Ein Mädchen schreibt etwas mit der Hand
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Pädagogik
Die Handschrift sollte früh und mehrjährig erlernt werden

Die moderne Kommunikation läuft überwiegend digital ab. Gerade in der Schule sollte auf das Schreiben mit der Hand jedoch nicht verzichtet werden.

Die Diskussion "Handschrift oder Tippen" wird leidenschaftlich geführt. Wir fragen: Lässt sich belegen, dass der Erwerb einer flüssigen Handschrift für Schülerinnen und Schüler von Vorteil ist – oder lässt sich die Handschrift ohne Verluste komplett durch das Tastaturschreiben ersetzen? Müssen beide überhaupt in Konkurrenz stehen?

In einer für diese Fragen zentralen Publikation fassen Mueller und Oppenheimer (2014) ihre Erkenntnisse aus verschiedenen Studien an der Princeton University und der University of California, Los Angeles, zusammen. In verschiedenen Tests mussten Studierende während eines Vortrags entweder auf einer Laptoptastatur (unter gleichzeitigem Ausschluss einer Ablenkung, zum Beispiel durch Internet oder Multitasking) oder handschriftlich mitschreiben. Sie wurden anschließend, teils mit etwas Abstand und Ablenkung zwischen Vortrag und Überprüfung, teils mit der Möglichkeit, das Mitgeschriebene zu lernen, zu den Inhalten der Vorlesung befragt. Eine durchaus typische Situation für das Lernen in der Schule und im Studium. Dabei wurde unterschieden zwischen Faktenwissen (factual recall questions) und dem Verstehen von Zusammenhängen beziehungsweise der Anwendung des Gelernten (conceptual-application ques­tions).

Handschrift fördert durchdachte Notizen

Mueller und Oppenheimer (2014) formulierten zwei Hypothesen: Die sog. external-storage hypothesis legt nahe, dass die Studierenden, die mehr mitschreiben, einen Vorteil vor den anderen haben, insbesondere wenn sie zusätzlich noch Zeit zum Lernen aus ihren Mitschriften haben. Die Forscher werteten dafür die Anzahl der mitgeschriebenen Wörter aus (word count).

Mit der sogenannten "encoding hypothesis" wird ein positiver Zusammenhang zwischen dem Formulieren beziehungsweise Zusammenfassen in eigenen Worten und dem tieferen Verständnis eines Vortrags angenommen. Um das zu überprüfen, entwickelten Mueller und Oppenheimer ein Maß dafür, inwieweit die Studierenden den Vortrag wortwörtlich niederschrieben (verbatim overlap).

Die Ergebnisse belegen einen deutlichen Nachteil der Laptop-Gruppe, obwohl die Studierenden mit Laptop aufgrund ihrer Schnelligkeit beim Tippen sehr viel mehr mitgeschrieben hatten als ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen beim insgesamt langsameren Schreiben mit der Hand.

Möglicherweise ist für den Nachteil der Laptop-Nutzer gerade die Schnelligkeit beim Tippen verantwortlich, die eher dazu verführt, unkritisch und unreflektiert mitzuschreiben. Dahingegen muss beim handschriftlichen Notieren, das deutlich langsamer ist als das Tippen, stärker ausgewählt und strukturiert werden. Mueller und Oppenheimer kommen zu dem Schluss, dass das Strukturieren und Zusammenfassen von Inhalten eine Herausforderung für das Gehirn darstelle.

Dass das Gehirn beim Überwinden dieser Schwierigkeit stärker gefordert werde, bewirke jedoch einen höheren Verarbeitungsgrad: Studierende eigneten sich den Lernstoff besser an und durchdrangen ihn intensiver. Der Vorteil beim Schreiben mit der Hand liegt offenbar darin, dass das Gehirn die Informationen besser verarbeitet.

Vielfalt der "Lernkanäle"

Vieles spreche dafür, so Mueller und Oppenheimer, dass nicht nur die Anzahl der mitgeschriebenen Wörter und der Grad der wortwörtlichen Mitschrift eine Rolle spiele. Auszuwirken scheine sich auch, dass, wie van der Meer und van der Weel (2017) sowie Longcamp und anderen (2008) beschreiben, die Handschrift eine höhere und breitere Netzwerkaktivität im Gehirn provoziere, bei der verschiedene "Lernkanäle" genutzt werden: Zum einen werde das (fein)motorische "Gedächtnis" aktiviert, indem die Hand tatsächlich die den Buchstabenformen entsprechenden Bewegungen ausführt und nicht nur auf eine Taste tippt.

Zum anderen werde das fotografische oder räumliche "Gedächtnis" möglicherweise stärker angesprochen: Üblicherweise nutzen Schreiber beim Schreiben mit der Hand die gesamte Schreibfläche stärker aus, um Inhalte zu strukturieren und miteinander zu verknüpfen; um Beziehungen der Inhalte zueinander auszudrücken, werden Pfeile, Hervorhebungen und besondere Platzierungen, zum Beispiel Einrückungen, verwendet. Selbstverständlich gibt es diese Möglichkeiten beim Tippen auch; beim bloßen Mittippen werden sie allerdings weniger häufig genutzt, wogegen handschriftliche Notizen durch eine stärker strukturgebende Anordnung auf einer Seite geprägt zu sein scheinen.

Für das Unterbewusstsein mag mittlerweile auch Folgendes eine Rolle spielen: Das, was auf einem Smart­phone oder in einer Cloud gespeichert wird, scheint ständig verfügbar. Man hat es einmal aufgeschrieben, ob handschriftlich oder getippt, und wähnt es nun überall und jederzeit verfügbar. Wäre denkbar, dass das Gehirn damit das Signal erhält: Diese Information ist ausgelagert, muss also nicht mehr aktiv "behalten" werden? Das wäre (spekulativ) eine fatale Botschaft!
Fazit für das Lehren und Lernen in der Schule

"Das anspruchsvolle Üben sollte nicht auf die Grundschule beschränkt sein, sondern ihren Platz auch in den weiterführenden Schulen behalten."

Für die Diskussion "Handschrift oder Tippen" argumentieren wir also: Ja, es lässt sich belegen, dass der Erwerb einer flüssigen Handschrift für Schülerinnen und Schüler von Vorteil ist, sie lässt sich nicht ohne Verluste komplett durch das Tippen ersetzen, ja, damit wären sogar Nachteile verbunden! Sie sollte früh und mehrjährig erlernt werden, denn gerade das flüssige Schreiben bewirkt Lernvorteile (Bulut 2019).

Beim Anfertigen eines handschriftlichen Exzerptes beziehungsweise einer handschriftlichen Mitschrift werden üblicherweise komplexere Hirnareale aktiviert, so dass das Lernen intensiver stattfinden kann. Dabei spielt sowohl der Automatisierungsgrad der Handschrift, also das zügige und geübte Schreiben, als auch der Verarbeitungsgrad der erhaltenen Information, nämlich die Vorauswahl und Gliederung durch den Schreiber, eine Rolle. Das anspruchsvolle Üben sollte deshalb nicht auf die Grundschule beschränkt sein, sondern ihren Platz auch in den weiterführenden Schulen behalten.

Zu guter Letzt: Nein, die Handschrift sollte nicht in Konkurrenz zum Tastaturschreiben treten müssen, das zu seiner Zeit und an seinen Orten seine eigene Relevanz hat. Und gerade wenn von digitalen Endgeräten und deren Möglichkeiten eine "stärkere Motivation" ausgeht, zeigen die obigen Darlegungen, welch wichtige Aufgabe es insbesondere für die Schule ist, Schülerinnen und Schülern die sichere Beherrschung einer flüssigen Schrift, einer Schreibschrift, zu vermitteln, um ihnen bestmögliche Lern- und damit Startvoraussetzungen für den zunehmend eigenständigen Bildungserwerb zu bieten.