

150. Geburtstag
Die Geschichten Thomas Manns sind noch nicht auserzählt
Forschung & Lehre: Herr Professor Marx, Sie sind Vizepräsident der Thomas Mann-Gesellschaft und beschäftigen sich intensiv mit dem Schriftsteller, der heute seinen 150. Geburtstag feiern würde. Welche Facette Thomas Manns fasziniert Sie besonders?
Friedhelm Marx: Es sind gleich mehrere: Da ist die scharfe, treffsichere, literarische Weltbeobachtung, die sich sowohl auf die innere Dynamik von Familienkonflikten als auch auf die gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Bewegungen seiner Gegenwart richtet. Da ist eine ganz spezifische erzählerische Ironie, die widerstreitende Standpunkte in der Schwebe hält, ein- oder eigensinnige Überzeugungen dagegen spielerisch entlarvt.
Und schließlich entwickelt sich dieser Autor in der Weimarer Republik zu einem public intellectual, der bis an sein Lebensende immer wieder öffentlich für die Demokratie eintritt, wenn sie ihm gefährdet erscheint.
F&L: Welche Texte können Sie unseren Leserinnen und Lesern besonders ans Herz legen und warum? Und was macht sie anschlussfähig für die Gegenwart?

Friedhelm Marx: Als kleine Einstiegsdroge in die Mann'schen Familienerzählungen: die immer noch unterschätzte Novelle "Unordnung und frühes Leid" von 1925. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Lebensform einer großbürgerlichen Familie im Inflationsjahr 1923, die vom Ansturm junger, anarchischer Impulse überrascht, ja erschüttert wird: ein clash of generations, geschildert aus der Perspektive des professoralen Vaters, der erfolglos versucht, die innerfamiliären Fliehkräfte zu bändigen. Einige Ähnlichkeiten mit den Manns sind offensichtlich (und wohl beabsichtigt).
In politisch bewegten Zeiten wie der jetzigen: Die Novelle "Mario und der Zauberer" von 1930, die ein italienisches Reiseerlebnis schildert, das vollkommen entgleitet. Im Mittelpunkt steht die Vorstellung eines Zauberers, dem es gelingt, sein Publikum nahezu vollständig willenlos zu machen. Selbst der Erzähler, ein biederer deutscher Familienvater, gerät in den Bann des Zauberers. Diese kleine Novelle ließ sich schon 1930 als literarische Warnung vor politischen Hypnotiseuren lesen.
Und für alle, die sich (mit einigem Recht) von Hochstaplern umgeben sehen: "Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" von 1954. Da lässt sich spielerisch nachvollziehen, dass (und wie) die Welt betrogen werden will.
F&L: Thomas Manns Werke haben ein reiches literarisches Nachleben entfaltet. Woran liegt das?
Friedhelm Marx: Viele seiner Romane und Erzählungen haben eine breite, auch internationale Rezeption provoziert und gehören längst zum Kanon der Weltliteratur. Es gibt Ballett- und Opernbearbeitungen, Comics, Twitter-Fassungen einzelner Texte, Graphic Novels, nicht zuletzt zahlreiche Verfilmungen.
Mit seinem Roman-Debüt "Buddenbrooks. Verfall einer Familie" von 1901 legte Thomas Mann eine turbulente Familiengeschichte über vier Generationen vor, die bis heute als Blueprint für Familienromane der Gegenwart dient. Unvermindert aktuell und literarisch anschlussfähig erscheint bis heute die brutale Verschränkung von Geschäfts- und Familieninteressen und das in jeder Generation neu auszuhandelnde Gegeneinander von bürgerlichem Ordnungsregime und künstlerischer, anarchischer Sensibilität, die sich dem marktwirtschaftlichen Soll und Haben verweigert.
"Wilde Debatten über alle denkbaren Themen der Moderne: Terror, Revolution, staatliche Ordnung oder Anarchie, Technik und Arbeit, Fortschrittsprobleme"
Auf ganz andere Weise dauerhaft aktuell ist der "Zauberberg"-Roman von 1924: eine radikale erzählerische Verlangsamung des Lebensgefühls in Zeiten allgemeiner Beschleunigung. Dem Protagonisten Hans Castorp vergehen sieben Jahre im Davoser Sanatorium "Berghof" beinahe wie ein Tag und geben zugleich Raum für wilde Debatten über alle denkbaren Themen der Moderne: Terror, Revolution, staatliche Ordnung oder Anarchie, Technik und Arbeit, Fortschrittsprobleme – auch heute noch umstrittene politische Fragen.
Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk nutzte den "Zauberberg" als literarische Folie für ihren 2022 erschienenen Roman "Empuzjon" (auf Deutsch: "Empusion"), Heinz Strunk brachte im November 2024, genau 100 Jahre nach dem Erscheinen des Originals, einen Roman mit dem Titel "Zauberberg 2.0" heraus. Das allein zeigt: Die Geschichten Thomas Manns sind offenbar immer noch nicht auserzählt.