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Wissenschaftliche Theologie
Die funktionalisierte Religion

Gehört die Theologie an die Universitäten? Unbedingt, meinte der Wissenschaftsrat vor knapp zehn Jahren. Gilt das auch heute noch?

Von Felix Grigat 19.04.2019

Wie hält es die Wissenschaft mit der Religion? Hört man sich um unter Wissenschaftlern, so outen sich die meisten als eher religiös unmusikalische Zeitgenossen. Dabei zählen sich die meisten der Gebildeten noch nicht einmal mehr zu den Verächtern der Religion. Sie haben schon vergessen, dass sie den Glauben vergessen haben, meint gar ein Zeitgenosse. Gut eingerichtet in einer funktional differenzierten Welt ist man damit zufrieden, nur noch für den eigenen Code zuständig zu sein. Was soll die Religion auch inmitten von Exzellenzinitiativen, anwendungsorientierter Forschung und Studienreformen? Die Religion als "Sinn und Geschmack für das Unendliche", als das, was uns "unbedingt angeht", stünde inmitten dieser Vorläufigkeiten wohl ein wenig verloren herum.  Es sei gelungen, "das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen" (Schleiermacher), dass man der Religion nicht mehr bedürfe, diagnostiziert Friedrich Schleiermacher bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Inmitten dieser selbstgewissen Religionslosigkeit hatte der Wissenschaftsrat in seinen letzten Empfehlungen zum Thema aus dem Jahr 2010  dafür plädiert, die Theologien als für die Universität notwendige Wissenschaften zu stärken. Von einer "(relativen) Erfolgsgeschichte" der Theologien war gar die Rede, ja, man habe ein "vitales Interesse" an ihnen. Woher kam dieser neue Ton? "Die lange gängige These, in modernen Gesellschaften werde Religion bedeutungslos, hat sich als nicht haltbar erwiesen", konstatierte der Wissenschaftsrat auf die ihm eigene nüchterne Weise. Nicht haltbar sei die These, weil "religiöse Bindungen nach wie vor Lebenswelten" prägten, Religion einen wesentlichen Bezugspunkt kollektiver Zugehörigkeit darstelle und einen wichtigen Aspekt globaler Konflikte ausmachen könne.

Die Religion als "Moralverstärker"

Die Gründe für diese Neubewertung sind allerdings nicht das Resultat eines Streits der Fakultäten. Der Wissenschaftsrat hatte gesellschaftlichen Bodenkontakt aufgenommen, sich über die weltweite Präsenz der Religionen verwundert und Relevanz signalisiert. Die reine praktische Vernunft scheint sich dabei nicht mehr so sicher zu sein, allein mit einer Theorie der Gerechtigkeit einer "entgleisenden Modernisierung" entgegenwirken zu können. Man hat, ein wenig erstaunt und wohl auch stirnrunzelnd, festgestellt, dass "etwas fehlt". Wurde der Hain doch zulange als Hölzer gesehen? Die metaphysisch obdachlos gewordene Wissenschaft vermisst die "Kreativität der sprachlichen Welterschließung, um ein ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein aus sich heraus zu regenerieren" (Habermas).

Die Religion, so setzt man es nun auf die Agenda, soll den normativen Grundlagen der modernen Gesellschaft Beine machen. Das ist des Pudels Kern: Die Religion soll wie im 18. Jahrhundert als Moralverstärker dienen und wird deshalb gerne als Kitt der Gesellschaft akzeptiert. So war für Kant der eigentliche Zweck der Religionslehre, "moralisch bessere Menschen, nützliche Bürger und getreue Untertanen" zu bilden. Aber schon damals war Kritikern eines reinen Moralglaubens klar, dass diese Funktionalisierung der Religion "die größte Verachtung" gegen sie bewies, nämlich "sie in ein anderes Gebiet verpflanzen zu wollen, daß sie da diene und arbeite". Dass Religion um ihrer selbst willen interessant sei, dass sie keine Funktionen erfüllt außer der, den Menschen wahrhaft zu sich selbst zu bringen, komme so nicht in den Blick. Was aber "nur um eines außer ihm liegenden Vorteils willen geliebt und geschätzt wird, das mag wohl not tun, aber es ist nicht in sich notwendig" (Schleiermacher).

Kompatibilität mit dem demokratischen Rechtsstaat

Dabei weiß sich der Wissenschaftsrat in jener besten Gesellschaft, für die die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und Religionen unter dem Leitbegriff der Integration steht. Es ging und geht vor allem darum, den Islam in Deutschland zu modernisieren. Und dazu sah und sieht der Wissenschaftsrat den besten Weg in einer Akademisierung der Ausbildung von Imamen und Religionslehrern. So wird neben Religion und Theologie allerdings auch die Wissenschaft funktionalisiert. Die Theologien sollen zwar ihren Gegenstand kritisch reflektieren und so Ungewissheit und Distanz produzieren, zugleich aber Kompatibilität mit dem demokratischen Rechtsstaat erzeugen. Es gehe, so der Rat, um "Sozialisation" und darum, dem Fundamentalismus zu wehren. Ob diese Rechnung überhaupt, aber insbesondere für den Islam aufgeht? Dabei steht vor dem Hintergrund des dramatischen Ansehensverlustes der Kirchen durch die Missbrauchsskandale gegenwärtig ihr Anspruch, sich in Sachen Moral und Ethik zu äussern, in Frage. Auch das autoritäre Durchgreifen der katholischen Kirche bei unliebsamen aber wissenschaftlich begründeten Thesen wie im Fall Ansgar Wucherpfennig, muss definitiv ausgeschlossen werden. So passt Theologie nicht in die Gemeinschaft der Wissenschaften.

So wird man nicht sagen können: "Wissenschaftsrat locuta, causa finita!". Dennoch sind seine Einsichten über die wichtige Rolle der Theologien für Universität und Gesellschaft auch nach fast zehn Jahren noch bemerkenswert, zumal er mit seinen Empfehlungen die Rolle der christlichen und nichtchristlichen Theologien an den deutschen Hochschulen gestärkt hatte. Der zentrale Ort dieser Theologien ist nach Überzeugung des Rates das staatliche Hochschulsystem. Die Universität habe ein "genuines Interesse" an wissenschaftlicher Theologie. Das Wissenschaftssystem müsse auf die "weiter wachsende Pluralität der religiösen Bekenntnisse in Deutschland" langfristig und institutionell reagieren.

Es geht um Fragen der Existenz

Obwohl der Wissenschaftsrat das Schwergewicht seiner Argumentation auf den Nutzen der Theologien für Staat, Kirche und Gesellschaft legt, erkennt er auch das Selbstverständnis der christlichen Theologien an: "In ihrem Selbstverständnis definiert sich christliche Theologie zum einen durch einen Bezug auf Transzendenz, das heißt durch einen für sie spezifischen Erkenntnisgegenstand, und zum anderen durch das praktische kirchliche und öffentliche Interesse, eine Funktionselite auszubilden, welche die überlieferten christlich-religiösen Gehalte vernünftig zu übersetzen und zu kommunizieren versteht." Zudem reflektierten Theologien im Wissenschaftssystem die Grenzen einer rein wissenschaftsförmigen Selbstdeutung des erkennenden Menschen. Sie halten nach Überzeugung des Rates ein Bewusstsein von der Kontingenz menschlichen Handelns aufrecht und geben der Frage nach den Bedingungen für ein Gelingen oder Scheitern menschlicher Existenz einen Ort.