei welchen Persönlichkeiten erfolgreicher sind, erscheint es unwahrscheinlich, dass auf diesem Wege massenhaft Wählerinnen und Wähler überzeugt wurden, Trump zu wählen, obwohl sie es eigentlich ursprünglich nicht wollten.

"Die Mehrheit ist online häufiger mit An­sichten konfrontiert, die von ihrer Meinung abweichen, als im täglichen 'Offline-Leben'."

Prof. Dr. Nicole Krämer
Professorin Nicole Krämer leitet den Fachbereich Sozialpsychologie: Medien und Kommunikation der Universität Duisburg-Essen. privat

F&L: Wenn wir Seiten in unserem Feed haben, die nur eine Sicht auf die Dinge erlauben, ist unsere Perspektive trotzdem sehr begrenzt. Das halten Sie für unproblematisch?

Nicole Krämer: Die Mehrheit der Bevölkerung ist online häufiger mit Ansichten konfrontiert, die von ihrer Meinung abweichen, als im täglichen "Off­line-Leben". Dort stehen wir überwiegend im Austausch mit Gleichgesinnten. Ein Problem sehe auch ich allerdings darin, dass sich Minderheits-Gruppen mit extremen Meinungen durch die wechselseitige Bestärkung im virtuellen Raum weiter polarisieren oder radikalisieren. Da werden die Effekte von "Echokammern" gefährlich.

F&L: Die Wirkung der Mobilisierung haben wir zuletzt im Extrem in den USA gesehen. Anhängerinnen und Anhänger des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump haben sich mobilisiert, durch seine wiederholten Aufrufe im Netz organisiert und das US-Kapitol gestürmt.

Nicole Krämer: Es ist schwer vorstellbar, dass dieser Hass alleine durch die geschickte Zusammenschaltung von Algorithmen entstanden ist. Social Media halte ich allenfalls für einen Verstärker, denn Menschen, die ein Regierungsgebäude stürmen, müssen schon sehr festgefahrene Voreinstellungen vertreten. Social Media verleiten dazu, Eigenschaften auszuleben, die Menschen bereits mitbringen beziehungsweise auf anderen Wegen erworben haben.

F&L: Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?

Nicole Krämer: In einem solchen Fall muss vor allem auf anderen gesellschaftlichen Ebenen etwas getan werden, damit Personen gar nicht erst in Versuchung kommen, Verschwörungstheorien und Falschnachrichten zu glauben. Allerdings muss mit Blick auf die Dynamiken in Randgruppen, die sich in den sozialen Netzwerken weiter extremisieren, auch von Seiten der sozialen Medien gehandelt werden.

F&L: Was fordern Sie von Social-Media-Plattformen?

Nicole Krämer: Es kann nicht sein, dass sich große Social-Media-Anbieter, die inzwischen einen wahnsinnig großen Einfluss auf die Meinungsbildung haben, vor der Verantwortung drücken, für die Richtigkeit der auf ihren Portalen verbreiteten Informationen zu sorgen. Die großen Plattformen müssen endlich anfangen, eine "Gatekeeperfunktion" wahrzunehmen, wie sie die Medien mit dem Internet zu einem großen Anteil verloren haben, weil wir heutzutage alle – mit den daraus resultierenden Vor- und Nachteilen –, Informationen leicht in die Welt tragen können.
Ich kann mich noch erinnern, dass wir vor einigen Jahren darüber diskutiert haben, ob Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Podcast rausgeben dürfe, oder ob sie damit ‚Staats-Propaganda‘ verbreite, die an der "vierten Gewalt", der Kontrolle durch Journalisten, vorbeilaufe. Heute sind wir an einem Punkt, an dem Trump über Jahre ein fremdes Portal – Twitter – dafür genutzt hat, seine polarisierenden Botschaften in die Welt zu tragen.

"Wir sorgen dafür, welche Nachrichten verbreitet werden, indem wir sie teilen, und das passiert oft sehr unreflektiert."

F&L: Was muss sich ändern?

Nicole Krämer: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz muss in Deutschland dringend konsequenter angewandt beziehungsweise Vergleichbares auch in anderen Ländern implementiert werden. Dazu gehört, Postings, die gegen bestehende Gesetze verstoßen, zu löschen, und den dazugehörigen Account im Zweifel zu sperren. Das ist zuletzt bei Trump passiert, aber zu spät. Er hatte bereits über Jahre Falschnachrichten verbreitet und dafür gesorgt, dass seine Anhängerinnen und Anhänger im Laufe seiner Amtszeit bereits so stark polarisiert waren, dass Argumente von anderen Seiten einfach an ihnen abprallten. Das Scannen von Postings und die Moderation von Kommentarspalten – wie es die großen Medienverlage seit einiger Zeit bereits machen – ist extrem ressourcenaufwendig, aber notwendig.

Wenn wir uns darüber hinaus alle etwas bewusster im Netz bewegen, sind wir ein ganzes Stück weiter. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir sinnbildlich selbst die Algorithmen sind. Wir sorgen dafür, welche Nachrichten verbreitet werden, indem wir sie teilen, und das passiert oft sehr unreflektiert. Es würde schon helfen, Nachrichten auch wirklich zu lesen, bevor sie geteilt werden. Oft sind Falschnachrichten leicht überprüfbar: Zu Anfang der Corona-Pandemie verbreitete sich eine Nachricht viral, nach der die Uniklinik Wien vermeintlich herausgefunden habe, dass Ibuprofen die Erkrankung verschlimmere. Dass es sich dabei um eine Falschnachricht handelte, wäre mit einem Klick auf die Seite der Uniklinik prüfbar gewesen.

F&L: Für einen kritischen Medienkonsum müssen wir uns der Existenz von Falschnachrichten und ihren Effekten bewusst sein. Hinter ihnen sitzt ihr Sohn im Homeschooling. Wie präsent ist Medienbildung in seinem Unterricht?

Nicole Krämer: Das Thema wird immer stärker behandelt, aber bei weitem nicht genug. Ich fände es vor allem wichtig, dass die Schulen noch stärker als bisher lehren, wie man glaubwürdige Quellen identifizieren kann. Auf der anderen Seite zeigen unsere Ergebnisse auch, dass die Bevölkerung grundsätzlich weiß, wie sie sich umfangreich informieren kann. Das macht sie insbesondere dann, wenn ein Thema wichtig für sie ist.

F&L: Die Ergebnisse von Kognitionswissenschaftlern der HU Berlin von 2020 scheinen das Ganze etwas komplizierter zu machen. Demnach lassen wir uns – geleitet von unseren Emotionen – selbst dann von einer Nachricht mitziehen, wenn wir Quellen für unseriös halten. Wie bekommen wir unsere Emotionen besser in den Griff?

Nicole Krämer: Die Ergebnisse passen zum sogenannten "confirmation bias", nach dem wir Nachrichten dankbar annehmen, wenn sie in unser Weltbild passen. Wir glauben, was wir glauben wollen. Das gilt nicht erst seit Social Media. Unsere Ansicht bestätigende Informationen geben uns ein Gefühl von Sicherheit. Hinzu kommt laut Studien, dass einmal rezipierte Falschinformationen im Nachhinein durch eine Richtigstellung kaum zu korrigieren sind. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen und dem entgegenwirken. Dass wir uns gänzlich und in jeder Situation kontrollieren können, glaube ich aber nicht.